Keret | Tu's nicht | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Keret Tu's nicht

Storys
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-8412-2596-2
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Storys

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-8412-2596-2
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Und Gott schuf Etgar Keret, den besten Kurzgeschichten-Autor seit Kafka und Hemingway.' Maxim Biller.

Etgar Keret, einer der bekanntesten Schriftsteller Israels und Meister der kurzen Form, kann auf wenigen Seiten sagen, wofür andere Romane brauchen. »Tu's nicht« ist sein neuer Band mit Short Stories. Seine Figuren ringen mit dem Elternsein, Familie, Alltag im Krieg, Marihuana und Pfannkuchenbergen, einem Goldfisch, der nachts aus dem Aquarium steigt und in Hauspantoffeln fernsieht, und einem Mann, der vom Dach springt.



Etgar Keret, geboren 1967 in Ramat Gan, Israel, ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller Israels. Er gilt als Meister der Kurzgeschichte, seine Short-Story-Bände sind in Israel Bestseller und werden in 40 Sprachen übersetzt. »Tu's nicht« wurde mit dem National Jewish Book Award ausgezeichnet und stand auf den Jahres-Besten-Listen von The Guardian, The Times, Financial Times, Buzzfeed und vielen weiteren. Etgar Keret schreibt auch Drehbücher und Graphic Novels. Er lebt mit seiner Familie in Tel Aviv. Mehr zum Autor unter www.etgarkeret.com. Barbara Linner studierte Judaistik, Orientalistik und südost-europäische Geschichte. Sie übersetzt auch Assaf Gavron, Yiftach Ashkenazy, Jehoschua Kenaz, Judith Katzir, Ron Leshem und Joshua Sobol. Sie lebt in München.
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Tu’s nicht!


Pit-Pit bemerkt ihn als erster. Wir sind auf dem Weg in den Park zum Ballspielen, als er plötzlich sagt: »Papa, schau mal!« Er hat den Kopf in den Nacken gelegt, und mit zusammengekniffenen Augen schaut er hinauf, weit über mich hinaus, und noch bevor ich anfangen kann, mir ein außerirdisches Raumschiff oder ein Klavier auszumalen, das uns gleich auf den Kopf kracht, habe ich schon das Gefühl, dass hier was passiert, das ganz und gar nicht in Ordnung ist. Aber als ich den Kopf in die Richtung drehe, in die Pit-Pit schaut, sehe ich bloß ein hässliches, viergeschossiges Gebäude, mit Billigputz und Klimaanlage-Kästen zugekleistert, als leide es an irgendeiner Hautkrankheit. Die Sonne, die genau darübersteht, blendet mich ein bisschen, und bis es mir gelingt, einen besseren Blickwinkel zu finden, höre ich Pit-Pit schon sagen: »Er will fliegen.« Jetzt erkenne ich die Gestalt eines Menschen mit weißem Hemd, der auf der Dachumrandung steht und nach unten, direkt zu mir herunterblickt, und höre Pit-Pit hinter mir flüstern: »Ist das ein Superheld?« Statt ihm zu antworten, schreie ich zu dem Mann hinauf: »Tu’s nicht!«

Der Mann starrt mich nur an. Ich schreie ihm noch einmal zu: »Tu’s nicht, bitte! Was immer es ist, das dich dort raufgebracht hat – es kommt dir sicher so vor, als ob man das nicht lösen kann, aber weißt du, man kann. Wenn du jetzt springst, trittst du mit diesem ausweglosen Gefühl ab, und das wird deine letzte Erinnerung ans Leben sein. Nicht Familie, nicht Liebe, nur Niederlage. Aber wenn du jetzt bleibst, ich schwör’s dir bei allem, was mir lieb und teuer ist, dieser ganze Kummer und die Verzweiflung werden sich langsam auflösen, und in ein paar Jahren ist alles, was davon übrig ist, irgendeine komische Geschichte, die du den Leuten bei einem Bier erzählst, eine Geschichte, wie du einmal von einem Dach springen wolltest und ein Mann, der unten stand, zu dir raufgeschrien hat …«

»Was?«, schreit der Mann auf dem Dach zurück und deutet auf sein Ohr. Er hört mich offenbar nicht wegen dem Straßenlärm. Oder es ist nicht der Lärm, denn sein »Was?« habe ich ja ausgezeichnet verstanden. Vielleicht hört er einfach so nicht. Vielleicht hat er ein Hörproblem. Pit-Pit, der jetzt meine Hüften umklammert, ohne ganz herumzukommen, als ob ich ein riesiger Affenbrotbaum wäre, schreit dem Mann zu: »Hast du Superkräfte?« Doch der Mann deutet wieder auf sein Ohr, als könne er nichts hören, und schreit: »Mir reicht’s! Schluss! Wie viel denn noch!« Und Pit-Pit schreit zurück, als führten sie ein völlig normales Gespräch: »Flieg schon, nu! Flieg!« Ich gerate unter Druck, dieser Druck, der immer dann entsteht, wenn du weißt, dass jetzt alles auf dich ankommt.

Bei der Arbeit habe ich das eine Menge. Auch in der Familie, aber weniger. Wie damals, auf dem Weg zum Nationalpark nach Sachneh, als ich bremsen wollte und die Räder blockierten. Der Wagen geriet auf der Straße ins Schleudern, und ich sagte mir, »Entweder du löst das, oder das ist das Ende.« Bei dem Mal damals, in Sachneh, gelang es mir nicht, es zu lösen, und es kam zu einem bösen Unfall. Liat, die als einzige nicht angeschnallt war, starb, und ich blieb allein mit den Kindern zurück. Pit-Pit war damals zwei und konnte noch kaum sprechen, aber Noam fragte mich pausenlos, »Wann kommt Mama zurück? Wann kommt Mama zurück?« Und ich rede von lange, lange nach der Beerdigung. Er war damals acht, ein Alter, in dem man schon verstehen sollte, dass jemand tot ist, aber er hat nicht aufgehört zu fragen. Und ich, wo ich ja auch ohne diese nervigen Fragen wusste, dass das alles wegen mir passiert war, wollte mit allem Schluss machen. Genau wie der Mann auf dem Dach. Aber ich fand wieder raus. Und da bin ich heute, gehe ohne Krücken, wohne mit Simona zusammen, bin ein guter Vater. Das alles will ich dem Mann auf dem Dach sagen, ihm sagen, dass ich ganz genau weiß, was er gerade fühlt, aber es wird vorbeigehen, wenn er sich jetzt nicht wie ein Pizzateig auf dem Gehsteig plattschmiert. Garantiert. Es hat wohl keinen Menschen auf diesem blauen Planeten gegeben, der mehr am Boden war als ich. Er muss einfach da runterkommen und sich eine Woche geben. Einen Monat. Sogar ein Jahr, falls nötig.

Aber wie sagt man das alles einem Halbtauben? Währenddessen zieht mich Pit-Pit an der Hand und sagt: »Er fliegt heute nicht mehr. Komm, Papa, wir gehen in den Park, bevor es dunkel wird.« Aber ich bleibe wie festgenagelt stehen und schreie, so laut ich kann: »Menschen sterben die ganze Zeit, wie die Fliegen, auch ohne dass wir uns selber umbringen. Tu’s nicht! Bitte, tu’s nicht!« Der Mann auf dem Dach nickt, es scheint, dass er diesmal etwas gehört hat, und schreit zurück: »Woher weißt du das? Woher hast du gewusst, dass sie gestorben ist?« Eine stirbt immer, will ich ihm zurufen. Immer. Und wenn nicht sie, dann jemand anders. Aber das würde ihn nicht von dort runterholen, also schreie ich stattdessen: »Hier ist ein kleiner Junge«, und deute auf Pit-Pit, »er sollte das nicht sehen!« Doch Pit-Pit neben mir schreit: »Schon! Ich schon! Jetzt flieg endlich, bevor es dunkel wird!« Wir haben Dezember, es wird wirklich früh dunkel.

Wenn er springt – hätte ich auch das auf dem Gewissen. Irene, meine Psychologin, würde mich mit ihrem Nach-Dir-Geh-Ich-Nachhause-Blick anschauen und sagen: »Es ist nicht deine Schuld. Du musst aufhören, dir das in den Kopf zu setzen.« Und ich würde nicken, weil ich weiß, dass die Stunde in zwei Minuten zu Ende ist und sie ihre Tochter aus der Krippe abholen muss, aber ändern würde das nichts, denn auch diesen Halbtauben werde ich mit mir rumschleppen müssen, neben Liat und Noams Glasauge. Ich muss ihn retten.

»Warte dort auf mich!«, brülle ich ihm zu, mit aller Kraft. »Eine Minute! Ich komm rauf zu dir zum Reden!«

Er schreit von oben zurück: »Ich kann nicht ohne sie sein! Ich kann nicht!«

Ich schreie hinauf, »Sekunde!«, und sage zu Pit-Pit: »Komm, mein Schatz, wir gehen aufs Dach rauf.« Pit-Pit macht so ein niedliches »Nein« mit dem Kopf, wie immer, bevor er mich bis aufs Blut piesackt, und sagt: »Wenn er fliegt, sehen wir das von hier viel besser.«

»Er wird nicht fliegen«, erwidere ich, »nicht er, nicht heute. Komm, wir gehen rauf, nur einen Moment, Papa muss dem Mann was sagen.«

»Dann schrei’s doch von hier«, beharrt Pit-Pit. Sein Arm rutscht mir aus der Hand, und er legt sich auf den Gehsteig, so wie er es gern mit Simona und mir im Einkaufszentrum macht. »Wettlauf aufs Dach«, sage ich zu ihm. »Wenn wir ankommen, ohne zu stoppen, kriegen Pit-Pit und Papa ein Eis zur Belohnung.«

»Jetzt ein Eis«, wimmert Pit-Pit und wälzt sich auf dem Gehsteig, »jetzt!« Ich habe keine Zeit für solchen Blödsinn. Ich nehme ihn auf die Arme. Er windet sich und kreischt, aber ich ignoriere es und renne auf das Haus zu.

»Was ist mit dem Jungen?«, höre ich den Mann von oben schreien. Ich gebe keine Antwort, stürze nur ins Treppenhaus. Vielleicht wird ihn die Neugier jetzt aufhalten. Vielleicht wird er deswegen noch nicht springen, auf mich warten.

Der Junge ist schwer, und es ist schwierig, diese ganzen Treppen mit einem fünfeinhalbjährigen Jungen auf dem Arm hinaufzurennen, speziell wenn es ein Junge ist, der nicht daran interessiert ist. Im dritten Stock geht mir schon die Puste aus. Eine dicke rothaarige Nachbarin macht die Tür einen Spaltbreit auf und fragt mich, wen ich suche, anscheinend hat sie Pit-Pits Gebrüll gehört, aber ich ignoriere sie und klettere weiter die Stufen hinauf. Auch wenn ich etwas zu ihr sagen wollte, ich hätte gar nicht genug Luft dazu in der Lunge.

»Da oben wohnt niemand!«, ruft sie mir nach. »Da ist nur das Dach!« Als sie »Dach« sagt, kippt ihre schrille Stimme, und Pit-Pit schreit mit tränenerstickter Stimme zurück, »Jetzt ein Eis! Jetzt!« Ich habe keine Hand frei, um die abblätternde Tür aufzustoßen, die nach draußen führen sollte, meine Hände sind voll mit Pit-Pit, der nicht zu randalieren aufhört, also trete ich mit aller Kraft dagegen. Das Dach ist leer. Der Mann, der noch einen Augenblick vorher auf der Umrandung stand, ist nicht mehr da. Hat nicht auf uns gewartet. Hat nicht gewartet, um herauszufinden, warum der Junge so brüllt. »Er ist geflogen«, heult Pit-Pit in meinen Armen. »Er ist geflogen, und wegen dir haben wir nichts gesehen! Wegen dir!« Ich beginne, mich dem Dachrand zu nähern. Es könnte ja sein, dass er es bereut hat und ins Gebäude zurück ist, versuche ich mir zu sagen. Aber ich glaube es nicht. Ich weiß, dass er dort unten ist, in einer seltsamen Körperhaltung auf dem Gehsteig liegt. Ich weiß es, und ich habe ein Kind in den Armen, dass das nicht sehen darf, schlicht und einfach nicht darf, denn das wäre ein Trauma fürs ganze Leben, und er hat schon eins, er braucht nicht noch eins, doch meine Füße tragen mich zum Rand des Dachs. Das ist wie an einer Wunde kratzen, wie noch ein Glas Chivas bestellen, wenn du weißt, dass du schon zu viel getrunken hast, wie Auto zu fahren, wenn du weißt, dass du müde, so schrecklich müde bist.

Als wir schon ganz nah am Rand sind, wird die Höhe spürbar. Pit-Pit verstummt, und ich kann uns beide keuchen hören und von Weitem die Sirenen der Ambulanzen, als sagten sie zu mir, »Für was? Wozu musst du es sehen? Meinst du, das ändert irgendwas? Ist das gut für irgendjemand?« Plötzlich höre ich hinter mir die schrille Stimme der rothaarigen Nachbarin, die befiehlt, »Lass ihn los!« Ich drehe mich um zu ihr, verstehe nicht recht, was sie will. »Lass mich los!«, schreit auch Pit-Pit. Wenn sich jemand Fremdes einmischt, stachelt ihn das...



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