Kaiser-Mühlecker Zeichnungen
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-10-403475-1
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Drei Erzählungen
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-10-403475-1
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Reinhard Kaiser-Mühlecker erzählt von menschlicher Schuld, dem Vergehen der Zeit und unserer Sehnsucht nach Erlösung.
In fünf hochgelobten Romanen hat Reinhard Kaiser-Mühlecker ein großes Epos der menschlichen Schuld geschrieben. In seinen drei Erzählungen verdichtet er die existentiellen Fragen: Wie wird der Mensch schuldig? Wie verketten sich Verfehlungen, Verschweigen, Gerüchte und Lügen zu einer Lebensgeschichte? Und ist jeder unausweichlich in sein vorgezeichnetes Schicksal verstrickt? Ein ängstlicher Verrat, eine Bösartigkeit, ein perfider Freundschaftsdienst lösen ein Unheil aus, das lange nachwirkt. Mit großer poetischer Kraft erzählt Kaiser-Mühlecker von der Sehnsucht, den alten Geschichten und der Vergangenheit zu entkommen und ein eigenes, freies Leben zu beginnen.
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»Ich kenne dich noch von früher«, sagte er, in eine Art melodischen Singsang verfallend, nachdem er eine Weile geschwiegen hatte. »Ihr habt euch bei meinem Auto herumgetrieben … Welche Angst ihr vor mir hattet! Alle – alle hatten diese Angst vor mir … Ja. Ihr hieltet mich für irgendeine Art Ungeheuer, nicht wahr?« Er lächelte kurz. »Und doch habe ich geliebt in meinem Leben. Davon will ich dir erzählen.« »Warum mir?« Ich verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte mich zurück gegen die kühle Wand. »Weil der, dem ich es erzählen wollte, dich geschickt hat, weil er immer noch, wie ein kleines Kind, Angst vor mir hat. Vielleicht glaubt er auch, dass er mich hasst – man hält Angst mit der Zeit immer für Hass. Aber das ist egal, es läuft ohnehin auf dasselbe hinaus.« »Warum rufst du ihn nicht einfach an?«, fragte ich. »Ich habe es versucht, er hat sofort aufgelegt.« »Oder schreibst ihm einen Brief? Den würde er doch lesen?« »Einen Brief?« Wieder lächelte er. »Nein. Ich schreibe keine Briefe mehr.« Ich streckte die Beine aus, und wie von selbst schlossen sich meine Augen halb, und ich fühlte die Gleichgültigkeit sich wie eine Schläfrigkeit in mir breitmachen, und von mir aus könnte er nun ewig erzählen, ich würde einfach zuhören wie dem beruhigenden, wohltuenden Geplätscher eines Baches. »Damals war Krieg. Mein Gott, ich war damals jünger als du es heute bist! Zehn, vielleicht sogar fünfzehn Jahre jünger. Das hier, die Landwirtschaft, hatte mich nie interessiert, und als ich dann einrücken musste, wusste ich schon, bevor es zu irgendwelchen Kampfhandlungen kam, wofür ich gemacht war. Ich lernte eine Menge Leute kennen, aber niemand empfand so wie ich. Über kurz oder lang wurden alle kleinmütig, feige, ängstlich, sie verloren jedenfalls die anfängliche Euphorie. Nur ich behielt sie die ganze Zeit über, und je größer die Gefahr, desto größer auch meine Freude und mein Zorn, desto heißer, desto wallender, desto schnaufender mein Blut. Mein Gott, was das war! Du kannst es nicht wissen, was es für einen jungen Mann heißt, im Feld zu sein. Ich wäre für meine Kameraden gestorben, aber ich verachtete sie für ihren mangelnden Eifer. Ja … Ist dir schon einmal aufgefallen, dass man vom Großen, vom wirklich Großen, fast nicht sprechen kann? Es ist fast, als sträubte es sich, dass man davon spricht … Von diesem Leben im Krieg … oder von Gott … Mir fiel es damals zum ersten Mal auf, wenn ich Feldpostbriefe nach Hause schrieb. Oder vielleicht noch gar nicht so sehr beim Schreiben – ich schrieb nicht oft, und ich war ein ziemlich ungeübter Briefschreiber. Konnte ja überhaupt kaum schreiben! Vielleicht fiel es mir erst später auf, als ich Fronturlaub bekam – fast aufgezwungen bekam, denn die Verletzung war nicht der Rede wert. Ja. Es gab viele Mutige, Mutigere als mich. Ich rede deshalb nicht von Mut – weiß gar nicht, was das eigentlich ist. Bei mir war es ja bloß dieses Feuer … und das hatte kein anderer. Einen einzigen lernte ich kennen, der von meinem Schlag war. Er hieß Karl Gruber, und obwohl er aus Rosental stammte, waren wir uns nie zuvor begegnet. Vor dem Krieg war ich ja kaum je wo hingekommen. Immer nur zu Hause, hier, auf den steinigen Feldern. Auch meinen Vater freute die Arbeit nicht, er ließ von früh an, von Kindesbeinen an, alles mich tun. Mit ihm – Karl – tat ich mich zusammen, wir verbrachten viel Zeit miteinander, aber wir unterhielten uns kaum. Und wenn, war es meist er, der redete. Er erzählte mir am liebsten von seiner Braut in Rosental, die er heiraten wollte, sobald der Krieg zu Ende wäre. Er hatte eine Fotografie von ihr, die er mich sehen ließ. Einmal fragte ich ihn, ob er sicher sei, dass sie warte, da lachte er nur. Wie sicher er sich war! Ich gewöhnte mir das Rauchen an, und oft teilten wir uns, nebeneinander im Graben stehend oder auf unseren Feldbetten liegend und auf den Krach der Geschosse horchend, eine Zigarette. Da war also dieser Fronturlaub, den ich nicht brauchte, gar nicht einmal wollte. Ich war richtig niedergeschlagen auf dieser langen Fahrt dorthin, wo alle sagten, dass es die Heimat sei, dabei hatte ich das Gefühl, von der Heimat wegzufahren, mich mit jedem Herzschlag, mit jeder Bahnschwelle weiter davon zu entfernen. Wollte ich etwa meinen Vater sehen? Die jammernde Mutter? Meine beiden Schwestern? Den einzigen, den ich hätte sehen mögen, wäre mein Bruder gewesen, mein einziger Bruder, doch der ›ruhte in russischer Erde‹, wie es hieß, sein Fahrzeug war von einer Mine gesprengt worden. Ich war niedergeschlagen, als ich ankam, und ich wurde es mit jedem Tag noch mehr, und dass alle meinen Zustand auf den Krieg schoben, mit dem Krieg erklärten, machte mich zuerst wütend, dann aber nur noch niedergeschlagener. Da – mehr noch als beim langsamen Briefschreiben, wo ich es, Wort um Wort suchend, schon geahnt hatte – bemerkte ich, wie wenig ich mitteilen könnte, selbst wenn es jemanden gegeben hätte, dem ich etwas hätte erzählen wollen. Ich sah die Menschen und wusste, dass nichts mich mit ihnen verband. Die Tage vergingen zäh und sinnlos, mir half nur der Schnaps, und der half auch nicht. Der einzige Zeitvertreib waren mir das Schnapstrinken, das Rauchen, sogar die Arbeit, die mich der Vater, ohne mich dazu zu rufen, allein dadurch, dass er mit meiner Rückkehr sogleich alles liegen und stehen ließ, tun ließ, und die Gedanken an die Front, an die ich bald zurückkehren würde. Eines Abends, kurz vor Einbruch der Dämmerung, saß ich vor dem Haus, da fiel mir das Mädchen ein, Karls Braut, und als könnte ich damit dem kurzzeitig Verlorenen näherkommen, erkundigte ich mich, wo sie wohne, setzte mir den breitkrempigen Hut auf und machte mich auf den Weg nach P. Ich hatte vor, nur so dort vorbeizugehen und es Karl dann zu erzählen, und mir war, als hätte dieser Urlaub plötzlich und unverhofft doch einen Sinn bekommen. Es war weit, ungefähr eine Stunde zu gehen, und als ich ankam, war es dunkel geworden. Ich stand eine Weile in der Nähe des Hofes, sah mich um, hörte dann einen Hund sich bellend nähern und, als er ganz nah war und schon zu knurren begonnen hatte, jäh verstummen und sich entfernen. Auch das würde ich Karl erzählen, ging es mir durch den Kopf, und ich prägte mir die Anordnung der Gebäude ein, als ich ein Geräusch hinter mir vernahm. Ich wirbelte, Rückwärtsschritte machend, herum und sah – instinktiv nach einem steinähnlichen Gegenstand, einer Handgranate suchend –, was ich zuvor nicht bemerkt hatte, weil die Nacht es allzu gut verborgen hatte: Am Fuß der kurzen Leite, die hinter Büschen zu einem Feld hin anstieg, lagen, fast knochenweiß in dem jetzt wie von Gotteshand hinter den Wolken hervorgeschobenen Mond, zwei nackte Körper, und das Mondlicht war so hell, dass ich das Mädchen – Karls Braut – erkannte, das mich mit Entsetzen anstarrte. Aber sie konnte von mir nicht mehr sehen als einen gesichtslosen Umriss. Es blieben mir nur noch wenige Tage, die ich voller Rastlosigkeit zubrachte. Fieberhaft arbeitete mein Gehirn, aber woran zum Teufel arbeitete es? Ich wusste es nicht, Bilder, die ich nicht erkannte, zogen an mir vorbei, als wäre ich völlig betrunken und liefe einen Weg entlang, den ich nicht kannte, von dem ich nicht wusste, wo er anfing und endete, und den ich doch mit Verbissenheit entlanglief … Erst, als die Abfahrt kam, wurde ich ruhig, und das Fieber, das auch von meiner Familie, von meiner Mutter besonders, bemerkt worden war, ließ nach. Noch einmal ging ich in das Wirtshaus von Rosental, dann verabschiedete ich mich von allen und fuhr zurück an die Front.« »Das soll eine Liebesgeschichte sein?«, fragte ich. Ich hatte sehr leise gesprochen, und obwohl ich nicht glaubte, er hätte es gehört, reagierte er darauf. »Ja«, sagte er. Ich öffnete die Augen, die ich in der Zwischenzeit gänzlich geschlossen hatte, und runzelte die Stirn. Der Alte sah mich immer noch mit jenem unergründlichen Ausdruck an. Er zog die Flasche hervor und hielt sie mir hin. Als ich mit einer kurzen Kopfbewegung ablehnte, öffnete er mit einem Finger das Türchen des Bettkästchens, und eine Reihe leerer, aber auch unangebrochener Schnapsflaschen kam zum Vorschein. Ich versuchte, die Etiketten aus der Entfernung zu entziffern, zeigte schließlich, als es mir nicht gelang, auf eine Halbliterflasche, die am Rand stand. Er musste sich kaum hinab-, lediglich ein wenig nach vorn beugen, um sie herauszunehmen und mir zu reichen. Es war schottischer Whisky. Behutsam schloss er das Türchen, wieder nur mit einem Finger, und trank aus seiner Flasche, und auch ich schraubte nun den staubig-öligen Blechverschluss ab und nahm einen kräftigen Schluck und lehnte mich, während der Schnaps sich in meine Eingeweide brannte, wieder gegen die Wand. »Ich fuhr zurück an die Front. Ja. Und die Ruhe, in der ich seit der Abreise war, blieb. Sie blieb nicht nur in den ersten Tagen, sondern die ganze Zeit. Erst jetzt wurde ich ein wirklich guter Soldat. Wenn in diesem Zimmer hier das Fenster über Nacht offen steht, fährt manchmal eiskalte Luft durch den Raum – wie aus dem Nichts ein Schwall eiskalter Luft. So war es damals. Unsere Kompanie – sie war ein Luftstrom, der gegen einen anderen oder gegen etwas anderes ankämpfte, und egal, welche Temperatur der Strom gerade hatte, der kälteste Schwall, der kälteste Teil davon war zu jeder Zeit ich. Als wäre die Hitze am Anfang des Krieges etwas wie ein Prozess … Zeichen eines Prozesses gewesen … der, was in mir war … was sich in mir bis dahin herausgebildet...