E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Kanitz Oma packt aus
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-641-09443-0
Verlag: Blanvalet
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-641-09443-0
Verlag: Blanvalet
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Seit die perfekt gestylte Großstadtpflanze Nele in die Lüneburger Heide und in den Schoß ihrer Familie zurückgekehrt ist, überschlagen sich die Ereignisse. Kaum wird ein Geheimnis gelüftet, schon sitzt Nele samt Oma, Großtante und der riesigen Dogge Rüdiger im VW-Bus auf dem Weg nach Süditalien. Einzig ihr Liebster Paul glänzt durch Abwesenheit. Doch zum Glück ist sie bald viel zu beschäftigt, um sich darüber Gedanken zu machen: Während sie versucht, eine verzwickte Geschichte aufzuklären, überfrisst sich Rüdiger an Tiramisu, und Oma zwingt den Dorfarzt mit dem Küchenmesser zur Notbehandlung …
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1. Erstens kommt es anders
Es reicht!, dachte ich, lief über den Hof ins Haus und knallte die massive Eichentür so laut zu, dass die roten Backsteine knirschten und das alte Fachwerk knackte. Bildete ich mir jedenfalls ein. Vielleicht erzeugte ich die Geräusche auch selbst, indem ich die zusammengebissenen Zähne aneinanderrieb und die Fingerknöchel dehnte.
»Lass das nach«, befahl Oma Grete und hob drohend einen knorrigen Zeigefinger. Für die frühe Morgenstunde sah sie schon erschreckend munter aus. Fast wie ein junges Mädchen kam sie die steile Treppe heruntergeglitten und baute sich vor mir auf. Der Zeigefinger wedelte jetzt vor meinem Gesicht hin und her.
»In meinem Haus werden keine Türen geknallt, ist das klar?«
Ich verzichtete auf den Hinweis, dass sich die Besitzverhältnisse in der Familie Lüttjens vor Kurzem dramatisch geändert hatten, und klappte den Mund auf, damit meine Zähne nichts mehr zu reiben hatten.
Grete, die trotz ihrer achtundachtzig Jahre über ein feines Gehör verfügte, war noch nicht fertig mit ihrer Standpauke. »Fingerknöchelknacken ist ungezogen!«, sagte sie stotterfrei.
Mannomann! Die sprach mit mir wie mit einer Fünfjährigen! Zorn wallte in mir auf.
Gut so. Er lenkte mich wenigstens von dem anderen Gefühl ab. Es hatte ein bisschen was mit Angst zu tun. Nein, nicht nur ein bisschen; sogar ein bisschen mehr. Deswegen war ich ja eben ins Haus geflüchtet.
Geflüchtet?
Hm. Konnte man wohl nicht anders nennen.
»Und Zähneknirschen gehört sich auch nicht!«
Ist ja gut!
»Du hast dich angehört wie damals unsere beste Milchkuh Lotte beim Wiederkäuen.«
Ich klappte den Mund wieder zu und zwang meine Kiefermuskeln in eine vorübergehende Lähmung.
Es reicht!, dachte ich zum zweiten Mal innerhalb von zwei Minuten.
Hätte ich aber besser sein lassen. Musste gleich wieder an meine Flucht ins Haus denken.
Prompt kroch die blöde Angst unaufhaltsam an meiner Wirbelsäule hoch.
Eben gerade, als ich aus dem Stall gekommen war, hatte ich ihn wieder entdeckt.
Den Schatten.
Unsere beiden Ponys Ernie und Bert hatten mir noch hinterhergewiehert, so als wollten sie sich für den morgendlichen Hafer bedanken, da war mein Blick zum Hoftor gehuscht, und ich hatte genau gesehen, wie etwas Dunkles auf dem Boden schnell zurückgezuckt war. Eindeutig ein Schatten in der noch schräg stehenden Herbstsonne.
Hätte mir ja nichts weiter dabei gedacht, wenn es das erste Mal gewesen wäre.
War es aber nicht. Das ging schon seit mindestens einer Woche so.
Ich hatte mir auch einige Erklärungen zurechtgelegt: Das Storchenpaar vom Dachfirst flog ein paar Ehrenrunden, eine Heidschnucke war aus ihrer Herde ausgebüxt und schaute mal vorbei, Karl Küpper, meine Jugendliebe von nebenan, stellte mir wieder nach, Papa schlich zu einem heimlichen Rendezvous.
Alles Quatsch.
Papa hatte Wichtigeres zu tun, zum Beispiel Mama feurige Blicke zuwerfen, was sämtliche Mitglieder der Familie Lüttjens ausgesprochen peinlich fanden, nur die beiden nicht. Mein Bruder Jan vielleicht auch nicht, aber der war von Natur aus besonders tolerant.
Karl und ich wiederum waren beste Freunde und pflegten die wunderschöne Erinnerung an die Jugendliebe, die uns über Jahre miteinander verbunden hatte.
Der Schatten gehörte sowieso weder zu einem Tier noch zu einem ausgewachsenen Mann. Da war ich mir sicher, obwohl ich ihn immer nur ganz kurz sah.
Es war der Schatten einer Frau.
Definitiv.
Gruselig.
Oder bildete ich mir alles nur ein? Hatte ich in meiner Zeit in München mit meiner besten Freundin Sissi zu viele Horror-Abende veranstaltet?
Das war eines unserer liebsten Hobbys gewesen – nur die Suche nach Mr. Right und Sissis peinliche Leidenschaft für Bollywoodfilme standen noch höher im Kurs. Eng aneinandergekuschelt auf meiner Designercouch, die Augen starr auf den Fernseher gerichtet, die Hände voller Chips. Und dabei hofften wir auf ziemlich unsinnige Wunder. In Bates’ Motel wollte niemand duschen, Freddy Krueger ließ ein Gesichtspeeling machen, und am Telefon sagte eine freundliche Computerstimme: »In sieben Tagen wirst du reich sein.«
Na ja. Klappte nicht so.
Trotzdem. Man konnte nie wissen, was so alles auch in der beschaulichen Lüneburger Heide passieren mochte.
Jetzt überlegte ich fieberhaft. Hatte ich vielleicht irgendwo auch eine Blutspur entdeckt? Dort, wo vorher der Schatten entlanggehuscht war?
Nee. Eigentlich nicht.
Ein mürrisches Räuspern brachte mich ins Hier und Jetzt zurück. »Sag mal, Deern, hast du ein Gespenst gesehen?«
Könnte sein.
»Nein, wieso denn?«
»Du starrst mal wieder Löcher in die Luft.«
Ich schaute Oma Grete direkt an. Eigentlich war sie ja gar nicht meine Großmutter, aber aus alter Gewohnheit nannte ich sie weiter so. Ihr Mann, also Opa Hermann, war nämlich vor vielen Jahren ihrer Schwester Marie in Liebe verfallen. Sein einziger Sohn entsprang dieser Verbindung, und um einen Skandal zu vermeiden, gab Grete ihn als ihr eigenes Kind aus, nachdem Marie ihn im fernen Bayern zur Welt gebracht hatte. Womit alles geklärt sein dürfte. Wenn Papa dann wenigstens mein Vater und Mama meine Mutter geworden wäre, und … Stopp!
Auch knapp zwei Monate nachdem bei uns Lüttjens’ die großen Familiengeheimnisse gelüftet worden waren, hatte ich noch Schwierigkeiten mit den neuen Verhältnissen.
»Vielleicht ist dir ja mein Hermann erschienen«, fuhr Grete fort und ging flotten Schrittes in die Küche. »Der sucht dich jetzt heim, weil du ihn im Zug liegen gelassen hast.«
Ich folgte ihr schwerfällig und überlegte, ob ich erst frühstücken und ihr dann den Hals umdrehen sollte oder umgekehrt.
Seit mir dieses kleine Missgeschick mit der Tupperdose passiert war, verging kein Tag, an dem sie es mir nicht aufs Butterbrot schmierte.
Butterbrot?
Na gut, erst frühstücken.
Während Grete leise vor sich hinschimpfte, deckte ich den Tisch und kochte Kaffee.
In der Tupperdose hatte sich die Asche des Familienpatriarchen Hermann Lüttjens befunden, der in seinem Heimatort Nordergellersen aufgebrochen war, um mich, die abtrünnige Nele, in München zu besuchen. Wobei er mir gleich eine ungeheure Wahrheit um die Ohren hauen wollte. Dazu kam er jedoch nicht mehr, weil er in meinem Treppenhaus starb.
Ich brachte ihn dann heim in die Heide – nicht ganz gesetzestreu und auch nicht sonderlich pietätvoll, aber dafür hundertprozentig sicher in der Tupperdose.
Hatte ich jedenfalls gedacht, bis ich in Lüneburg so schnell aussteigen musste, dass Opa sozusagen nicht mehr mitkam.
Aber er fand nach ein paar Tagen doch noch heim, dank einer mitreisenden älteren Dame namens Hertha Kowalski, die in der Tupperdose außer Opas Asche auch einen Prospekt unseres Ferienhofes gefunden hatte.
Alles gut also.
Wieso regte sich Oma Grete immer noch auf? Opa hatte ein prima Urnengrab bekommen und einen schlichten Findling als Grabstein. Von seinem Begräbnis und dem anschließenden Leichenschmaus im Heidekrug wurde bis heute voller Lob im Dorf gesprochen, und nur hinter vorgehaltenen Händen blubberte es eifrig in der Gerüchteküche um die Lüttjens’. Aber Genaues wusste man nicht.
Besser so. Sonst war alles friedlich.
Kein Grund für Grete, mir immer noch böse zu sein.
»Hast du die Brötchen geholt?«, fragte sie jetzt.
»Bin noch nicht dazu gekommen«, murmelte ich. Bis vor Kurzem hatte unser Dorfbäcker noch einen Lieferservice betrieben – in Gestalt seines einzigen Sohnes. Aber der studierte jetzt BWL in Hamburg und hatte vermutlich vor, eines Tages eine Großbäckerei zu gründen. Mit tiefgekühlten Teigklumpen zum Aufbacken. Igitt.
Auch in einem idyllischen Heidedorf wie Nordergellersen gingen die guten alten Zeiten irgendwann gnadenlos den Bach runter.
»Dann kannst du jetzt fahren«, sagte Grete. »Nimm Opas altes Fahrrad.«
Lieber nicht. Draußen lauerte ein Schatten.
Meine Kiefermuskeln wollten wieder loslegen.
Ich tat, als müsste ich die Kaffeemaschine hypnotisieren.
»Wir sind hier nicht im Luxushotel.« Gretes Stimme bekam einen keifenden Unterton. »Bei uns wird das Frühstück nicht aufs Zimmer geliefert.«
Als ob ich das nicht gewusst hätte. Aber sie hielt es für nötig, mich ungefähr alle drei Minuten daran zu erinnern.
Der Ferienhof Lüttjens war mit meiner alten Arbeitsstelle, dem Münchener Luxushotel Kiefers am Maximilianplatz, nicht zu vergleichen. Im Hotel jedoch war ich eine Angestellte gewesen, hier gehörte mir seit Kurzem die Hälfte von allem. Wobei – das allein hätte vermutlich nicht gereicht, um mich heimzuholen. Opas Anwalt hatte auch seinen Teil dazu beigetragen.
Mein Herz galoppierte an, wie immer, wenn ich an Paul dachte. Paul Liebling, der für seinen Nachnamen echt nichts konnte, der aber jetzt mein Liebling war.
Sein Schatten war das übrigens auch nicht. Den kannte ich, und der duftete auch supergut. Nach Zedern und kanadischem Himmel.
Ja, sogar sein Schatten.
Wer behauptet eigentlich, dass Liebe nur blind macht? Ich finde, sie macht auch blöd im Kopf.
Aber schön blöd.
»Brötchen holen!«, schrie Oma Grete.
Mein Herzensgalopp brach abrupt ab. Ich schaute aus dem Fenster. Weit und...




