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E-Book, Deutsch, Band 13, 124 Seiten

Reihe: Klassiker der Wissenssoziologie

Kauppert Claude Lévi-Strauss

E-Book, Deutsch, Band 13, 124 Seiten

Reihe: Klassiker der Wissenssoziologie

ISBN: 978-3-7445-0033-3
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Kein



Claude Lévi-Strauss (*28.11.1908 Brüssel, † 30.10.2009 Paris) war französischer Ethnologe und Begründer der strukturalen Anthropologie. Seine Arbeiten zu Verwandtschaftsstrukturen, Klassifikationssystemen und Mythen schriftloser Völker haben die Soziologie maßgeblich beeinflusst. Als Ethnologe war er zunächst ein Spätberufener und stand institutionell eher am Rande des französischen Hochschulsystems, bis ihn seine Arbeiten zur strukturalen Anthropologie weltberühmt machten und alle akademischen Weihen einbrachten. Durch seine Neubewertung des Inzesttabus als elementares Vehikel sozialer Allianzbildung wurde Lévi-Strauss zum Begründer des sozialwissenschaftlichen Strukturalismus. Seine Analysen einheimischer Klassifikationssysteme entlarvten den vermeintlichen Abstammungsglauben primitiver Völker vom Tier- und Pflanzenreich als fixe Idee europäischer Forscher. Durch seine Rehabilitierung des mythischen Denkens trug er wesentlich zur Selbstrelativierung neuzeitlich-wissenschaftlicher Vorstellungen bei. Mit dieser Einführung erschließt Michael Kauppert Studierenden die biografischen und institutionellen Quellen der strukturalen Anthropologie und zeigt deren innere Gesamtarchitektur auf. Er skizziert außerdem einen Weg, wie sich die strukturale Analyse von Lévi-Strauss heute noch mit einer Soziologie lebensweltlichen Wissens verbinden lässt.
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II Zur Systematik der strukturalen Anthropologie
Im Begriff, den sich die Eingeborenen vom Gift pflanzlicher Herkunft machen, ist der Abstand zwischen Natur und Kultur, der immer und überall existiert, auf ein Minimum reduziert. Das Rohe und das Gekochte, 1971, S. 62 Im zweiten Teil des Buches geht es um systematische Gesichtspunkte der strukturalen Anthropologie. Der erste Abschnitt behandelt die theoretische Anthropologie von Lévi-Strauss. In deren Zentrum steht die Erkenntnis des Zusammenhangs und der Differenz von Natur und Kultur. Der zweite Abschnitt behandelt die praktische Anthropologie, die sich bei Lévi-Strauss um die vermeintlichen und tatsächlichen Unterschiede zwischen Primitiven und Zivilisierten entwickelt. Im dritten Abschnitt steht die methodologische Kardinalfrage der strukturalen Anthropologie nach dem Verhältnis von Struktur und Sinn im Mittelpunkt. Der vierte Abschnitt stellt eine der methodologischen Innovationen des späteren Lévi-Strauss besonders heraus. Sie besteht darin, die Kunst, sei es die sogenannte primitive oder die moderne, nicht nur zum Gegenstand von Analysen werden zu lassen – ein Genre, das Lévi-Strauss (1995a) meisterlich beherrscht –, sondern in ihr, insbesondere in der Musik, auch ein Mittel zur Analyse von solchen Kulturerscheinungen zu sehen, die auf den ersten Blick nur wenig Künstlerisches an sich haben. Natur und Kultur
Die Differenz von Natur und Kultur spielt für die strukturale Anthropologie eine zentrale Rolle. »Anhand dieses Problems definiert sich aus Sicht ihres Begründers auch das Gebiet, mit dem sich die Ethnologie befasst und aufgrund dessen sie ihre Autonomie im Rahmen der Wissenschaften vom Menschen behaupten darf« (Descola 2008a: 227). Betrachtet man das gesamte Werk von Lévi-Strauss, so lässt sich sagen, dass die Opposition von Natur und Kultur zwar ein zentraler Aspekt ist, aber eben nur ein Aspekt unter mehreren. In erster Linie organisiert die Differenz von Natur und Kultur die theoretische Anthropologie von Lévi-Strauss. Gegenstand seines Erkenntnisinteresses in der theoretischen Anthropologie ist die Natur des menschlichen Geistes (esprit humain). Als Ethnologe ist er dabei auf eine »natürliche« Versuchsanordnung angewiesen: die Vielfalt der Kulturen. Als Anthropologe geht es ihm darum, ein wesentliches Charakteristikum des menschlichen Geistes zu erfassen. Dessen Funktionsweise, davon ist Lévi-Strauss überzeugt, wird sich eines fernen Tages als eine Eigenschaft seines Gehirns herausstellen. Mit Plessner (1975: 32) lässt sich diese Doppelstrategie von Lévi-Strauss als Abarbeitung an zwei Vergleichsreihen verstehen: In der horizontalen Reihe untersucht Lévi-Strauss in vergleichender Absicht solche Kulturformationen, die ihm geeignet erscheinen, an ihnen die Funktionslogik des menschlichen Geistes zu erschließen. Hier ist er Ethnologe. In der vertikalen Reihe geht es ihm um die Einreihung des menschlichen Geistes in einen übergreifenden Zusammenhang kultureller, sozialer und biologischer Entitäten (Kauppert 2008a). Hier ist er Anthropologe. Im Folgenden soll herausgestellt werden, welche hauptsächlichen Untersuchungsgegenstände Lévi-Strauss als Ethnologe gewählt hat, um an ihnen die Funktionsweise des menschlichen Geistes zu demonstrieren. 1 Verwandtschaft
In seinem frühen Buch über Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft will Lévi-Strauss aufzeigen, weshalb sich der »Übergang zwischen Natur zu Kultur […] vorzugsweise auf dem Gebiet des Geschlechtslebens vollziehen muss« (1981: 57). Ausgerechnet dort, wo der Mensch der Kultur am fernsten zu stehen scheint, in seiner Triebnatur, ist für Lévi-Strauss bereits der Keim zu seiner Vergesellschaftung angelegt. »Unter allen Trieben ist der Geschlechtstrieb der einzige, der zu seiner Definition die Stimulation durch den Anderen braucht« (ebd.). Von Natur aus bleibt es allerdings unbestimmt, welcher konkrete Andere dafür infrage kommt. In dieser Situation natürlicher Unbestimmtheit der zum Verkehr miteinander bestimmten Geschlechter liegt es prima facie nahe, den Geschlechtspartner aus den Reihen der eigenen Herkunftsfamilie zu wählen. Doch für das menschliche Paarungsverhalten bleibt genau diese Möglichkeit systematisch ausgeschlossen: Überall ist der Inzest zwischen nahen Verwandten tabuisiert. Sieht man sich nun an, wie Lévi-Strauss dieses Phänomen gedeutet hat, stößt man auf zwei Interpretationslinien. In der ersten Variante, der konzeptionellen Begründung, stellt das Inzesttabu für Lévi-Strauss eine Konvergenz von Natur und Kultur6 dar: beide Sphären scheinen hier zusammenzufallen. In der zweiten Variante, der explikativen Durchführung, lässt sich hingegen ein prototypisches Modell für die Emergenz von Kultur erkennen: Das Inzesttabu scheint eine Entwicklung der Kultur in Gang zu setzen, die sich dadurch qualitativ von einem Naturzustand unterscheidet und auf diesen nicht mehr zurückzuführen ist. Die erste Variante folgt der Deutung, die Lévi-Strauss diesem Phänomen in der Einleitung seines Buches selbst gegeben hat. Natur und Kultur konvergieren seiner Ansicht nach nicht empirisch, sondern begrifflich. Zu dem Mittel einer »ideellen Analyse« (ebd.: 52) hatte Lévi-Strauss aus reiner Not gegriffen. Auf empirischem Wege ließ sich der Übergang von der Natur zur Kultur im Menschen nicht lokalisieren. Weder Wolfsmenschen noch Menschenaffen gaben es seiner Ansicht nach her, in ihnen »Verhaltenstypen vorkultureller Art zu finden« (ebd.: 48). Daher schien nur eine Begriffsdefinition weiterzuhelfen (ebd.: 52): »Halten wir also fest, dass alles, was beim Menschen universal ist, zur Ordnung der Natur gehört und sich durch Spontaneität auszeichnet, und dass alles, was einer Norm unterliegt, zur Kultur gehört und die Eigenschaften des Relativen und Besonderen aufweist.« Das Inzesttabu erwies sich für Lévi-Strauss als ein Phänomen, das beiden Ordnungen angehörte. Es war wie andere Naturphänomene universal verbreitet und besaß die verhaltensregulierende Kraft einer kulturellen Norm. Das machte das Verständnis des Tabus in der Folge jedoch keineswegs leichter, denn: »Das Inzestverbot (ist) gleichzeitig an der Schwelle zur Kultur, in der Kultur und, in gewissem Sinne die Kultur selbst« (ebd.: 57). Es drängte sich die Frage auf, wie es möglich sein sollte, dass das Verbot bestimmter Sexualkontakte sowohl die Pforte zur Kultur als auch deren Fenster zur Natur war. Offenbar hing es von der Perspektive ab, mit der man auf das Inzesttabu zu blicken bereit war. Aus Sicht einer bereits konstituierten Kultur konnte die Tabuisierung bestimmter Sexualkontakte nur als deren eigene Leistung verstanden werden. Das Inzesttabu war insofern der vollkommene Ausdruck der Kultur, als sich diese hierüber in allen Teilen der Welt, ohne Unterschied der einzelnen Gesellschaften, als eine unumstößliche Ordnung von Regeln geltend machen konnte. Aus der Perspektive einer natürlichen Evolution verhielt es sich jedoch genau umgekehrt. Denn hier konnte von Kultur noch längst keine Rede sein, vielmehr sollte für Lévi-Strauss über das Inzesttabu ja erst der Zugang zur Kultur geebnet werden. Und genau in dieser Hinsicht lässt sich das Inzesttabu nun als ein Modell einer kulturellen Autokatalyse verstehen: Sie setzt sich dadurch selbst in Gang. Denn im Bereich seiner Sexualität besaß der Mensch von Natur aus eine gewisse Plastizität, d.h. er war formbar. Zwar war er zum Geschlechtsverkehr bestimmt, seine konkrete Partnerwahl jedoch blieb dabei unbestimmt. Der menschliche Geschlechtsverkehr konnte demnach nicht mehr das sein, was er für Lévi-Strauss bei den Menschenaffen noch selbstverständlich zu sein schien: spontan.7 Beim Menschen produzierte das Verhältnis von Determination und Indeterminiertheit eine natürliche Ungewissheit im Sexualverhalten. Es fehlt hier an hinreichenden Instinkten. Das aber legt es nahe, die natürliche Unbestimmtheit der Partnerwahl auf anderem Wege in Bestimmtheit zu überführen. Da die Natur für diese regulative Funktion ausfiel, blieb nur die Kultur übrig. Es war die Sexualität, die ein Anschauungsbeispiel dafür lieferte, wie aus dem »noch nicht festgestellten Tier« (Nietzsche) ein kulturell identifizierbarer Gatte wurde. Damit hatte Lévi-Strauss faktisch den Boden bereitet für ein Theorem der Emergenz, das er sich selbst zuweilen als eine Arbeitsteilung vorstellte: »Die Natur zwingt zur Allianz, ohne sie näher zu bestimmen; und die Kultur nimmt sie auf, um sogleich ihre Modalitäten zu definieren« (ebd.: 80). Dennoch ließ er keinen Zweifel daran, dass Kultur in einem Bereich Ordnung und Organisation einführte, der von Natur aus dem Zufall und der Willkür überlassen wurde (ebd.: 81). In seiner Gestalt des Inzesttabus verstand Lévi-Strauss die Kultur als Lösung einer Unbestimmtheitsrelation von Sexualpartnern. Mit ihrer Hilfe konnten die natürlichen Ungewissheiten zwischen den Geschlechtern weitgehend absorbiert werden. »Kultur« machte sich dabei nicht...


Michael Kauppert ist Juniorprofessor für Kultursoziologie an der Stiftung Universität Hildesheim.


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