Kaiser | Alvas Gesichter | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 120 Seiten

Kaiser Alvas Gesichter


2. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7392-5058-8
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 120 Seiten

ISBN: 978-3-7392-5058-8
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ingeborg Kaisers Roman kreist um die Themen Vergänglichkeit, Tod, Alter und Sucht.

Ingeborg Kaiser, geboren in Neuburg/Donau, übersiedelte 1960 nach Basel und arbeitete als freie Journalistin für ein Pressebüro und Radio DRS 2. Ab 1968 Veröffentlichungen von Prosa, Lyrik und dramatischen Arbeiten. Verschiedene Auszeichnungen und Förderungen. Zuletzt Förderpreis Pro Litteris, 2012. Zahlreiche Veröffentlichungen.

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6
Es sind Wolken, nichts als Wolkenberge, sage ich, kein Himalaya und nicht die Berge von Shinshu mit Narayama, dem Opferberg, zu dem man siebzigjährig pilgerte, wie es der Brauch gebot, um allein zu sterben, den Nachrückenden seinen Platz am Tisch freizugeben. Nichts als Wolken, von Regen trächtig, sage ich, der grosse, zusammengerollte Körper im Windschatten der Terrassentür nur ein rostender Blätterhaufen. Und die Knochen auf der Terrasse keineswegs Reste eines kannibalischen Gelages, sondern die leeren Schalen der Esskastanien, die der Siebenschläfer räuberte. Nur das Gesicht ist ein Gesicht, das aus dem verzweigten Stamm des Feigenbaums wächst, ein freundlich rundes Frauengesicht, altes Wissen im Blick, um den stillen Mund. Das gezöpfelte Haar, zu Schnecken geformt, verdeckt die Ohren; aus dem Schädel treiben Haaräste. Ich mag das Gesicht und denke mir eine Baumfrau, die sich von hier nie entfernt, die Bewegungen des Windes, des Baumes mitlebt, die Winter oder Sommer vorbeiziehen lässt. Doch wir sind flüchtig, sage ich, als sei da ein Gegenüber, sind glücklose Fremde, die nirgends ankommen und auch sich verpassen. Wir sind unfertig in die Schöpfung geraten und werden sie unfertig wieder verlassen. Die Schöpfung braucht uns nicht, sage ich, oder? Alva wird nicht antworten. Und gewiss heisst sie nicht Alva, nur für mich ist sie Alva. Ein Brief an Alva ist unzustellbar. Ein Grund, Alva zu schreiben. Der Brief an unbekannt erinnert an das Kind, an lindgrün gestrichene Küchenmöbel, den schmalen, gerade noch passierbaren, dämmrigen Korridor zwischen Wand und Schrank, in den das Kind in den Stöckelschuhen der Mutter, mit Handschuhen und übergrossem Hut hineinredete. Von wo es Antwort bekam, über die es lachen konnte, wie verrückt lachte, zum Befremden der Mutter. Lindgrün auch die Holzkiste, auf der manchmal Mutters rundliche Jugendfreundin mit den zu kurz geratenen Beinen sass, ihre unvergessliche Ledertasche auf dem Schoss, die sie mit beiden Händen festhielt. Von einer Autoreise nach Rom erzählte sie, einer letzten Ratenzahlung oder dem Glück, zur rechten Zeit bei einem Vertreter Waschseife en gros bestellt zu haben. Der Seifenvorrat schmolz, und es war noch immer Krieg. Ihr Sohn wurde als vermisst gemeldet, und Mutters lindgrüne Holzkiste verbrannte in einer kalten Bombennacht. Nichts war geblieben, nur die Erinnerung, und auch sie ist kein verlässlicher Ort. Tag oder Nacht, Alva, der Regen trommelt, stürzt, und manchmal ist da ein Mahlen, Knirschen, als würde sich ein Schiffsrumpf an einem Eisberg reiben oder umgekehrt. Es ist der Bambus, den der Besitzer des Hauses pflanzte. Ein Bambusheer, das die Sicht auf die tiefer gelegene, neue Bergstrasse abwehrte. Schirmbambus, der hundert Jahre brauche, um zu blühen und zu sterben. Er wachse täglich um Zentimeter, schiebe sich maulwurfartig unter der Terrasse vor, junge, zähe Lanzen, welche die Granitplatten heben würden, ans Licht strebten, der Hauswand spinnenfeine Risse zufügten, sie allmählich sprengten, wenn die neuen Triebe nicht beschnitten würden. Das Haus, vom Bambus umwuchert, würde dabei kleiner werden, schliesslich im Bambuswald verschwinden, der Witterung überlassen und von Tieren besucht, sich allmählich auflösen oder, besser, zu etwas anderem werden wie seine früheren Bewohner und alles, was der Zeit unterworfen ist. »Die Zeit befiehlts, wir sind ihr untertan« heisst der letzte Titel des Malerautors, ein Zitat aus Shakespeares »Heinrich IV.«. Auf dem Esstisch liegt ziemlich viel beschriebenes Papier, lauter erste Sätze, die auf keinen zweiten neugierig machen, darunter Briefanfänge an dich, Alva. Ich muss es absitzen, auf einem der dunklen, spanischen Stühle den Satz erwarten, der endlich hält. Die Stühle mit hoher Lehne sind strengschön und ebenso unbequem, sie erinnern an dunkel gekleidete Gerichtsherren, die gnadenlos verfahren. Es gelänge ihnen leicht, mir die Stimme abzusprechen. Mir träumte, ein alter Freund habe mich gebeten, dass ich ihm einen Satz verrate, den er seinen Schülern ins neue Jahr mitgeben könne. Ob es gleich sein müsse, frage ich, und er bejaht. Ich sehe auf einen breiten milchigen Strom, Worte blitzen auf wie Farben, sind ein Satz, ein guter Satz, der ins Vergessen taucht, bevor ich ihn festhalten kann. Mir träumte weiter, dass die Tasten meines Power-Books lose seien und wie bei einem Setzkasten herausfallen würden. Ich versuche sie zu ordnen, wieder einzufügen und hoffe, dass es gelinge, als der Vierjährige ein Eimerchen Sand über das Keyboard leert. Und träumte schliesslich, dass mein Arbeitszimmer ausgehöhlt und gänzlich leer sei. Die Angstträume verblassen bei Tag, doch die Widerhaken bleiben, und es braucht den Zauber der Worte, von ihnen loszukommen. Aber sie lassen sich Zeit, Alva. Stattdessen ein Schwarm tauber Worte. Dem Kind fiel es leicht, aus der bedrückenden Gegenwart in eine für es ebenso wirkliche Gegenwelt zu fliehen, seine Vorstellung bannte die Angst. Auch in der Bombennacht des Zweiten Weltkriegs, als die Flammen aus der Mansardenwohnung schlugen, vom Eiswind angefacht weitergierten, das Haus im Feuer stand, die hölzernen Fensterläden glühten, bestaunte das Kind das Ereignis als etwas Besonderes, das ihm und der Mutter widerfahren sei. Es kauerte im wuchtigen Ledersessel im Herrenzimmer des bisher versperrten Nachbarhauses, das vom Brand ausgeleuchtet war. Sah das Lichtgeflacker auf dem Orientteppich, lichtrote Mäuse über die Buchrücken der Bibliothek huschen, durch die hohen Fenster das lodernde Haus. Es wurde der Bilder nicht müde, bis der Heulton der Sirene vor der nächsten Angriffswelle warnte, das Kind aus seiner Verzauberung holte, die Kälte im Luftschutzkeller durch seinen Trainer, den Pyjama kroch. Sein Körper zitterte. Der andere Tag blieb rauchgeschwängert. Wie schwärmende Glühwürmchen das Funkenstieben über den dunklen, bepackten Gestalten, die aus der brennenden Stadt flüchteten. Für das Kind und die Mutter begann wie bei allen Ausgebombten eine jahrelange Odyssee. Es würde sich an den Vorortsbahnhof erinnern und den ersten Zug, der die Stadt verliess. An Menschen, die versuchten, auf dem Puffer mitzufahren, an die Plattform, wo es zwischen eng gedrängten Körpern mit der älteren Freundin stand, an seine Mutter, die vom Bahnsteig winkte. An die Schneeebene, die erstarrten Bäume, Eisnadeln, das Kriechtempo des Zuges. An den endlos scheinenden Marsch über die Landstrassenallee zum Dorf des Onkels. An die eigene Stimme, die plötzlich wie von selber zu singen anhob und sang, bis das Dorf mit der Freundin erreicht war. An Sterne wie Sand, die zu leuchten begannen, ihm morsten. An das Klopfen gegen Tür und Laden, der endlich aufgestossen wurde. Das Singen wie erstorben. Vorbei die Lieder, die seine Mutter beim Arbeiten sang oder wenn sie traurig war, einsam vielleicht, und heimwehschwer. Kirchenlieder, Volkslieder, die das Kind hörte, aufnahm. Auch Mutters Weinen, wenn sie aus dem elterlichen Schlafzimmer in die Speisekammer umzog. Für das Kind, das an der Türe horchte, war es die vertraute Stimme der Mutter, die nicht tot war, nur weinend sang. Der Volksempfänger war verbrannt, aus dem die Marschlieder und Siegesmeldungen dröhnten, das: »Bomben, Bomben, Bomben auf Engeland«. Und die gellende, sich überschlagende Stimme, die nur den Vater begeisterte, die Phantasie des Kindes einschwärzte, das sich in der verordneten Kirchenstille der Wohnküche zu langweilen begann. Die Sicht aus dem Fenster ein Aquarell im Grauton, sanftstill oder tödlich. Gut von Alva zu wissen, mit ihr zu sprechen, das blaue Ringbuch auf dem Tisch. In meinem Blickfeld eine Uhr im dunklen Gehäuse, das weisse runde Blatt ohne Ziffern, der grosse Zeiger steht auf kurz vor zwölf. Der Maler des Bildes hatte noch drei Lebensjahre vor sich, als Schreibender habe er dann an seinen Lebenserinnerungen gearbeitet, die er noch knapp beenden konnte. Die Zeit lässt sich nicht stoppen, erschiessen, wie es mit den Uhren bei der revolutionären Erhebung der Pariser Kommune 1871 geschah. Auch ihre Zeit abgelaufen, unwiederbringlich, Alva, und längst Geschichte geworden. Die »Lebenserinnerungen« stehen in der Bibliothek und haben ihren Autor überlebt. Ich kann sie lesen, durch die Jahre seines Lebens gehen. Wenn ich dir schreibe, Alva, bleibt die Zeit in den Worten als erzählte Zeit, ist ein Anschreiben gegen die unaufhörlich fliessende, flüchtige Zeit und gegen das Vergessen. Es braucht die Erinnerung um das, was ist und noch kommen wird, um zu leben. Ich kann durch meine erinnerte Zeit wie durch ein Brockenhaus streunen, kann sehen, hören, sogar riechen, aber nichts mehr berühren. Die Mutter sitzt auf dem messingblanken, in den Herd versenkten Herdschiff, ein rechteckiges Becken, das, mit heissem Wasser gefüllt, sie etwas wärmt. Auf dem Boden ein voller Waschkorb mit Flickwäsche, in der Rechten eine dunkle, löchrige Socke, durch die ein rotes Holzei blitzt, während die Linkshänderin ein enges Gewebe aus Wollfäden zieht, das Loch stopft. Dem Kind Märchen und andere Geschichten erzählt, von ihrer Kindheit, dem Ersten Weltkrieg....



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