E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Kemelman Am Freitag schlief der Rabbi lang
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-293-30908-1
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman. Durch die Woche mit Rabbi Small (Der erste Fall)
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Reihe: Durch die Woche mit Rabbi Small
ISBN: 978-3-293-30908-1
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
An einem Freitag wird die Leiche einer jungen Frau entdeckt. Sie war Kindermädchen und, wie bei der Obduktion festgestellt wird, schwanger. Wurde sie deshalb ermordet? Bald verhaftet die Polizei einen Verdächtigen. Doch Rabbi David Small glaubt nicht an dessen Schuld. Er überzeugt Polizeichef Lanigan, macht sich damit aber selbst verdächtig. Denn unter den Fenstern seiner Synagoge geschah der Mord, und in seinem Wagen wurde die Handtasche der Toten gefunden.
Der erste Fall für den legendären Rabbi und Amateurdetektiv David Small.
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1
Sie saßen im Betsaal und warteten. Neun Männer, die auf den zehnten warteten, um den Morgengottesdienst beginnen zu können. Jacob Wasserman, der bejahrte Gemeindevorsteher, hatte die Gebetsriemen bereits befestigt. Der junge Rabbi David Small war gerade eingetroffen, zog den linken Arm aus der Jacke und rollte den Hemdsärmel bis zur Achsel hoch. Er legte die kleine schwarze Kapsel mit den Thorastellen auf den linken Oberarm gegenüber dem Herzen, wickelte den einen Gebetsriemen siebenmal um den Unterarm, dreimal um den Handteller – das bedeutet den ersten Buchstaben vom Namen des Herrn – und schließlich um den Mittelfinger, als Symbol für den Bund mit Gott. Nun befestigte er den zweiten Gebetsriemen mit der Kapsel an der Stirn; zusammen mit dem ersten gilt das als buchstäbliche Erfüllung des biblischen Gebotes: Und sollst die Worte Gottes binden zum Zeichen auf deine Hand, und sollen dir ein Denkmal vor deinen Augen sein. Die anderen, die mit Fransen besetzte seidene Gebettücher und schwarze Käppchen trugen, saßen in Gruppen herum und unterhielten sich. Von Zeit zu Zeit verglichen sie ihre Armbanduhren mit der runden Wanduhr. Der Rabbi war jetzt für das Morgengebet bereit und schlenderte den Mittelgang auf und ab, nicht ungeduldig, eher wie ein Reisender, der zu früh auf den Bahnhof gekommen ist. Gesprächsfetzen drangen an sein Ohr: Geschäftliches, Familie und Kinder, Urlaubspläne, die Chancen einer Baseballmannschaft wurden erörtert. Nicht gerade passende Themen, wenn man beten will, dachte er und wies sich sofort zurecht. War nicht übertriebene Frömmigkeit gleichfalls Sünde? Sollte der Mensch nicht die guten Dinge dieses Lebens genießen – die Freuden, die ihm Familie, Arbeit und das anschließende Ruhen bereiten? Er war noch sehr jung, knapp dreißig, und selbstkritisch, sodass er ständig Fragen aufwarf und diese wiederum infrage stellte. Wasserman war hinausgegangen und kam jetzt zurück. »Ich habe eben bei Abe Reich angerufen. Er ist in etwa zehn Minuten hier, hat er gesagt.« Ben Schwarz, ein kleiner, rundlicher Mann in mittleren Jahren, sprang auf. »Mir reichts«, murrte er. »Wenn ich diesem Reich noch dankbar sein muss, dass wir mit ihm den minjen zusammenkriegen, bete ich lieber zu Hause.« Wasserman eilte ihm nach und holte ihn am Ende des Ganges ein. »Du willst uns doch jetzt nicht etwa sitzen lassen, Ben? Dann sind wir ja wieder nur neun, auch mit Reich.« »Tut mir leid, Jacob«, sagte Schwarz steif, »ich habe eine wichtige Verabredung und muss weg.« Wasserman hob die Hände. »Du bist doch extra hergekommen, um den Kaddisch für deinen Vater zu sagen. Wieso hast du es da plötzlich so eilig mit deiner Verabredung, dass du nicht mal die paar Minuten warten kannst, um für deinen toten Vater zu beten?« Wasserman war Mitte sechzig und somit älter als die meisten Gemeindemitglieder. Er hatte einen leisen Akzent, der sich vor allem in seinen Bemühungen um eine besonders korrekte Aussprache äußerte. Er merkte, dass Schwarz mit sich rang. »Übrigens hab ich selber heute Kaddisch, Ben.« »Schon gut, Jacob, hör mit der Seelenmassage auf. Ich bleibe.« Er grinste sogar. Wasserman hatte noch etwas auf dem Herzen. »Warum bist du denn so wütend auf Abe Reich? Ihr seid doch immer gute Freunde gewesen.« Schwarz gab bereitwillig Auskunft. »Ich werd dir sagen, wieso. Letzte Woche …« Wasserman wehrte ab. »Du meinst die Geschichte mit dem Auto? Von der hab ich schon gehört. Wenn du glaubst, er schuldet dir Geld, verklag ihn eben, dann hast dus hinter dir.« »Einen solchen Fall bringt man nicht vor Gericht.« »Dann seht zu, wie ihr sonst klarkommt. Aber wenn zwei prominente Gemeindemitglieder noch nicht mal im gleichen minjen sein wollen, ist das einfach eine Schande.« »Sieh mal, Jacob …« »Was stellst du dir eigentlich vor, wozu die Synagoge in einer Gemeinde wie unserer da ist? Hier sollten die Juden ihre Streitigkeiten vergessen.« Er winkte den Rabbi heran. »Ich hab gerade zu Ben gesagt, die Synagoge ist eine heilige Stätte, und alle Juden, die sie aufsuchen, sollten hier ihren Frieden miteinander machen und ihre Differenzen beilegen. Das ist vielleicht sogar noch wichtiger als das Beten. Was meinen Sie, Rabbi?« Der junge Rabbi sah unsicher von einem zum anderen. Er errötete. »Ich fürchte, ich kann Ihnen da nicht beipflichten, Mr Wasserman«, erklärte er. »Die Synagoge ist in dem Sinn keine heilige Stätte. Der Tempel in Jerusalem war es natürlich, aber eine Gemeindesynagoge wie die unsere ist nichts weiter als ein Gebäude, das für Gebete und Studien bestimmt ist. Heilig kann man sie wohl nur insofern nennen, als jedem Ort, wo sich Menschen zum Gebet zusammenfinden, diese Bezeichnung zukommt. Aber nach der Tradition obliegt es nicht der Synagoge, Zwistigkeiten zu schlichten, sondern dem Rabbi.« Schwarz schwieg. Er fand es unpassend, dass der junge Rabbiner dem Gemeindevorsteher so offen widersprach. Wasserman war immerhin sein Vorgesetzter und hätte den Jahren nach sein Vater sein können. Doch Jacob nahm es ihm offenbar nicht übel, im Gegenteil. Augenzwinkernd wandte er sich an den Rabbi: »Was würden Sie also vorschlagen, Rabbi, wenn sich zwei Gemeindemitglieder streiten?« Der junge Mann lächelte flüchtig. »Tja, in alten Zeiten hätte ich einen din-tojre vorgeschlagen.« »Was ist denn das?«, erkundigte sich Schwarz. »Eine Verhandlung, ein Urteilsspruch«, erklärte der Rabbi. »Übrigens gehörte das zu den Hauptaufgaben des Rabbiners – zu Gericht zu sitzen. Früher wurde der Rabbiner in den europäischen Ghettos nicht von der Gemeinde, sondern von der Stadt angestellt, und zwar nicht als Leiter des Gottesdienstes oder als Oberhaupt der Gemeinde. Er hatte vielmehr über die Fälle zu Gericht zu sitzen, die ihm vorgetragen wurden, und sein Urteil in juristischen Fragen abzugeben.« »Und wie hat er seine Entscheidungen gefällt?«, fragte Schwarz unwillkürlich interessiert. »Wie jeder Richter hat er sich den Fall angehört, manchmal allein, manchmal zusammen mit ein paar gelehrten Männern aus dem Dorf. Er stellte Fragen, verhörte Zeugen, falls notwendig, und fällte dann nach dem Talmud sein Urteil.« »Damit kämen wir wohl kaum weiter, fürchte ich«, meinte Schwarz lächelnd. »Hier handelt es sich nämlich um ein Auto. Und mit Autos befasst sich der Talmud doch sicher nicht.« »Der Talmud befasst sich mit allem«, erklärte der Rabbi entschieden. »Aber Autos?« »Selbstverständlich ist im Talmud nicht von Autos die Rede, aber von Schadensfällen und Schadenersatzpflicht. Bestimmte Gegebenheiten sind zwar in jeder Zeit verschieden, die allgemeinen Grundsätze jedoch nicht.« »Na, Ben, bist du einverstanden, deinen Fall vor den Rabbi zu bringen?«, fragte Wasserman. »Von mir aus kann die ganze Gemeinde erfahren, was Abe Reich für ein ganew ist.« »Ich meine das ganz im Ernst, Ben. Ihr seid beide im Vorstand. Und ihr habt beide ich weiß nicht wie viele Stunden für die Gemeinde geopfert. Warum willst du dann einen Streitfall nicht nach altem jüdischen Brauch bereinigen?« Schwarz zuckte die Achseln. »Von mir aus.« »Wie stehts mit Ihnen, Rabbi? Wären Sie bereit?« »Wenn Mr Reich und Mr Schwarz beide einverstanden sind, werde ich einen din-tojre abhalten.« »Abe Reich kriegen Sie im Leben nicht zu so was«, meinte Schwarz. »Ich garantiere dir, dass Reich kommt«, versicherte Wasserman. Schwarz war jetzt voller Erwartung. »Na schön, und wie gehts nun weiter? Wann soll dieser, dieser din-tojre sein, und wo?« »Ginge es heute Abend? Hier in meinem Arbeitszimmer?« »Von mir aus gern, Rabbi. Sehen Sie, es war nämlich so: Abe Reich …« »Finden Sie es nicht richtiger, mit Ihrer Geschichte zu warten, bis Mr Reich dabei ist, wenn ich den Fall entscheiden soll?«, fragte der Rabbi freundlich. »Freilich, Rabbi. Ich wollte ja nicht …« »Bis heute Abend, Mr Schwarz.« »Ich komme bestimmt.« Der Rabbiner nickte und schlenderte davon. Schwarz sah ihm nach. »Weißt du, Jacob, wenn man sichs genau überlegt, habe ich mich eben auf eine ziemlich alberne Geschichte eingelassen.« »Wieso albern?« »Weil … weil … Nun, ich habe mich ja gewissermaßen mit einer regelrechten Gerichtsverhandlung einverstanden erklärt.« »Na und?« »Na, und wer ist der Richter?« Verdrossen sah er zu dem Rabbi hinüber, bemerkte den schlecht sitzenden Anzug, das zerzauste Haar, die staubigen Schuhe. »Sieh ihn dir doch an. Ein grüner Junge. Ich könnte schließlich sein Vater sein, und da soll ich ihn über mich zu Gericht sitzen lassen? Nein, Jacob, wenn ein Rabbi wirklich eine Art Richter sein soll … Ich meine, dann haben Al Becker und die anderen recht, die sagen, wir müssten einen älteren, reiferen Mann haben. Glaubst du tatsächlich, dass Abe Reich mit der Sache einverstanden ist? Ich meine, wenn er nicht zu diesem, na, zu dem Dingsda kommt, wird dann wegen Abwesenheit zu meinen Gunsten entschieden?« »Da ist ja Reich«, antwortete Wasserman. »Wir fangen gleich an. Und wegen...