E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Reihe: Life-Management
Kamani Lonely Hearts Club. Healing
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8338-9710-8
Verlag: GRÄFE UND UNZER Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Reihe: Life-Management
ISBN: 978-3-8338-9710-8
Verlag: GRÄFE UND UNZER Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dr. Nasanin Kamani (*1989) ist eine in Köln lebende Autorin und Ärztin. Sie studierte an der Universität zu Köln Medizin und arbeitet seit ihrem Abschluss als Ärztin in den Fächern Psychiatrie und Psychotherapie. Während ihrer Schul- und Studienzeit verfasste sie Reportagen und Kolumnen für die Tageszeitung 'Kölner Stadt-Anzeiger'. Kamani veröffentlichte Kurzgeschichten in Anthologien und wurde zweifach mit dem Walter Kempowski Literaturpreis für Kurzgeschichten ausgezeichnet. 2022 erschien ihr erzählendes Sachbuch 'Date Education'. In Radio, TV und Zeitschriften trat sie mehrfach als Expertin für die Themenbereiche Psyche und Beziehungen in Erscheinung.
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Vorwort
Teil 1
Teil 2
Teil 3
Teil 4
Teil 5
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Dr. med. Nasanin Kamani
KAPITEL 2
Milly
»Manchmal denke ich an Nadja zurück. Nein, Nadine, meine ich. Genau. Sie hat sich Dine genannt.« Mein Bruder ordnet sich auf der linken Spur ein und folgt dem Schild in Richtung Hauptbahnhof. »Sie war schlau und attraktiv. Ich kann mich gar nicht daran erinnern, warum wir nicht zusammengekommen sind.«
Ich schon. Er hat das Interesse an ihr verloren, weil er sich im Praktischen Jahr seines Medizinstudiums in eine Assistenzärztin verliebt hat. Die war zwar vergeben, hat ihn aber mit Geschäker und zufälligen Berührungen bei der Stange gehalten. Dass daraus nichts werden konnte, war ihm irgendwo klar, aber für so vage Geschichten mit unberechenbarem Verlauf hat Daniele eine Schwäche. Das passt ganz und gar nicht zu dem soliden Schwiegersohn-Image, das unser Vater ihm gern aufdrücken würde. Er ist ebenfalls Arzt, ein Kardiologe, was lustig ist, da er außerhalb seiner Praxis nicht allzu viel von Herzen versteht. Mein Bruder und er sind ziemlich verschieden, dennoch verbringt Daniele eine Menge Zeit mit ihm und tut einen Haufen Dinge, um ihn zufriedenzustellen. Vielleicht ist das so ein Erstgeborenen-Ding, von dem ich nichts verstehe – was ich auch nicht will. Ich bin neun Jahre jünger als mein Bruder und gehe ihm mit meinen eins dreiundachtzig bis knapp unter die Nase. Wir haben beide dunkelblondes Haar, nur, dass meins etwas länger ist und sich ein ganz klein bisschen wellt. Unser Papa hatte bereits in seinen Zwanzigern nur noch einen Kranz auf dem Kopf und da Daniele in seinem Alter schon deutlich weiter über den Berg ist, hoffe ich natürlich, dass die Glatzen-Gene nicht an mir hängen bleiben. Unsere Eltern sind beide Deutsche. Dennoch hat mein Bruder einen italienischen Vornamen und ich einen, der eher in Osteuropa verbreitet ist – was einfach nur daran liegt, dass die Namen ihnen gefallen haben. Mehr nicht.
»Was ist eigentlich mit dir?«, fragt er. »Hast du noch Kontakt zu dem Mädel aus deiner Stufe?«
»Anna. Ja. Aber wir sind jetzt wieder Freunde, das passt besser so.«
»Lief denn richtig was zwischen euch?«
Ich antworte nicht.
»Irgendwann musst du auch mal ins kalte Wasser springen und eine Runde schwimmen gehen.«
Benutzt er »schwimmen« gerade als Metapher für Sex? So wie die US-Daddys in alten Serien und Filmen übers Anschnallen beim Autofahren sprechen, damit kein »Unfall« entsteht? Daniele fällt definitiv eher in die Kategorie cooler großer Bruder, fühlt sich hin und wieder aber dazu verpflichtet, mir väterlich zur Seite zu stehen, was einfach nicht zu ihm passt und letztlich mit peinlichen Pointen und cringen Kommentaren endet.
»Ich fahre lieber Jetski«, sage ich und denke an das blaugrün schimmernde Meer, das mich in Saint-Malo erwartet – nicht nur für eine Woche oder einen Monat, sondern für mein gesamtes letztes Schuljahr. An meinem Gymnasium habe ich schon seit der Siebten Fächer auf Französisch, die mich aufs deutsch-französische AbiBac vorbereiten. Ich kann mir noch gar nicht vorstellen, wie sich das anfühlt, wenn die Postkartenkulisse zum Alltag wird und der Geruch von Algen und Sand jeden Morgen auf dem Weg zur Schule in meine Nase dringt. Dreihundertfünfundsechzig Tage an einem französischen Küstenort sind mit Sicherheit doppelt so schnell gezählt wie daheim in Nordrheinwestfalen.
Dass ich für Sprachen, Philo, Päda, Psychologie und so brenne und in Naturwissenschaften nur mit Ach und Krach auf meine Dreien komme, findet mein Vater als Vollblut-Mediziner irritierend. Zudem gefährdet das seine Vorstellung, dass auch ich Arzt werde und meinen Platz in seiner Herren-Hierarchie einnehme, in seinem Kittel-Klüngel. Richtig ins Gesicht hat er mir das noch nie gesagt. Er arbeitet da lieber mit: Mimik (enttäuschte Miene), Andeutungen (»Die jungen Sensibelchen studieren hippe Fächer, die keiner gebrauchen kann, und schaffen künstliche Probleme, weil sie keine echten haben«), Vergleichen (»Hör mal, der Sascha aus deiner Stufe, der will Jura studieren, haben seine Eltern erzählt, ist ja klasse!«) – und mein absoluter Favorit: pseudo-resignierte 180-Grad-Wendungen (»Wisst ihr was: Soll jeder machen, was er will, meinetwegen auch Straßenkünstler in Paris werden«).
Bedauerlicherweise hat Daniele sich neulich von ihm vor den Karren spannen lassen und mir nach einer gemeinsamen Runde Sport ein paar getackerte Dokumente in den Rucksack gesteckt. »Lag in der Klinik herum«, sagte er beiläufig. »Berufsorientierung und so, das ist doch gerade Thema bei euch in der Schule.«
Daheim musste ich feststellen, dass es sich um Infos rund um den Eignungstest an einer Privatuni handelte, für die Eltern ein halbes Vermögen zahlen, damit auch Nachfahren ohne Eins-Komma-null-Schnitt zum Star in Weiß aufsteigen können. Wie es aussah, hatte er Daniele damit beauftragt, mir ein Leben zwischen Krankenhausgeruch, Blut und Schläuchen schmackhaft zu machen.
Ich sprang auf mein Rad, fuhr durch die halbe Stadt und klingelte bei meinem Bruder, der frisch geduscht in Jogger und T-Shirt die Tür öffnete. »Milly, alles okay?«
Ich trat in seine geräumige Wohnung und schlug die Tür hinter mir zu. »Du bist ein Verräter.«
Die Schuld stand ihm binnen Sekunden ins Gesicht geschrieben. »Kriegt Papa etwa Panik, weil ich mir von ihm nicht reinquatschen zu lassen? Weil ich mich am Lycée Laplace beworben habe, statt für das Ferienpraktikum an seiner Klinik?«
Aus Schuld wurde Scham. Ja, mein Bruder schämte sich und das war etwas, das ich mit meinen achtzehn Jahren vielleicht ein- oder zweimal live mitbekommen hatte. Aber ich war noch zu enttäuscht, um mich davon besänftigen zu lassen. »Dass du Papa nichts ausschlagen kannst – nicht einmal dann, wenn du mich damit verletzt –, ist so verdammt schwach.«
Er fasste sich ins nasse Haar, blickte schweigend zur Seite.
»Gönnst du es mir nicht, dass ich meinen eigenen Weg gehe? Nur weil deiner darin besteht, seine Fußspuren vom Boden abzulesen und ihnen hinterherzukriechen?« Okay, das ging unter die Gürtellinie. Zeit, wieder klarzukommen.
»Es waren doch nur ein paar Blätter«, sagte Daniele leise.
»Für mich sind das nicht nur Blätter, sondern Bomben, die Papa auf meine Pläne und meine Person abwirft.« Und dann etwas ruhiger: »Hilf ihm doch nicht dabei. Sonst jagt er irgendwann noch unsere Beziehung in die Luft. Auch, wenn das gar nicht sein Ziel war.«
Daniele drehte mir wieder das Gesicht zu. Seine Miene war wie versteinert, nur seine Augen waren etwas feucht und gerötet wie nach dem Schwimmen oder Zwiebelschneiden. »Sorry, Milly, ich bin ein Arsch.«
Ich ließ mich auf seine Couch fallen. »Ist gut. Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich das erste Semester Medizin überlebe. Muss man da nicht Redoxreaktionen, Genetik, Schaltkreise und so können? Einen Kurzschluss hätte ich zu bieten, viel mehr auch nicht.«
Er setzte sich neben mich, zückte sein Handy und öffnete eine Lieferdienst-App. »Willst du was essen?«
»Klar.«
»Cool.«
»Versprichst du mir, dass du mir nie wieder in den Rücken fällst?«, fragte ich, während appetitliche Pizza-Bilder auf seinem Bildschirm erschienen. Daniele packte mein Handgelenk, ohne mich anzusehen. »Ich verspreche es bei allem, was ich habe.«
Und ich glaubte ihm.
***
Mein Bruder stellt das Auto auf dem Bahnhofsvorplatz ab. Er hat angeboten, mich bis an die deutsch-französische Grenze zu fahren, damit wir noch ein wenig Zeit zu zweit haben. Es ist abgemacht, dass wir uns erst an Weihnachten wiedersehen.
Daniele steigt aus und läuft um das Auto herum. Ich folge ihm und lade mein Gepäck aus dem Kofferraum.
»Alles klar.« Er versucht zu lächeln, aber der Abschied lastet schwer auf seinen Mundwinkeln. »Das werden miese Joggingrunden ohne dich, Milly.«
Er legt mir eine Hand auf die Schulter, fährt mit der anderen seitlich durch mein Haar und berührt kurz mein Gesicht. »Ich finde es toll, dass du das machst. Viel Erfolg, kleiner Bruder.«
Ich gehe einen Schritt vor, drücke ihn kräftig und weiche zurück, als er mich gerade richtig in die Arme schließen will. Ein finales »Tschüss« verkneife ich mir, da ich nicht weiß, wie gefestigt meine Stimme sein würde. Dass mein Bruder mir bei diesem großen Schritt die Anerkennung schenkt, die mein Vater mir konsequent verweigert, erfüllt mich mit einer Dankbarkeit, die mich tiefer berührt als ich gedacht hätte.
Eine Viertelstunde später sitze ich schon im ICE in Richtung Paris, wo ich einen Zwischenstopp auf dem Weg nach Saint-Malo einlege.
»Hat alles gut geklappt «, schreibe ich meiner Mutter, die selbst als Französischlehrerin arbeitet und mich mehr oder weniger heimlich unterstützt hat: mit der Bürokratie, der Anerkennung meiner Leistungen, dem Aufnahmegespräch. Da ein Wechsel im letzten Schuljahr deutlich komplizierter ist als davor, bin ich ihr verdammt dankbar für ihre Hilfe. Meine Mama und Daniele haben die Gemeinsamkeit, dass sie beide hinter mir stehen wollen, ohne sich Papa dabei in den Weg zu stellen. Sie haben quasi den berüchtigten Platz zwischen den Stühlen. Und auch, wenn die Verführung groß ist, mich deshalb schuldig zu fühlen, weiß ich tief im Inneren, dass ich keine Verantwortung für ihre unbequeme Lage trage. Ich muss meinen Kopf nicht hinhalten, um das in Ordnung zu bringen. Freikriegen muss ich ihn, und bald auch mit Abizeug befüllen. Und manchmal auch abschalten, um Spaß zu haben – abends, an den Wochenenden, in den Ferien.
C’est tout.
...