Keener Schwimmen in der Nacht
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-406-65940-9
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 335 Seiten
ISBN: 978-3-406-65940-9
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In diesem Roman, an dem Jessica Keener 18 Jahre lang geschrieben hat, erzählt sie bewegend und in einer schönen, atmosphärisch dichten Sprache von einer durch ein tragisches Unglück heimgesuchten Familie, von der Sehnsucht, der Einsamkeit zu entkommen, und dem Aufbruch ins Leben. In der Rückschau erzählt die Hauptfigur Sarah Kunitz von den 70er-Jahren. Sarah ist fünfzehn und lebt mit ihrer jüdischen Familie in einer wohlhabenden Vorstadt von Boston. Ihr Vater Leonhard unterrichtet englische Literatur, die Mutter Irene, eine ätherische Gestalt, ist für ihre vier Kinder nie so ganz greifbar. Beide Eltern trinken gern und zu viel. Bildung wird großgeschrieben, Gehorsam ebenso. Regelmäßig stattfindende Dinner-Partys, Country-Club-Bekanntschaften und der herrliche Rosengarten beschwören den Schein eines glücklichen Lebens, können aber nicht über die Probleme in der Familie hinwegtäuschen. Die Ehe der Kunitz’, belastet von den cholerischen Ausbrüchen des Vaters und den Depressionen der Mutter, ist ein zuweilen liebevolles, aber explosives Gemisch. Die Kinder suchen in Musik, Literatur und Phantasiewelten Schutz. Als die Mutter bei einem ungeklärten Autounfall ums Leben kommt, drohen Vater und Kinder an diesem Verlust zu zerbrechen. Doch das Leben setzt sich durch. Sarah erlebt ihre erste Liebe und zunehmend befreien sich die Kinder aus der Isolation und der Umklammerung durch ihren Vater. Ein berührender und mit traumähnlichen Bildern durchzogener Roman über die Liebe und das Überleben.
Weitere Infos & Material
1. Kapitel
Der Esstisch
Aufgewachsen bin ich in Soquaset, Massachusetts, in einem Haus mit sechs Schlafzimmern. Der Name unserer Stadt wurde von allen immer falsch geschrieben. Auf den Briefen, die wir bekamen, stand Soquashit oder Sacquatics oder Socket. Und Massachusetts verleitete immer zu einem «s» zu viel und einem «t» zu wenig. Unsere Stadt lag sieben Meilen vom Atlantik entfernt, mit dem Auto war man schnell am Wasser, aber bis in das nördlich gelegene Boston dauerte es eine gute Stunde. In den 50ern und 60ern boomte die Stadt und wurde für ihr hervorragendes Schulsystem und die luxuriösen Wohngegenden bekannt. Seit meinem siebten Geburtstag erlaubte mir meine Mutter – ich war die einzige Tochter und Zweitälteste von vier Geschwistern –, ohne Begleitung eines Erwachsenen zum Soquaset-Platz laufen zu dürfen. Unser blaues Schindelhaus hatte Schrägen in den Schlafzimmern unterm Dach, wo mein ältester und mein jüngster Bruder schliefen, Fensterbänke in den Wohnzimmern, und Schränke, die vollgestopft waren mit Mutters Kleidern, hochhackigen Schuhen und Schuhanziehern aus Zedernholz. Die Nachbarn bewunderten unser Haus für die Buntglasfenster in Höhe des ersten Treppenabsatzes und auch für die im Esszimmer, die nach Westen hin wiesen. Wenn es Zeit fürs Abendessen war, und die Sonne aus dem Vorgarten verschwand, legte sich ein zarter orangefarbener Schatten auf meinen Teller. «Ist jemand zu Hause? Hallo? Jemand zu Hause?» Unter der Woche kam Vater abends um viertel vor sechs die Einfahrt hoch gestapft, öffnete mit einem Schwung die Küchentür und brüllte zur Begrüßung durchs ganze Haus, als erwartete er, es menschenleer und völlig ausgeräumt vorzufinden. Er war ordentlicher Professor an einem kleinen Privat-College, und zwischen Vorlesungspult und Speisekammer änderte er selten den Ton. Professor Leonard Kunitz wäre nicht im Traum eingefallen, dass es da vielleicht einen Unterschied geben könnte. «Hallo? Irene! Ich bin da!» Mit einem entschlossenen Rums fiel die Küchentür zu. «Irene?» «Leonard, ich komme.» In weichem Kontrast zu ihm kam Mutter für einen gemeinsamen Drink vor dem Abendessen aus dem Schlafzimmer nach unten geschwebt. Sie bewegte sich schwerelos, eine Nebenwirkung ihrer Schmerztabletten; der, die sie dreimal täglich einnahm. Als die beiden zusammen im Herrenzimmer saßen, stürzte Vater einen doppelten Wodka die Kehle hinunter, wohingegen Mutter einen Scotch mit einem Spritzer Limette und einem Eiswürfel trank. Sie nahm mittelgroße Schlucke. Umrahmt vom Bogen der Erkerfenster, durch die man einen großartigen Blick auf den Garten hinterm Haus hatte, saßen sie in geblümten Sesseln und rauchten. Das Abendessen dauerte normalerweise genau zwanzig Minuten – ein hektisches Hinunterschlingen von Vorspeise und Hauptgang. «Es gibt noch mehr Hühnchen in der Küche», sagte Mutter. «Luanne? Bring doch alles, was noch da ist!» Luanne war unser schwarzes Hausmädchen aus Haiti. Vater saß an der Stirnseite und schlang das Essen wie ein ausgehungertes Kind hinunter, während er mit raschem Blick noch das geringste Fehlverhalten jedes Einzelnen um ihn herum erfasste. Er hatte schmale Schultern, einen leichten Bauchansatz, trug die Hemden locker in die Hose gesteckt, dazu Jacketts, Schlips und zerknitterte Cordhosen, die ihn von Mutters tadellosem Erscheinungsbild und dem ihrer Country-Club-Gefolgschaft unterschieden. «Leonard, es ist noch reichlich Reis da.» Ihm gegenüber saß Mutter, gespannt wie ein Violinenbogen, mit dem Rücken zur Küche. Wir Kinder saßen jeweils zu zweit an den Tischseiten. Mutter trug ihre blond gefärbten Haare kurz, gelegt wie Rosenblätter, ihre Lieblingsblumen. So hübsch zurechtgemacht in ihrem Zweiteiler mit dazu passendem Tuch sah sie formvollendet aus wie eine Glasvase, immer edel, selbst dann, wenn sie mit weiten Hosen aus dem Garten kam, noch mit Dreck und Dornen an den Handschuhen. «Du kannst jetzt den Kaffee machen», sagte Mutter, als Luanne das übrige Huhn und eine abgedeckte Schüssel Reis hereinbrachte und auf den Tisch stellte. «Was gibt es zum Nachtisch, Irene?», fragte Vater. «Cookies.» Mutter hatte ihre kleinen Besonderheiten – zierliche Handgelenke und schlanke Waden, die sie bei Partys gern in Szene setzte – und die größte Schuhsammlung weit und breit. Auf ihrer Seite der Familie gab es Großvater Joe, der ein erfolgreiches Schuhunternehmen aufgebaut hatte, das von meinem Onkel übernommen worden war, der es jetzt leitete. Mutter war stille Teilhaberin und der Grund, weshalb andere Leute sagten, wir seien reich. Unsere Straße war nicht sehr lang, und uns gegenüber wohnte Mrs Brenwald, eine ältere Dame, die nie einen Fuß vor die Tür setzte. Samstags kam immer ein Junge vom Stadtmarkt, der ihr die Einkäufe lieferte und auf die Veranda vorm Haus stellte. Wenn ich abends nichts zu tun hatte, hockte ich mich auf den Boden vorm Wohnzimmerfenster und wartete darauf, dass sie hinter einer ihrer Gardinen auftauchte. Hatte sie ein Geheimnis zu verbergen? Etwas Grauenvolles aus der Vergangenheit? Mein jüngerer Bruder Robert hielt sie für eine Hexe, aber ich war überzeugt, dass sie in einer Welt zwischen Himmel und Erde schwebte – ein harmloser Geist war, ein verirrter Engel. Der einzige Beweis dafür, dass Mrs Brenwald einst ein Leben außerhalb des Hauses geführt haben musste, stand in ihrer Einfahrt: ein alter Ford, verhüllt von einer Plane, fest verankert auf völlig aus der Puste geratenen Reifen, ausgequetscht von den stetig vergehenden Jahreszeiten. Vater hatte mehr als einmal bei der Polizei angerufen, um das Auto abholen zu lassen. «Schrotthaufen» nannte er ihn, aber selbst gegen Vater war der Wagen immun. Das bestätigte mir, dass Mrs Brenwald vor vielen Jahren eine Grundsatzentscheidung getroffen und ihr Leben in seine jetzige Form gezwungen hatte. Ich fand die Vorstellung rätselhaft und reizvoll zugleich. Das eigene Schicksal zu formen, erschien mir gewaltig, als würde man einen Tunnel durch einen Berg sprengen, um auf die andere Seite zu gelangen. Aber genau genommen war es das, was ich tun wollte. Ich möchte glauben, dass auch Mutter das gewollt hatte, einen Weg zu wählen, der anders und selbst für sie unerwartet war. ~~~~~~~~~~~ «Sarah, bitte geh und hol mir Die Gesammelten Werke», sagte Vater. Das letzte Stück Hühnerbrust im Mund, schwang er die Gabel wie ein Schwert und stocherte damit in der Luft herum. Ich lief durch die Zimmer über ausgelegtes Grün, das dem der abgemähten Rasenflächen im Country Club glich, zu dem wir gehörten. Im Herrenzimmer im Keller, das eine eingebaute Bar hatte, fand ich den Shakespeare in einem der Bücherregale hinter einem Kinderfoto von Vater. Seine dichten Haare fielen ihm in Ringellocken auf die Schultern, die weiße Schürze – zur damaligen Zeit ein beliebtes Kleidungsstück für Kinder – säumte seine Fußknöchel. Meine Urgroßmutter, Sarah Davida, stand auch gerahmt da auf dem Regalbrett und starrte mich aus ihrem kleinen russischen Dorf an. Ihr Name, den ich geerbt habe, bedeutete auf Hebräisch «geliebte Prinzessin». Sie hatte ein Opernstar werden wollen, aber das war ein absurder Traum für ein armes jüdisches Bauernmädchen. Stattdessen hatte sie Kühe gemolken und einen Lehrer aus dem alten Land geheiratet, einen stillen, gebildeten Mann, der sich tagein, tagaus über die Thora beugte. Ich starrte ihr Foto an und fragte mich, wie es sich angefühlt hatte, diesen Traum aufzugeben; vor einer Gebirgswand zu stehen, darüber der wunderschöne Himmel, und einzusehen, dass sie sich umdrehen und in ein kleines schmuddeliges Dorf zurückkehren musste. Ein solches Schicksal wollte ich mir ersparen. Sie hatte in der Schul gesungen. Sie hatte bei der Hausarbeit gesungen, damit sie ihr leichter von der Hand ging, sie hatte für ihre fünf Kinder vor dem Schlafengehen gesungen; sie hatte in ihren Kindern einen musikalischen Samen gepflanzt, der jetzt auch in mir wuchs. Somewhere over the rainbow, way up high – Judy Garlands Stimme stieg mir in den Kopf, als ich den Blick über die aufgestellten Familienfotos gleiten ließ. Ein Stückchen weiter auf dem Regalbrett stand Vaters Mutter mit dem kantigen Gesicht und schaute mich müde an. Sie war gestorben, als ich noch zu klein war, um mich später an sie erinnern zu können, eine Erkältung hatte sich zu einer Lungenentzündung ausgewachsen. Vater erzählte uns, sie wäre manchmal melancholisch gewesen, hätte dunkle Phasen gehabt, in denen sie die Jalousien immer geschlossen hielt. In ihrer Wohnung in Brooklyn hatte sie den Tee auf einem Sofa «in der Farbe von Flamingos» eingenommen! An besseren Tagen hatte sich etwas in ihr verschoben, sagte er – dann war sie die Sonne, die den Frühstückstisch erwärmte –, und rasch füllte sich das Haus mit Freundinnen aus ihrer Frauenvereinigung, den Leuten aus der Synagoge und den Kuchenbasar-Damen. Der Geruch nach Zimt und Kaffee stand bei ihm zu Hause für gute Zeiten. Vielleicht war es...