Kaaberbøl Wildhexe - Die Feuerprobe
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-446-24282-1
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 1, 160 Seiten
Reihe: Wildhexe
ISBN: 978-3-446-24282-1
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Lene Kaaberbøl, 1960 in Kopenhagen geboren, ist eine der bekanntesten und umsatzstärksten dänischen Kinderbuchautorinnen. Sie wird von der Presse und vom Publikum gleichermaßen geschätzt. Ihr erstes Buch veröffentlichte sie mit 15, seitdem hat sie über 30 Bücher für Kinder- und Jugendliche geschrieben. Ihre Fantasy-Serien werden in 25 Sprachen übersetzt. Mit vielen Preisen ausgezeichnet, war sie zuletzt für den Hans-Christian-Andersen Preis 2014 sowie für den Astrid Lindgren Memorial Award nominiert. Ihre Serie über die Wildhexe Clara wurde 2012 in einer großen Gala mit dem wichtigsten und größten Kinderbuchpreis Dänemarks ausgezeichnet, dem Orla-Preis des staatlichen dänischen Fernsehens DR. Im Hanser Kinderbuch erschienen 2014 die ersten drei Bände der Reihe Wildhexe - Die Feuerprobe, Wildhexe - Die Botschaft des Falken sowie Wildhexe - Chimäras Rache. Im Frühjahr 2015 folgten Band 4 und 5 ( Wildhexe - Blutsschwester und Wildhexe - Das Labyrinth der Vergangenheit), im Herbst 2015 wurde die Reihe mit dem sechsten Band Wildhexe - Das Versprechen abgeschlossen.
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3 KRÖTENGIFT UND NATTERNSPUCKE
Wir fuhren lange. Mama hatte den Rücksitz unseres kleinen blauen Kias mit Kissen und Decken ausge stattet, und abgesehen davon, dass mir immer schwindliger wurde, lag ich eigentlich ganz bequem. Ich hatte bloß ein seltsames Surren im Ohr, es klang wie eine lästige Fliege, nur lauter und näher, so als säße sie genau in meinem Gehörgang. Mir, mir, mir.
Ich muss trotzdem eingeschlafen sein, denn plötzlich hatten wir die Stadt hinter uns gelassen, es gab keine Straßenlaternen mehr und keinen Verkehrslärm, nur Dunkelheit und ab und zu das Licht eines einzelnen Autos. Die Scheibenwischer quietschten über die Windschutzscheibe, iiiiiu-iiu, iiiiu-iiu, und der Regen trommelte auf das Autodach.
»Können wir nicht das Radio anmachen?«, fragte ich, weil ich hoffte, dass ich das Fliegengeräusch dann vielleicht nicht mehr hören musste.
»Na klar. Liegst du bequem?«
»Alles gut«, sagte ich.
Die Autolautsprecher knackten, während meine Mutter versuchte, einen Sender zu finden, der sich einigermaßen empfangen ließ. Stimmen und Musikfetzen wurden laut und gingen sofort wieder im Rauschen des Radios unter.
»Scheint hier draußen nicht so einfach zu sein«, sagte sie. »Was hältst du davon, wenn wir stattdessen eine CD hören?«
»Okay.«
Sie legte eine Electra-CD ein, von der sie wusste, dass sie mir gefiel. Electras klare Stimme übertönte das Dröhnen der Bässe und der Schlagzeugrhythmen. »Go where you gotta go, no matter how far«, sang sie. »Mama always told me, gotta be who you are, can’t be nobody else, gotta seek your own star, gotta be … gotta be … gotta be who you are.«
Ich lag da und hörte zu. Das Pochen in meinem Kopf schien ein bisschen nachzulassen, wenn ich versuchte, mich nicht auf den Summton, sondern auf Electra zu konzentrieren. Dann nahm ich all meinen Mut zusammen.
»Mama?«
»Ja, Mäuschen?« Sie schaltete und beschleunigte ein wenig. Wir fuhren jetzt bergauf.
»An dieser … dieser Krankheit. Kann man daran sterben?«
Sie nahm den Fuß vom Gaspedal, und das Auto verlor sofort an Geschwindigkeit, weil die Straße so steil war. Dann drehte sie sich im Sitz um und schaute mich an.
»Clara-Maus. So was darfst du nicht denken!«, sagte sie. »Bald sind wir bei Tante Isa, und dann hilft sie uns. Alles wird gut. Okay, Schatz?«
»Ja«, murmelte ich. »Okay.«
Aber das sagte ich vor allem ihr zuliebe. Denn während sie wieder Gas gab und den Wagen weiter durch Regen und Dunkelheit lenkte, konnte ich nicht aufhören an eine Sache zu denken:
Sie hatte nicht Nein gesagt.
Das Auto holperte und schaukelte über einen Weg, der so uneben war, dass der Kia nur im Schneckentempo vorwärtsschleichen konnte. Ich setzte mich auf. Es war ganz einfach zu ungemütlich, wenn man im Liegen so durchgeschüttelt wurde. Ich starrte zwischen den Vordersitzen hindurch und versuchte herauszufinden, wo wir waren. Das Licht der Scheinwerfer hüpfte über Schotterböschungen, Pfützen und hohes, nasses Gras. Der Weg führte mehr oder weniger durch einen tiefen, breiten Graben. Rechts und links davon ging es einen oder zwei Meter steil nach oben, und obwohl es inzwischen aufgehört hatte zu regnen, waren nur wenige Sterne zu sehen, denn wir fuhren durch einen hohen kohlschwarzen Fichtenwald.
»Sind wir bald da?«, fragte ich.
»In neun Minuten«, sagte Mama. »Das behauptet zumindest das Navi. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass es berücksichtigt hat, was das hier für ein Weg ist.« Sie versuchte, den Kia um ein Schlagloch zu schlängeln, aber wegen der Böschung ging es nicht richtig. Krrrrrr. Irgendetwas schabte gegen den Boden des Autos. Vielleicht wären Helikopter und Schlittenhund doch keine so schlechte Idee gewesen.
Es dauerte nicht zehn Minuten, sondern eher zwanzig, bis wir endlich nach rechts auf eine kleine Holzbrücke abbogen und vor uns zwischen den Bäumen Licht sehen konnten.
»Hier muss es sein«, sagte Mama. »Niemand sonst würde so weit weg von Recht und Gesetz dieses Landes leben wollen.«
Wir fuhren durch ein Gatter über eine Wiese und dann parkte Mama das Auto auf einem kleinen Hof zwischen zwei Gebäuden neben einen uralten Austin Mini mit schwarzen Türen und weißem Dach. Die Häuser waren strohgedeckt, und ihre Mauern waren nicht aus normalen Ziegeln, sondern aus diesen Steinen gebaut, die man öfter auf Feldern findet. Ich glaube, sie heißen sogar Feldsteine. In einem der Häuser brannte Licht, und als Mama die Autotür öffnete, stieg mir der Duft von nasser Erde, Nadelwald und Holzfeuer in die Nase.
Die Eingangstür war eine dieser Halbtüren, die man manchmal in Ställen sieht. Die obere Hälfte wurde aufgeschlagen und dahinter tauchte eine große, bucklige Gestalt mit langen Indianerzöpfen auf. Nein, Moment. Sie war nicht bucklig. Der Buckel hatte Federn, Augen und Flügel. Es war eine Eule, die uns so interessiert anstarrte, als würde sie darüber nachdenken, ob sie uns zum Frühstück verspeisen konnte.
»Kommt rein«, sagte die fremde Frau mit der Eule. »Dann will ich sehen, was ich tun kann.«
Das also war meine Tante Isa.
In einem großen Zimmer, das in meinen Augen eine merkwürdige Mischung aus Werkstatt und Wohnstube war, hatte Tante Isa den Holzofen angefeuert. Darauf stand ein Topf, der von Zeit zu Zeit blubbernd kleine Wölkchen aus Dampf und scharfen Gerüchen unter dem Deckel hervorstieß. Überall dort, wo kein Fenster war, standen Regale und Schränke an den Wänden. Sie waren nicht nur mit Büchern gefüllt, sondern auch mit Krügen, Gläsern, Werkzeugkästen und reihenweise Körben, die mit Zeitungen ausgestopft waren. Später fand ich heraus, dass in einigen davon Igel und Haselmäuse ihren Winterschlaf hielten. Es gab ein paar unterschiedliche Sessel, zwei lange Tische und eine Hobelbank. Zwei Öllampen spendeten Licht, und nirgends war ein Fernseher zu entdecken.
Ich lag auf einem zerschlissenen alten Sofa, das nach Hund roch, und obwohl ich zusätzlich zu meiner eigenen Bettdecke noch zwei Wolldecken bekommen hatte, war mir kalt. Tante Isa war sehr lieb zu mir gewesen, aber, wie ich fand, nicht ganz so lieb zu meiner Mutter.
»Schlaf einfach, wenn du kannst«, sagte sie zu mir. »Hier passiert dir nichts.« Ihre braunen Augen hatten dieselbe Farbe wie Herbstlaub, und aus irgendeinem Grund glaubte ich ihr, was sie sagte.
»Der Kater …«, flüsterte ich.
»Hier nicht«, sagte sie. »Hierher kann er nur kommen, wenn ich es ihm erlaube.«
Es war nicht nötig, ihr irgendetwas zu erklären. Sie wusste es schon. Und obwohl ich keine Ahnung hatte woher, war es eine kolossale Erleichterung, dass sie einfach verstand.
Meiner Mutter gegenüber klang ihre Stimme ganz anders – so scharf, dass man sich daran hätte schneiden können.
»Du hättest ruhig etwas früher kommen können.«
»Wie hätte ich das machen sollen?«, sagte Mama. »Es ist schließlich erst heute morgen passiert.«
»Ja. Aber sie ist doch im März zwölf geworden, oder nicht?«
Das war nicht gerade eine schwierige Frage, aber Mama antwortete nicht sofort. Erst dachte ich, dass sie vielleicht genauso verwirrt war wie ich – ich konnte mir nämlich absolut nicht vorstellen, was mein Geburtstag mit der ganzen Sache zu tun haben sollte. Aber als sie schließlich doch etwas sagte, war deutlich zu hören, dass sie nicht die Spur verwirrt, sondern nur wütend und ängstlich war.
»Sie ist nicht wie du«, sagte sie. »Sie ist ein liebes, kluges und normales Mädchen.«
Tante Isa schaute Mama lange an. »Ich denke nicht, dass wir das jetzt diskutieren müssen«, sagte sie. »Stattdessen sollten wir das Fieber senken und zusehen, dass wir die Kleine wieder auf die Beine bekommen.«
Ja, danke, dachte ich. Und wenn ihr die Kopfschmerzen vielleicht gleich auch noch verschwinden lassen würdet …
Tante Isa nahm den Deckel vom Topf und füllte mit einem großen Schöpflöffel etwas Flüssigkeit in einen Becher, den sie mir reichte.
»Hier«, sagte sie. »Es schmeckt ein bisschen bitter, aber es hilft.«
»Was ist das?«, fragte Mama misstrauisch.
»Krötengift und Natternspucke«, sagte Tante Isa. »Was dachtest du denn?«
Ich schaute erschrocken auf, aber dann bemerkte ich das Funkeln in ihren herbstbraunen Augen.
»Keine Sorge«, sagte sie beruhigend. »Ich wollte deine Mutter nur ein bisschen aufziehen. Es ist ein Tee aus Weidenrinde und Kräutern, der dem Penicillin ein bisschen auf die Sprünge helfen wird. Wenn du ausgetrunken hast, streiche ich dir ein bisschen über den Nacken und deinen Kopf. Das alles zusammen wird dir guttun.«
Und das tat es. Das Krötengift, oder was es auch war, schmeckte wirklich abscheulich, aber dann setzte Tante Isa sich zu mir auf das Sofa, legte meinen Kopf in ihren Schoß und fing an, mit ihren Fingern fest und sanft meinen Hals entlangzustreichen, über den Nacken bis hoch in die Haare. Es fühlte sich seltsam an, fast so, als würde sie mit jeder ihrer Bewegungen ein Stück des Kopfwehs wegnehmen. Und als sie ihre Finger auf meine Stirn legte, die von der Verletzung ganz geschwollen war, tat es kein bisschen weh.
Während ihre Finger arbeiteten, summte sie eine Melodie, die seltsam ruckhaft anstieg und abfiel; das war eindeutig kein Lied, das ich kannte. Manchmal klang es fast so, als könnte sie zwei Töne gleichzeitig singen, einen tiefen und einen hohen. Ich weiß nicht warum, aber ich musste an Wind und Regen denken und an den Duft von Herbstlaub. Mitten in alldem hörte ich eine Tür schlagen. Ich öffnete die Augen, die mir eigentlich fest und gründlich zugefallen...