E-Book, Deutsch, Band 5533, 160 Seiten
Reihe: HERDER spektrum
Juul / Szöllösi Aus Erziehung wird Beziehung
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-451-82669-6
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Authentische Eltern – kompetente Kinder
E-Book, Deutsch, Band 5533, 160 Seiten
Reihe: HERDER spektrum
ISBN: 978-3-451-82669-6
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ingeborg Szöllösi, Dr., geboren 1968, freie Journalistin und Buchautorin, Studium der Philosphie-, Theater- und Literaturwissenschaften in München. Jesper Juul (1948 in Dänemark), Lehrer, Gruppen- und Familientherapeut, leitete seit 1979 The Kempler Institut of Scandinavia und war ab 1987 Herausgeber der Zeitschrift »Familien«. Er leitete das familylab, das mit Elternkursen und Schulungen auch in Deutschland und Österreich aktiv ist. Der Autor war als Gastprofessor für Psychologie an der Universität Zagreb tätig sowie als Ausbilder für Familientherapie in Kroatien und Bosnien; dort leistete er auch therapeutische Familienarbeit in Flüchtlingslagern. Der Autor verstarb im Juli 2019.
Autoren/Hrsg.
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Der biographische Hintergrund
Welches waren die wichtigsten Stationen auf Ihrem persönlichen Lebensweg?
Es war mein großes Glück, in eine Familie hineingeboren zu sein, in die ich nicht hineingehörte. Ich war der Erstgeborene, mein Bruder ist drei Jahre jünger als ich. Als ich ungefähr vier Jahre alt war, habe ich gespürt, dass mir meine Eltern nicht das geben können, was ich brauche. Ich war klein und musste selbstverständlich bei ihnen bleiben, aber mental habe ich im Exil gelebt – ich habe mir meine eigene Welt zurechtphantasiert und habe mich dabei wohl gefühlt. Den meisten Menschen macht Einsamkeit zu schaffen, ich aber kenne gar keinen anderen Zustand – und nichts erscheint mir wünschenswerter, als alleine zu sein. Aus mir konnte also zum einen kein soziales Tier werden – ich habe es nicht einmal aus Versehen versucht, mich mit Menschen zu umgeben, nur um nicht alleine zu sein, auch später als Therapeut nicht. Zum anderen bin ich äußerst befähigt, für mich selbst zu sorgen: Ich brauche niemanden, der für mich sorgt, was manchmal für die anderen schwierig ist, denn: Wie soll man sich auf jemanden beziehen, der so unabhängig ist?
Meinen Eltern kann man rein äußerlich gesehen gar nichts vorwerfen. Damals war es normal, keinen Dialog zu führen: Eltern sprachen mit ihren Kindern nur das Notwendigste, und auch Mann und Frau unterhielten sich so wenig wie möglich. Mein Vater hat in all den Jahren meiner Kindheit und Jugend kaum was erzählt, und wenn er mal was sagte, dann war das kurz und bündig. Meine Mutter hingegen redete die ganze Zeit, aber sie wusste nicht, wie man ein Gespräch führt. Sie wusste immer, was man in der einen oder anderen Situation zu sagen hat, was von einem erwartet wird: Sie hatte also Phrasen für den Todesfall, für Glückwünsche, für Unfälle oder Krankheiten parat, aber sie hat es nie zu ihrer eigenen Sprache gebracht. Sie sprach eine soziale Sprache, die ich nie lernen konnte und lernen wollte, so dass ich bis zum heutigen Tag nicht weiß, was man sagt. Manchmal würde ich diese Sprache auch gerne beherrschen und beispielsweise in einem Zugabteil Smalltalk führen, aber ich kann es nicht! Statt zu sprechen, schwieg ich also lange Zeit, weil mir einfach eine persönliche Sprache gefehlt hat und ich sie in diesem familiären Kontext auch nicht entwickeln konnte. Denn da galt folgender Satz: Die elementare Sprache, mit der Kinder geboren werden, bedurfte einer Korrektur – uns wurde damals das direkte „Ich will!“ oder „Ich will nicht“ ausgemerzt, auch in der Schule: Kein Satz durfte mit „Ich“ anfangen.
Es ist für mich noch immer eine große Herausforderung, zu entdecken, wie die äußere Realität zu meiner inneren passt, wie ich etwas Inneres nach außen bringen kann. Zu lernen, seine eigene Sprache zu sprechen!
Wie würden Sie Ihre Position im Leben beschreiben?
Ich sähe mich als ein ordentliches Mitglied des Verbandes der Kellner, wenn es so etwas gäbe. Ich tue das tatsächlich am liebsten, andere zu bedienen oder ihnen zu dienen. Und im Übrigen habe ich diesbezüglich sogar Erfahrungen: Als Student habe ich in den Semesterferien in Düsseldorf in der Altstadt als Kellner gearbeitet, um etwas Geld zu verdienen.
Was bedeutet es für Sie, in dieser Ihrer Familie groß geworden zu sein?
Was es für meine Arbeit bedeutet, dass ich am Rande meiner Familie gelebt habe, ist, dass ich mit Leichtigkeit festgestellt habe, dass Eltern und Partner über ihre eigenen Erwartungen stolpern. Erwartungen sind in vielen Familien das Verhängnis. – Ich hatte nie Erwartungen und demnach auch keine Angst, abgelehnt zu werden – und diese Angst sitzt vielen Menschen in den Knochen! Dass ich so völlig jenseits von Erwartungen lebte, verdanke ich der Tatsache, dass ich sehr früh spürte, dass meine Eltern nichts hatten, was sie mir wirklich hätten geben können. Sie hatten ein sehr enges Korsett um sich geschnürt.
Können Sie heute mit Ihrer Mutter über diese Ihre Eindrücke reden?
Nein, wir haben uns nichts zu sagen. Meine Mutter beklagt sich zwar, dass ich sie viel zu selten anrufe, und ich sage ihr dann auch aufrichtig: „Ich habe dir nichts zu sagen!“ Und dann kommt einer ihrer klassischen „man“-Sätze als Antwort: „Man hat seiner Mutter immer etwas zu sagen!“ – Sie merkt, dass etwas nicht stimmt, aber sie verlässt ihren Kurs nicht und bleibt bei ihrer Forderung: „Du musst mich öfter anrufen!“ Für mich ist es aber keine Pflicht, dies zu tun. Sie hingegen gehört der Generation von Eltern an, die meinen, im Recht zu sein, wenn sie an ihre Kinder Forderungen stellen. Und solche Mütter sind gefährlich, denn sie ersticken jede Möglichkeit einer natürlichen Beziehung im Keim und sind sich dabei keiner Schuld bewusst: Sie sind im Recht, aber nicht in ihrem Wesen.
Sie meinen damit, dass sie eine Rolle spielen?
Ja, sie spielen die Rolle der „Mutter“ – und diese Rolle spielen sie ihr ganzes Leben und haben außer ihr nichts zu bieten! Das ist nicht ihre Schuld – sie haben ein hohles Spiel übernommen und weitergeführt. „Mutter zu sein“ – das war so etwas wie eine Ikone: Du darfst „Mütter“ nicht kritisieren. Und das ist teils auch heute noch so! Sie machen sich unantastbar wie die Jungfrau Maria, aber das bringt uns Menschen keinen Schritt näher …
Meine Mutter hat mir das Leben geschenkt – das ist alles! Ich danke ihr dafür!
Es könnte sein, dass nun einige denken, es ist doch furchtbar, so über seine eigene Mutter zu reden. Doch ich weiß, dass die meisten Menschen aus meiner Generation anfangen würden zu weinen, wenn ich Geschichten aus meiner Kindheit erzählen würde: Sie wären zutiefst berührt, weil sie alle Ähnliches erlebt haben.
In ihrem Beruf ist ja Sprache wesentlich …
Ja, aber zu meiner Sprache habe ich nicht allein durch meine Berufsausbildung gefunden. Zunächst hatte ich keine akademische Laufbahn im Blickfeld, obwohl ich kein schlechter Schüler war. Ich wurde ganz einfach Matrose, und so kam ich endlich weg von meiner Familie. Drei Jahre lang gondelte ich auf den Weltmeeren herum.
Nach dieser Zeit wusste ich dann nicht, ob ich Lehrer oder Förster werden sollte – ich hatte nämlich als Jugendlicher ganze Wochenenden in den Wäldern der Umgebung verbracht. Aber ich wurde Lehrer. Meine Ausbildung dauerte fünf Jahre, und ich hatte damit Glück, denn meine Ausbildung hatte in der Tat etwas mit Bildung zu tun. Wir hatten sehr viel Zeit und durften uns freiwillig zwei Hauptfächer wählen – meine waren: Geschichte und Religion. Zu meinem Religionslehrer hatte ich einen sehr guten Bezug – er war es, der mich dann auch an die Universität schickte, um den neu entstandenen Fachbereich „Geschichte der europäischen Ideen“ kennen zu lernen. So schrieb ich meine Abschlussarbeit über die Disputation zwischen Luther und Erasmus von Rotterdam über den freien Willen.
Dann habe ich geheiratet und meinen Sohn bekommen. Zu der Zeit fing ich an, in einem Institut zu arbeiten, das sich mit jugendlichen Verbrechern beschäftigte. Damals tauchte zum ersten Mal das Drogenproblem auf: Zwölf-, Dreizehn-, Vierzehnjährige, die sich mit LSD fertig machten – das war in den späten 60er Jahren. Ich habe damals gemerkt, dass mit dem Leben unmittelbar in Kontakt zu stehen für mich wesentlicher ist, als darüber nachzudenken. So blieb ich also mitten im Leben und ging einer akademischen Laufbahn aus dem Weg. Und schließlich habe ich den Familientherapeuten Walter Kempler1 kennen gelernt.
Wie kamen Sie zu Kempler?
In dieser I nstitution, in der wir mit jugendlichen Verbrechern arbeiteten, stellte sich sehr bald ein Konflikt ein, und zwar zwischen der altmodischen und der neuen, der so genannten Hippie-Pädagogik. Die neuen Pädagogen sahen im Verhalten dieser schwierigen Kinder etwas Revolutionäres und deuteten alles als politische Aktion – in den 60er Jahren war alles politisch! Aber mich überzeugten weder die neuen noch die alten, so dass ich mich weder den einen noch den anderen anschließen konnte. – Was ich in dieser Zeit sehr rasch begriffen hatte, war Folgendes: Wenn ich diesen Kindern wirklich helfen möchte, dann kann ich das nur, indem ich ihre Eltern mit einbeziehe. Dies jedoch hatte man an diesem Institut noch nie gemacht. Und so kam es, dass mich jemand, der diese meine innere Einstellung und Überzeugung kannte, auf ein Seminar über Familientherapie aufmerksam machte. Es wurde von Kempler gehalten und war das erste dieser Art in Dänemark: Die Familientherapie war damals noch Neuland.
Kempler kam aus Kalifornien, hat sich dann aber in Holland niedergelassen: Er war nämlich einer jener amerikanischen Juden, die sich niemals mit den amerikanischen Werten haben anfreunden können. In Amerika hatte Kempler sehr eng mit Fritz Pearls zusammengearbeitet, die beiden sind dann aber auseinander gegangen – nicht im Streit, sondern einfach nur, weil Kempler auch die Notwendigkeit der Arbeit mit Beziehungen und nicht nur mit einzelnen Individuen in der Psychotherapie stark machen wollte. Später hat er dann das Kempler-Institut gegründet.
Für mich war das Seminar mit ihm ein wesentlicher Schritt. Es dauerte eine Woche – und ich habe in der Woche kein Wort gesagt, aber plötzlich war danach meine furchtbare Migräne, unter der ich schon Jahre litt, weg. Irgendwie habe ich wohl gespürt, dass ich meinen Kopf bislang unangemessen verwendet hatte.
Was hat Sie an Kempler so sehr beeindruckt, dass Sie dann seinen Weg einschlugen?
Seine Idee der Familie war für...