E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Kaminski Pilgern mitten im Leben
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-451-81941-4
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie deine Seele laufen lernt
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-451-81941-4
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Welche Richtung will ich meinem Leben geben und wonach sehne ich mich wirklich? Am Anfang des Pilgerns steht die Sehnsucht danach, das Leben neu auszurichten. Aus seinem reichen Erfahrungsschatz schöpfend, beschreibt der Theologe und Pilgerbegleiter Michael Kaminski in diesem Buch, wie Pilgern in Zeiten von Lebensumbrüchen heilsame Veränderungen herbeiführen kann. Neben kurzen Impulsen und Inspiration für den Weg enthält dieser Band zahlreiche Praxistipps. Ein wertvolles Begleitbuch für spirituelle Pilgerreisen.
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Ich traf mich selbst – und wurde ein anderer
Ich traf auf irgendeinem Jakobsweg einen Pilger, der schon öfter unterwegs gewesen zu sein schien. Typisch deutsch mit kariertem Wanderhemd steht er da, dazu jedoch unrasiert und mit einem Kopftuch, das die Idee aufkommen lässt, es hier mit einem gestrandeten Piraten zu tun zu haben. Aber der große Rucksack, der markante Wanderstab und schließlich die Wade des Pilgers, auf der eine tätowierte Jakobsmuschel zu sehen ist, lassen keinen Zweifel daran: Das muss ein waschechter Pilger sein! Ich bin neugierig, lächele ihm zu und spreche ihn bei nächster Gelegenheit an einem Rastplatz an. »Was treibt dich auf den Weg?«, frage ich – ein klassischer Einstieg zwischen Pilgernden, wenn man sich nicht lange mit Smalltalk aufhalten will. Wir stellen uns einander vor: woher, wohin? Ich erfahre, dass es sich um Michael aus München handelt. »Also, wie ging es bei dir los?«, frage ich, und Michael fragt zurück: »Hast du Zeit? Das ist eine etwas längere Geschichte …« Ich traf … Weil es sich gehend besser plaudert, legen wir wieder los. Michael beginnt zu erzählen. »Eigentlich bin ich in das Pilgergeschehen hineingerutscht. Zwei Kollegen bei der Evangelischen Jugend wollten 2007 einen dreitägigen Pilgerweg für junge Männer anbieten. Die Reise wurde ausgeschrieben, aber beiden kam etwas dazwischen. Und ich bin eingesprungen. Als Religionspädagoge traute ich mir zu, eine Gruppe auf einem Weg zu begleiten. Aber ich hatte noch keine Ahnung vom Pilgern, mal abgesehen davon, dass auch ich wie viele andere Hape Kerkelings Pilgererfahrungen gelesen hatte. Ich wanderte eigentlich nicht gern, aber ich hielt es doch für klug, den geplanten Weg schon mal allein abzulaufen, damit ich mich orientieren konnte und wusste, wo Pausen angebracht sind oder wo man vielleicht einen Impuls zum Nachdenken geben könnte. Es sollte der Jakobsweg sein, der von München aus in Richtung Bodensee führt. Wenn man ihn komplett geht, führt er auf 2600 Kilometern von München durch das Allgäu, weiter durch die Schweiz zum Genfer See, mitten durch Frankreich und schließlich durch Spanien nach Galicien zum Pilgerziel Santiago de Compostela.« »Aber du wolltest mit den Jungs schon nur in Bayern pilgern, oder?«, frage ich sicherheitshalber nach. »Ja«, antwortet Michael, »mir war wichtig, dass wir dort mit dem Pilgern beginnen, wo wir zu Hause sind. Mit vier mehr oder weniger jungen Männern und einem Freund, dem Diakon Tobias Rilling, bin ich dann aufgebrochen. Eine fröhliche Truppe war das! Aber unterwegs fiel mir auch auf, dass alle nicht nur einen Rucksack, sondern auch ein inneres Päckchen zu schleppen hatten: die Trennung der Eltern, die Frage nach dem richtigen Studium, sich beruflich selbstständig zu machen oder angestellt zu bleiben, solche Dinge. Jedenfalls war keiner dabei, der einfach nur neugierig auf eine Pilgererfahrung war.« »So habe ich das auf den Wegen auch wahrgenommen«, bestätige ich, »fast niemand bricht so zum Pilgern auf, als würde er einfach in den Urlaub gehen. Die Menschen sind auf der Suche, bringen ihre Lebensthemen mit, oft auch einen Umbruch oder eine Krise.« Michael erzählt weiter: »Es war eine tolle Erfahrungen, mit den jungen Pilgern am Ziel, an der Jakobskirche in Schondorf, anzukommen. Aus heutiger Sicht kann ich sagen, dass es bereits dort um mich geschehen war: Der Pilgervirus, von dem viele sprechen, hatte mich schon infiziert. Ich wusste, ich muss von diesem Ort aus weitergehen. Von hier aus Richtung Santiago. Aber beim nächsten Mal für mich allein. Dabei war ich mir gar keines Umbruchs oder einer Krise in meinem Leben bewusst. Aber ich spürte, es würde mir guttun, einfach nur für mich zu sein. Ich wollte mich auf dem Weg schlicht besser kennenlernen.« Jetzt will ich’s aber wissen: »Und, was hast du herausgefunden?« »Ich brach noch im selben Jahr wieder auf, pilgerte zum Bodensee, was für mich damals als unerfahrener Wanderer schon eine Herausforderung war. Gerade deshalb war ich jedoch immer wieder stolz auf mich. Zunächst dachte ich, ich müsse abends unbedingt jemanden anrufen und erzählen, welche anstrengenden Wege ich gelaufen bin, wie viele Kilometer ich geschafft habe. Aber ich merkte bald, dass es überhaupt nicht darauf ankam, dass ich Lob von anderen hörte. Ich erkannte vielmehr, dass es darum ging, dass ich selbst auf mich stolz war.« »Das klingt, als wärst du überheblich geworden.« Ich schaue Michael skeptisch an. Er lächelt zurück: »O nein. Es war kein Stolz auf Kosten anderer, ich erlebte, was ich leisten konnte, körperlich und mental, konnte mich selbst besser sehen und klopfte mir anerkennend auf die Schulter. Solltest du auch mal probieren!« »Darauf trinken wir einen Schluck.« Ich suche im Rucksack nach meinem Flachmann und reiche ihn rüber. Michael nippt: »Lecker, ein Birnenschnaps. Ein Willi, oder? Wo ein Willi ist, ist auch ein Weg – alter Pilgerspruch.« »Na, dann los!« Wir haben ja noch ein gutes Stück Weg vor uns. Und er fährt fort: »Ich musste allerdings bald lernen, dass ich auch nicht alles schaffe. Im Gegenteil, ich brauchte unterwegs immer wieder Unterstützung und Hilfe. Das letzte Stück zum Bodensee zum Beispiel, den Pfänder hinab, musste ich mich sogar im Auto mitnehmen lassen. Ich lernte schmerzhaft, dass ich zwar viel schaffen kann, aber dass ich das Ziel nicht nur aus eigener Kraft und ohne Hilfe erreichen werde. Ein wenig Unterstützung und eine Portion Gnade gehören auch dazu.« »Gnade?« »Na, göttlicher Beistand. Auf dem Pilgerweg bist du nie ganz allein.« »Aha … Du hast also den Bodensee erreicht. Wo ging es dann weiter? In Spanien?«, will ich schon wissen. »Nein, nachdem ich den Weg an der eigenen Haustür begonnen hatte, wollte ich nun auch in der richtigen Reihenfolge weiterpilgern. Und jedes Mal, wenn ich an dem Ort aufbrach, den ich auf der letzten Pilgerreise erreicht hatte, lernte ich wieder Neues über mich. In der Schweiz erfuhr ich, dass ich manchmal gern allein bin und auch Zeit für mich brauche. Das wusste ich vorher nicht, es war ungewohnt für mich. Und erst recht für meine Lieben zu Hause.« »Stimmt schon, Pilger kommen verändert, manchmal seltsam zurück, das ist für die Daheimgebliebenen nicht immer einfach nachzuvollziehen. Aber davon steht in den meisten Pilgerbüchern nichts. Erzähl doch weiter, Michael.« Achtung: Pilgern kann Ihre Haltung verändern!
Vorher Nachher »In Frankreich lernte ich zum Beispiel, dass ich ein Mensch bin, der in Spannungsbögen denkt und lebt: Es gibt immer wieder zeitliche oder örtliche Bezugspunkte in der Zukunft, an denen ich mich orientiere.« »Du bist also kein Pilger, der einfach in den Tag hineinläuft und mal schaut, wo er abends ankommt?« »Nein, ich will zwar auch nicht alles durchplanen, aber es tut mir schon gut, morgens mögliche Zielorte des heutigen Pilgertages zu definieren.« »Und wie hast du die anderen Menschen auf den Pilgerwegen erlebt?« »In Deutschland sind mir damals keine anderen Pilger begegnet. Das änderte sich in der Schweiz, und in Frankreich und Spanien erst recht. Und es bestätigte sich meine Anfangsbeobachtung: Fast alle Menschen auf Pilgerwegen haben ein Lebensthema oder mehrere Lebensthemen, und sie glauben, sie würden auf den Wegen wichtige Impulse bekommen, die sie weiterbringen. Mit dieser Erkenntnis begann ich, meine private Pilgerleidenschaft mit meiner beruflichen Tätigkeit zu verbinden. Erwachsenenbildung muss ja nicht immer in Räumen in Form von Vorträgen, Kursen oder Seminaren stattfinden. Was würde passieren, fragte ich mich, wenn ich Menschen mit ähnlichen Lebensthemen zusammen auf einen Pilgerweg bringen würde? Könnte das eine neue Form von Bildungsarbeit sein? Etwas, bei dem sich Bildung, Seelsorge und Spiritualität begegnen, was deshalb gut in mein Tätigkeitsfeld innerhalb der evangelischen Kirche passen könnte?« »Du arbeitest bei der Kirche?« Ich staune, so sieht er gar nicht aus. »Du wirst lachen, ich bin Religionspädagoge und Kirchenbeamter!«, grinst Michael. »Ich entschied mich, es auszuprobieren, und gleich mit einem anspruchsvollen Projekt: Ich wollte mit Trauernden, die einen geliebten Menschen verloren haben, zum Pilgern aufbrechen. Für dieses Thema brauchte ich natürlich noch andere, die sich in Trauerbegleitung auskennen. Da kam wieder Tobias, mein Begleiter beim ersten Mal, ins Spiel, der sich bei ›Lacrima‹ mit seinem Team für trauernde Kinder und deren Angehörigen engagiert. Gemeinsam gelang das Projekt wunderbar, wir hatten und haben bis heute mit unseren Gruppen sehr intensive Zeiten auf dem Münchner...