E-Book, Deutsch, 188 Seiten
Kaiser Wegtanzen
2. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7412-8777-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 188 Seiten
ISBN: 978-3-7412-8777-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der neue Roman von Ingeborg Kaiser ist eine Art Lebensroman, der aus zwei Zeitperspektiven erzählt wird: zum einen wird über die Kindheit und Jugend von Ina berichtet, die zusammen mit ihren Eltern und ihrem Bruder die schweren Kriegs- und Nachkriegsjahre in Deutschland erlebt, und zum anderen gibt es immer wieder eingestreute Rückblicke der inzwischen alt gewordenen Frau auf ihr zurückliegendes Leben als Frau, Familienfrau, Mutter. »Wegtanzen« ist ein bewegendes Alterswerk der Grande Dame der schweizerischen Gegenwartsliteratur. Geschrieben in einer sehr komprimierten Sprache: erlebnisintensiv, erinnerungssatt, farbkräftig, poetisch.
Lebt als Autorin von Romanen, Gedichten, Hörspielen und Theaterstücken in Basel. Zahlreiche Buchveröffentlichungen.
Autoren/Hrsg.
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Wieder Fahnenappell vor der Pension Flora, zackig wie immer, nur ohne das Verteilen von Cebiontabletten, ohnehin unwirksam gegen die Seuche Krieg. Mohrle war die Erste, die das Angebot der Erzieher annahm. Sie verliess das Lager, trotz drohender Luftangriffe auf die Züge, und fuhr zu ihrer älteren Schwester, die für sie Vater und Mutter war. Auch Ina verabschiedete sich, nachdem sie ein Papier unterschrieben hatte, dass sie auf eigenes Risiko gehe. Die Bleibe in der zerbombten Stadt wurde ein Zwischenort mit häufigen Fliegeralarmen, bei denen die Familie einen abgelegenen Luftschutzstollen aufzusuchen hatte, der in eine historische Wallanlage getrieben worden war. Für Ina ein Alb, der spärlich erleuchtete Stollen mit Balken gestützt, das Menschengeschiebe, das sie und die Mutter tiefer in den Berg zwang, in die Höhle mit Wildfremden, ihren weinenden Kindern, einzige Gemeinsamkeit die Angst, mit allen verschüttet zu werden. Auf Vaters Drängen verliessen Mutter und Ina die Stadt, um bei Mutters Verwandten in Erkheim das Ende des Krieges abzuwarten. Auf dem Kirchturm der Storchenhorst, das Vogelpaar am Nisten, ein vertrautes Bild für Ina, die am Fenster den Schnittlauch für die Tante kleinschnitt. Von hier bis zur Ortschaft Kellmünz waren es vierzig Kilometer, wo Ina mit ihrer Klasse evakuiert gewesen und die bald zur Kampfzone geworden war. Der Ernst der Lage erfordert schärfste Massnahmen, um das Durchhalten der Wehrmacht, wie der Gesamtbevölkerung zu gewährleisten. Notfalls darf auch vor den allerschärfsten Massnahmen nicht zurückgeschreckt werden. (Der Oberbefehlshaber West, gez. Kesselring, General-Feldmarschall) Noch immer galt die Durchhalteparole. Bei Unruheherden in der Truppe wurden die Rädelsführer, ohne standrechtliches Urteil, hingerichtet. Das Gleiche drohte den Zivilisten, die absichtlich die Kampfführung der Truppe behinderten. Oder bei Annäherung des Feindes weisse Tücher zeigten. Ihre Häuser waren zu zerstören und die männlichen Bewohner dieser Häuser ab vollendetem 16. Lebensjahr zu erschiessen. Die Brücke über die Iller wurde von den Deutschen auf dem Rückzug gesprengt, Kellmünz von amerikanischen Panzern in Brand geschossen. Sein Bürgermeister, unterwegs mit einer Parlamentärfahne, von Deutschen erschossen. Fünf Tage später, der 30. April 1945, an dem Hitler und Eva Braun-Hitler im Bunker unter der Reichskanzlei die Blausäurekapseln zu sich nahmen, Hitler sich in den Mund schoss. Erkheim lag menschenleer im Mittagslicht, die Häuser entlang der Strasse schienen potemkinsch, eine unbespielte Kulisse, nur der Kuhfladen passte nicht ins Bild und das knospende Grün der alten Bäume auf der anderen Strassenseite, die den Platz zur Dampfmolkerei abgrenzten. Über dem Geländer der Rampe hing ein Tuch zum Trocknen, an der Wand ein paar Milchkessel, beim Eingang das schwarze Brett mit Mitteilungen, die Tür geschlossen. Durch das Fenster fiel Licht in den Keller mit den langen Regalen voller Käslaibe, aber niemand war am Umdrehen, Bürsten. Gleich würden amerikanische Panzer durchs Dorf rollen, der Krieg ein Ende haben. Aber was für ein Ende? Der Onkel hatte seine Familie, Ina und ihre Mutter vorsorglich aus der Schusslinie genommen und sie in den Käsekeller gesteckt. Er ging durch seinen Molkereibetrieb, öffnete die beiden Türflügel des Eingangs und stand breitbeinig unter der Tür, die Hände wie gewohnt in den Hosentaschen, sah die Panzer heranrollen, blickte in die jungen Gesichter der bewaffneten Soldaten, Schwarze darunter, sah einen Panzer den Konvoi verlassen, gegen die Molkerei vorrücken und an der Rampe stoppen. Zwei Soldaten gingen mit geladenen Gewehren auf ihn zu, riefen etwas, was er nicht verstand, und forderten ihn unmissverständlich gestisch auf, dass er seine Hände aus den Hosentaschen zu nehmen habe. Erschrocken hob er die Hände hoch, stülpte seine Taschen um, endlich zufrieden, liessen sie von ihm ab. Ina gefiel nichts mehr, sie sass am äussersten Rand der grossen Molkereiterrasse und sah über die Bäume in die Ferne, wo sie Augsburg vermutete und wo Mutter war, der sich eine überraschende Fahrgelegenheit angeboten hatte. Noch gab es für die Zivilbevölkerung keine fahrplanmässigen Zugverbindungen. Im kleinen Warenhaus über der Strasse wurde eben der weisse Sand aus Zucker und Waschmittelpulver zusammengefegt. Spuren der Gewalt. Eine Rotte, die in das Geschäft eingedrungen war, das Faustrecht ausübte und willkürlich zu plündern begann, hatte raschen Zulauf von vielen erhalten, die ebenso begehrlich ins Warenhaus drängten oder, die geplünderte Ware geschultert, sich den Weg nach draussen erkämpften. Schon waren die hohen Wandregale mit Stoffballen und anderen Textilien leer, als habe ein Tornado gewütet. Ina hatte das Treiben über der Strasse nicht erfasst, bis die Tante davon redete, dass sie Waren von drüben gerettet und den Besitzer verständigt habe. Ina blieb teilnahmslos. Forschend sah die Tante ihre Nichte an, aber sagte nichts oder nur, dass sie gleich essen würden. Ein Morgen an der Durchgangsstrasse. Jeeps und Militär-Lastwagen mit GIs besetzt dröhnten an der Tante und Ina vorbei, an ihrem Schild aus Pappkarton, auf dem übergross AUGSBURG zu lesen war. Bald sass Ina in der Fahrerkabine zwischen Fahrer und Beifahrer im Rauch von Camel oder Chesterfield, und wurde befragt. Ihr Englisch hätte genügen müssen, aber das Gespräch geriet zum Pingpong mit Stichworten. Die Landstrasse zog an grossflächigen Wiesen und bestellten Äckern vorbei – und immer wieder aufragende Zwiebeltürme, um die sich die Häuserherde scharte. Eine Landschaft, die Ina vertraut war, ohne bei ihr Nähe auszulösen. Der Amilaster stoppte, und Ina war im zerbombten, besetzten Augsburg, das von Soldaten in khakifarbenen Uniformen beherrscht wurde, die ihre andere Sprache, Lebensart, Kultur lebten, ohne mit den Besiegten zu fraternisieren. Ausser mit den jungen Frauen, die sich auf die Boys einliessen, in ihren Clubs swingten und mit Kaffee, Schokolade, Zigaretten oder dergleichen verwöhnt wurden. Ina freute sich, die Eltern mit ihrer Rückkehr und einem Klotz Edamer in roter Paraffinschicht, den ihr die Tante mitgegeben hatte, zu überraschen. Vor dem Haus, in dem die Eltern einquartiert waren und wo sie zusammen die letzte Kriegsweihnacht erlebt hatten, stand ein Jeep. Ina rüttelte an der Gartentür, die sich nicht öffnen liess, spähte dann über den Zaun zum Fenster, das sich gerade öffnete und einen kräftigen schwarzen GI im Rahmen zeigte, der eine Vase mit verblühtem Flieder in den Garten warf. Er sah das Mädchen und zeigte an, dass es verschwinden solle, fuchtelte mit seiner Pistole, als wäre sie ein Spielzeug. Erschrocken wechselte Ina die Strassenseite und entfernte sich ziellos. Sie erinnerte sich dann an das Häuschen, in dem Mutters Jugendfreundin Fanny mit ihrer Familie lebte, fand es und drückte die Klingel. Unter der Tür stand die Mutter. Hier waren die Eltern, nach der Beschlagnahme des Buchhalterhauses, untergekommen. Aus dem Zimmer des als vermisst gemeldeten Sohnes wurde eine behelfsmässige Wohnküche, das Schlafzimmer mit drei Pritschen versehen. Fanny mit Familie hatte sich im Parterre eingerichtet. War es nur Grossmut der Davongekommenen? Noch war ihr Haus von den Amerikanern als zu wenig komfortabel eingestuft worden, ohne Zentralheizung und Warmwasserboiler. Jedes Wannenbad musste zuerst mit Holz angeschürt werden. Und sie hätten ohnehin Vertriebene aufnehmen müssen. Zwei Familien mit den Töchtern Edeltraud und Ina unter einem Dach, ihre Soldatensöhne noch verschollen. Der Hausherr ein Nazigegner, der sich keine Parteimitgliedschaft hatte abringen lassen. Inas Vater mit brauner Vergangenheit, den ein Spruchkammerverfahren erwartete, ein Beamter, dem die Entlassung aus dem Öffentlichen Dienst drohte. Zusammengewürfelte Leben, die nichts Gemeinsames hatten, nur die Frauen ausgleichend, versöhnlich. Bis zum Schulbeginn verschwand Edeltraud auf den Hof der Verwandten, wo sie aufs Feld ging und auch Kühe gemolken habe. Ina hatte keine eigentliche Aufgabe, stand gern auf dem Balkon des Schlafzimmers, staunte in die blühenden Kirschbäume der benachbarten Gärten und fand sich bevorzugt. Regelmässig donnerten die Züge auf der Strecke Augsburg–München am Grundstück vorbei, unterbrachen jedes Gespräch, erzwangen eine kurze Pause und wurden zur Gewohnheit. Mutter musste dabei an Sarras und seinen schnellen Tod denken. Sie waren an der geschlossenen Bahnschranke gestanden, als er sich losriss, um der Spur einer Hündin über die Trasse zu folgen. Inas Bett an der Wand. Die Elternpritschen etwas abgerückt, in den Matratzen Seegras, oder war es Stroh? Für Ina roch es ländlich. Einzelne Halme, die sich durch den groben Rupfen schoben, piksten auf der Haut wie damals, als sie mit dem Cousin Klement über die Leiter die Heubühne erstiegen hatte, sie sich kopfüber ins Heu fallen liessen, immer wieder, bis Klement der geschliffenen dreizinkigen Heugabel gefährlich nahe kam und sie erschreckt das Spiel liessen. Es pikste, auch die Eltern lagen wach. Um sie die Dunkelheit wie zementiert, die Balkontür geschlossen, in kurzen Intervallen das Rollen der...