E-Book, Deutsch, Band 7, 194 Seiten, Format (B × H): 120 mm x 185 mm
Keller Michel Foucault
2. überarbeitete Auflage 2023
ISBN: 978-3-7445-2075-1
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 7, 194 Seiten, Format (B × H): 120 mm x 185 mm
Reihe: Klassiker der Wissenssoziologie
ISBN: 978-3-7445-2075-1
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Reiner Keller ist Professor für Soziologie an der Universität Augsburg.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Vorwort zur zweiten Auflage
I. 'Der Philosoph Foucault spricht. Denken Sie.'
II. Leben und Zeitkontext
III. Hintergründe einer kritischen Geschichte des Denkens
Ein 'Philosoph im Geiste der Soziologie'?
Anders denken
Wahlgegner und Wahlverwandte
Foucault, der glückliche nietzscheanische Positivist
Wahrheitsspiele
Historische Subjektivierungsweisen
Regime von Praktiken – die Freiheit der Menschen
IV. Blick in die Werkzeugkiste
Vorgehensweisen einer interpretativen Analytik
Die Untersuchung von Problematisierungen
Analysebegriffe
V. Historische Wissenssoziologie der Subjektivierungen
Irre sein – vernünftig sein
'Öffnen Sie einige Leichen'
Die Humanwissenschaften und der endliche Mensch
Disziplinierung der Körper
Ein sexuelles Wesen?
Regieren der Bevölkerungen
Technologien des Selbst
VI.Die Aktualität Foucaults
VII.Literatur
Primärliteratur
Bücher
Herausgeberbände
Vorlesungen am Collège de France
Aufsätze, Interviews,Vorträge
Weiterführende Literatur
Sekundärliteratur
Zeittafel
Sachregister
Personenregister
II.Leben und Zeitkontext
Vielleicht lässt sich, wie Didier Eribon schreibt, Foucaults Leben und Werk durch einen Satz des französischen Poeten René Char begreifen, mit dem er Anfang der 1960er-Jahre die französische Originalausgabe seiner Habilitationsschrift über die einleitete: »Entwickelt eure rechtmäßige Fremdheit« (ERIBON 1991: 13; hier zit. nach FOUCAULT 2001g; vgl. CHAR 1983). Diese Aufforderung wäre demnach, in all ihren Schattierungen, Prinzip seiner eigenen Lebensführung, seiner intellektuellen Anstrengungen, seiner empirischen Sensibilität und seines politischen Engagements. Beginnen wir zunächst mit dem Lebensweg.7 Foucault gab verschiedentlich zur Auskunft, er interessiere sich in seiner wissenschaftlichen Arbeit für Dinge, die mit seinem Leben zu tun hätten, die ihn in je unterschiedlicher Weise und aus ebenso unterschiedlichen Gründen berührten:
»Wenn ich mich an eine theoretische Arbeit gemacht habe, geschah das stets auf der Basis meiner eigenen Erfahrung und im Zusammenhang mit Prozessen, die vor meinen Augen abliefen. Weil ich in den Dingen, die ich sah, in den Institutionen, mit denen ich zu tun hatte, und in meinen Beziehungen zu anderen Risse, versteckte Erschütterungen oder Dysfunktionen zu erkennen glaubte, begann ich mit Arbeiten, die gleichsam Fragmente einer Autobiographie darstellten« (FOUCAULT 2005b: 223).
Das gilt etwa für die Medizin. Paul-Michel Foucault wird am 15. Oktober 1926 in der französischen Kleinstadt Poitiers als zweites Kind einer großbürgerlichen, wohlhabenden Medizinerfamilie geboren. Sein Vater, Paul-André Foucault, war ein lokal angesehener Chirurg und lehrender Anatom; bereits der Großvater und auch schon der Urgroßvater arbeiteten als Ärzte. Seine Mutter stammte ihrerseits aus einer Chirurgenfamilie und hätte gerne Medizin studiert. Foucaults Kindheit und Jugend in Poitiers stehen, nach einigen sorgenfreien Jahren, unter dem Eindruck des drohenden Krieges und des Einmarsches deutscher Soldaten. Foucaults Philosophielehrer wird wegen Beteiligung am Widerstand deportiert, das schulische Leben insgesamt leidet unter der Besatzung, zuletzt wird Poitiers 1944 von den Alliierten bombardiert. Foucault absolviert trotz der Kriegswirren eine überwiegend von Auszeichnungen begleitete Schulkarriere. Gegen die Erwartungen insbesondere des Vaters, der Sohn möge danach ebenfalls eine Medizinerlaufbahn einschlagen, entscheidet er sich 1943 für das Philosophiestudium an der in Paris. Dem liegt kein bewusstes Interesse an der Philosophie zugrunde, sondern die Faszination an der Möglichkeit, sich in einem geschützten intellektuellen Milieu mit ›Wissen‹ beschäftigen zu können (vgl. FOUCAULT 2005a: 646). Dafür wählt er den geeigneten Ort. Es handelt sich um die berühmte , die Ausbildungsstätte der männlichen intellektuellen Elite Frankreichs, gegründet 1794, ein Produkt der französischen Revolution. Die ist die Renommierteste der prestigeträchtigen , zu denen auch die , die oder die gehören. Diese Hochschulen sind von den Universitäten unabhängig und unterstehen direkt den verschiedenen Ministerien. Sie haben ausgezeichnete Studienbedingungen sowie eigene Studiengänge und Abschlüsse. Jedes Jahr werden nur wenige ausgewählte Studierende zugelassen, die zuvor in einem Aufnahmewettbewerb (›Concours‹) ihre Leistungen unter Beweis stellen müssen. Nach ihrer Aufnahme stellt die eine Unterkunft, und die Studierenden erhalten als ›Beamte auf Widerruf‹ ein Gehalt. Aus ihnen rekrutieren sich die Führungseliten des Landes. Die Schulen pflegen den Korpsgeist, einen spezifischen Habitus und die Beziehungen zu ›Ehemaligen‹. Ihr erfolgreicher Abschluss kommt einer äußerst wirkungsvollen Karriereempfehlung gleich (SCHWIBS 1991: 503). Die Absolventen der werden als bezeichnet. Dazu gehörten neben Foucault auch Soziologen wie Raymond Aron, Pierre Bourdieu, Raymond Boudon, Émile Durkheim, Jean-Claude Passeron oder Alain Touraine, Philosophen wie Jacques Derrida, Gilles Deleuze, Georges Canguilhem, Jean-François Lyotard, Maurice Merleau-Ponty oder Jean-Paul Sartre und viele andere mehr (SCHWIBS 1991; vgl. BOURDIEU 2004).
Der Schritt aus der französischen Provinz an die Pariser Elitehochschule ist selten einfach. Nur wenigen gelingt der große Sprung; Foucault ist zunächst nicht darunter. Nach einem ersten Scheitern an der Aufnahmeprüfung verlässt er im Herbst 1945 Poitiers und schreibt sich in die Vorbereitungsklasse am berühmten Pariser Gymnasium ein. Als sich Foucault dem Wettbewerb zum zweiten Mal stellt, vergibt die insgesamt 38 Plätze für Geisteswissenschaften; allein im Pariser konkurrieren 50 Schüler (ERIBON 1991: 39ff.). Foucault schafft nun nicht nur die Prüfung, die Zeit am sollte auch in anderer Hinsicht für ihn wichtig werden: Hier lernt er den Philosophen und Hegelspezialisten Jean Hyppolite kennen, der für seine spätere Karriere von entscheidender Bedeutung sein wird, dessen Nachfolger am er 1970 werden und dem er seine dortige Antrittsvorlesung widmen wird (ERIBON 1991: 42). Hyppolites Vorlesungen über die des deutschen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel hinterlassen bei Foucault einen nachhaltigen Eindruck, obwohl Hyppolite nur zwei Monate am unterrichtet und dann an die Universität Straßburg gerufen wird. Sie wecken seine Begeisterung für die Philosophie, für eine Disziplin also, deren Wertschätzung in der französischen Nachkriegsöffentlichkeit kaum hoch genug angesetzt werden kann. Dafür war der Kult um Jean-Paul Sartre der deutlichste Indikator. Durch Hyppolites Übersetzung und Kommentierung der mitbefördert, erlebt das philosophische Frankreich einen Triumphzug des ›Hegelianismus‹. Hegel wird seit Ende des Krieges als »Begründer der philosophischen Moderne« (ERIBON 1991: 46) gelesen und bereitet die wenig später einsetzende Begeisterung für den Marxismus vor. Um die Schlüsselrolle von Hyppolite und weiteren, später wichtigen Personen – vor allem Georges Canguilhem, Georges Dumézil und Jules Vuillemin – für Foucaults Karriere einschätzen zu können, ist ein Blick auf die Funktionsweise des französischen akademischen Feldes hilfreich (BOURDIEU 2004). Die hohe Konzentration der intellektuellen Eliten an einem Ort – Paris – und die hierarchische Struktur des französischen Bildungswesens mit seinen Eliteinstitutionen schaffen institutionelle Schlüsselpositionen, deren Inhaber durch Prüfungen und Empfehlungsschreiben über zahlreiche wissenschaftliche und intellektuelle Schicksale entscheiden.
Nicolaus Sombart beschreibt diese Konstellation literarisch-soziologisch für die frühen 1950er-Jahre als clanartiges
»Kartell ›Literatur und Philosophie‹ […] ein geschlossener Regelkreis mit eigenen Funktionen, ohne Zentrum und Spitze, mit einer erbarmungslosen Hackordnung, seinem subtilen Protokoll und seinen Ritualen […] angesiedelt zwischen Universität, Verlagen, Zeitschriften, Académie Française […] und einer Reihe von Salons […] Soziologisch eine Gruppe flukturierend in ihrer Zusammensetzung, aber mit genauen Zugehörigkeitskriterien, ein Club – so exklusiv wie der Jockeyclub, ein ›network‹. […] Der Clan [eine Bezeichnung von Jean-Paul Aron, Anm. RK] rekrutiert sich aus allen Schichten der Bevölkerung. Der Sohn eines kleinen Schullehrers aus der Provinz, der Industriellensohn aus dem Norden […], der Sohn eines Offiziers aus Besançon, eines Magistrats […] Schulbildungen, Cliquen, Bettgeschichten, Filiationen, ideologische Kämpfe, philosophische Kontroversen, Intrigen, Rivalitäten, Todfeindschaften, Exkommunikationen, Heiligsprechungen, Verschwörungen, Flüsterkampagnen: […] in diesem Klima, in dieser hochgeladenen Atmosphäre wird darüber befunden, was veröffentlicht wird und was nicht, welche Ideen diskutiert werden und welche nicht, wer welchen Preis und welchen Posten und welche Kritik bekommen wird und wer nicht. Hier werden die geistigen Moden lanciert« (SOMBART 1995: 217f.; vgl. ARON 1984).
Ein kleines Beispiel aus dem Leben Foucaults: Sein Vater operierte in Poitiers den Regierungsbeamten Jean Piel und den Maler André Masson; sie hatten zwei von vier Schwestern geheiratet; die dritte war mit Georges Bataille verehelicht und heiratete später Jacques Lacan. 1962 bittet Piel Foucault, die Herausgeberschaft der von Bataille gegründeten Zeitschrift mit zu übernehmen; Foucault wird dann auch dessen gesammelte Werke herausgeben (MACEY 1993: 16).
Bei der nunmehr bestandenen Aufnahmeprüfung an der...




