E-Book, Deutsch, 608 Seiten
Kesey Pacazo
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-7017-4476-3
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 608 Seiten
ISBN: 978-3-7017-4476-3
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
John Segovia, Amerikaner in Peru, ist ein liebenswerter Freund, ein überschwänglicher Liebhaber und ein leidenschaftlicher Historiker: Seine Faszination gilt der glanzvollen und grausamen Geschichte der Inkas und Konquistadoren, seine Besessenheit aber der Suche nach dem unbekannten Mörder seiner geliebten Frau Pilar, die eines Abends vom Nachtmarkt nicht mehr zurückgekehrt ist.
Zerrissen zwischen dem Wunsch nach Rache, schmerzhaften Erinnerungen und der alltäglichen Betreuung seiner kleinen Tochter Mariángel, wandert John durch die pulsierende Stadt Piura. Die blutige Geschichte des Landes vermengt sich mit seiner chaotischen Gegenwart, während John, den sein trockener Humor und seine buntgemischter Freundeskreis aufrecht halten, mit Zorn und Zärtlichkeit einen Weg zurück ins Leben finden muss.
Autoren/Hrsg.
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1.
Hier ist äußerste Vorsicht angesagt. Behalte das schattige Astgewirr über dir genau im Auge. Der Pacazo liegt auf der Lauer. Reynaldo behauptet, der Pacazo sei nichts als ein ungewöhnlich großer Leguan. Für mich ist er ein aus der Zeit gefallener Dämon, Schuppen und Fleisch gewordener Zufall, ein Gott, den niemand mehr verehrt, nicht mächtig in seinem Zorn wie die Götter der Wari oder Moche oder der blutigen Chavín, sondern eine kleine, verbitterte Lokalgottheit, die dicke, weiße Plünderer hasst. Reynaldo sagt, andernorts leben die Pacazos auf dem Boden, nur hier auf dem Campus leben sie in den Bäumen, weil nachts die Füchse aus der Wüste kommen. Das kann nicht stimmen. Die Füchse sind so groß wie Hauskatzen. Der Pacazo ist über zwei Meter lang, und wehe dem Fuchs, der ihm zu nahekommt, den packt er und zermalmt seinen Schädel. Weg von den Bäumen und in die Sonne, über den Rasen zu einer Bank im spärlichen Schatten. Die Bank biegt sich, als ich mich setze. Ich warte ab, atme tief aus und lasse mein Gewicht in die Latten sinken. Stelle die Aktentasche neben mich. Ziehe ein Taschentuch heraus, wringe mir den Schweiß aus dem Bart. Das nächste Gebäude, ein grelles Weiß. Ich mache die Augen zu. Es riecht nach verrottendem Laub, nach Hitze und feuchtem Gras. Ich war schon einmal so müde, weiß aber nicht mehr wann, und ein Schiff treibt die Küste hinunter nach Süden auf eine Flussmündung zu. Ein Schrei ertönt. Die Männer drängen sich backbord an die Reling. Am Ufer sitzt ein Tallán beim Netzeflicken. Der erste Mensch seit zwei Tagen, vielleicht nützlich. Die Männer ankern, lassen das Beiboot zu Wasser und holen ihn. Der Tallán sieht die Männer kommen, steht da und starrt sie an. Das Sonnenlicht funkelt auf ihrer Metallhaut. Dann ein Geräusch, das Knirschen des Beiboots auf dem Sand. Der Tallán lässt sein Netz fallen und rennt. Es dauert nicht lange, bis sie den Mann eingeholt haben. Sie zerren ihn zurück zum Strand, werfen ihn ins Boot, rudern zurück zum Schiff, bringen ihn an Deck. Sie streicheln seine schwarzen Haare. Der Kapitän kommt herbei, betrachtet ihn, kommt näher. Er hebt das Kinn des Mannes, zeigt auf die Küste und spricht. Der Tallán sieht, wie sich die Lippen des Kapitäns bewegen, und versteht kein Wort. Als Schweigen eintritt, blickt er von einem bärtigen Gesicht zum nächsten. Wieder macht der Kapitän Handbewegungen, und der Tallán vermutet, dass ein Name verlangt wird, aber wofür? Der Kapitän greift in die Haare des Mannes. Der Tallán stößt den Namen des Flusses aus, Virú, keine Reaktion, er gerät in Panik, stottert, versucht es mit seinem eigenen Namen, Pelu. Jetzt lächelt der Kapitän. Er zieht sein Schwert, schneidet dem Tallán die Kehle durch, wirft die Leiche über Bord und macht aus den beiden Worten ein neues, und auf dieser Anekdote beruht der berühmteste Ausspruch hier: Ein Indio hat sich versprochen, ein Spanier hat sich verhört, und seitdem hat Peru verschissen. Jemand sagt Hallo und ich mache die Augen auf. Es ist eine meiner ehemaligen Studentinnen, nett und klug, und ich weiß nicht mehr, wie sie heißt. Sie sieht die Bank an, als wolle sie sich neben mich setzen. Wenn ich zur Seite rutschen würde, wäre genug Platz für uns beide. Ich lächle lieber. Sie lächelt zurück, nickt und geht endlich weiter. Immer noch eine halbe Stunde bis zu meinem nächsten Kurs und im nächsten Gebäude brandet Gemurmel auf und verebbt wieder. Offiziell ist das die Verwaltung, in Wirklichkeit aber beherbergt es eine Mischung aus Büro- und Unterrichtsräumen und im Erdgeschoss die Geschichtswissenschaften. Der Dekan ist nicht unfreundlich, hat aber keine Verwendung für mich, auch wenn ich mehr über die Conquista weiß als alle anderen auf dem Campus, und diese Anekdote über den Ursprung des Namens Peru – woher habe ich die bloß? Wahrscheinlich Reynaldo. In anderen Versionen heißt der Eingeborene nicht Pelu, sondern Belu oder Beru und ist auch nicht Tallán, sondern Inka oder Chimú, und wird nicht umgebracht, sondern versklavt oder freigelassen. Alle Versionen sind schlüssig und gleichermaßen falsch: 1522, sechs Jahre, bevor spanische Schiffe so weit die Küste herunterfuhren, macht sich Pascual de Andagoya östlich von Panama-Stadt, dann in Kolumbien auf die Suche. Er raubt Gold und Perlen von den Stämmen, auf die er trifft, und jetzt weisen seine Chochama-Führer weiter nach Süden. Birú, sagen sie, und das ist der Name einer Provinz oder auch des dort herrschenden Curaca. Birú ist sehr reich, sagen sie, und mit jedem Vollmond kommen sie zu uns in den Norden und töten uns. Bald sind auch diese Provinz und ihr Gold und ihre Perlen erobert. Der Curaca wird zu de Andagoya gebracht und zeigt noch weiter nach Süden: ein Großreich, unvorstellbare Mengen an Gold, und das ist das Missverständnis, das hängen bleibt. Der Name verwandelt sich in Perú, er wird mit Gold in Verbindung gebracht, und Andagoya zieht dorthin oder versucht es zumindest. Er macht sich, mit dem Curaca als Führer oder Geisel oder Mitstreiter im Schlepptau, auf den langen Weg zur Küste, sucht mit einem breiten Kanu befahrbare Passagen. Irgendwo am Oberlauf des San Juan kentert das Kanu. Als beide im Wasser liegen, hilft der Curaca Andagoya auf den Schiffsrumpf, und ich erinnere mich an das Gefühl, im Urwald im Wasser zu liegen, wärmer als man denken würde. Andagoyas Kleider trocknen zu langsam in der feuchten Hitze und bald ist er krank, Bronchitis oder Lungenentzündung. Wird nach Panama zurückgebracht. Erzählt allen, die es hören wollen, seine Geschichten, Pizarro ist auch dabei, jetzt mehrere Studenten, die stehen bleiben und mich begrüßen, und ich nicke allen zu. Wieder das Taschentuch. Ich wische mir Stirn und Gesicht ab. Reynaldo sagt, auf dem Campus gibt es mehrere Pacazos, aber ich habe bisher nur einen gesehen: Er hat eine lange, schmale Narbe auf der linken Seite, an der rechten Vorderklaue fehlt die zweite Kralle. In den vier Jahren, seit ich hier bin, habe ich ihn nur neun Mal zu Gesicht bekommen. Meistens war er grau, aber einmal war er braun, einmal grün und einmal schwarz. Vermutlich hängt seine Färbung vom Licht ab, und einmal suchte er sich einen Zweig aus, der zu dünn für sein Gewicht war, und krachte vor mir zu Boden. Fett und grau und hässlich. Glotzte mich an und marschierte mit hoch erhobenem Kopf auf den nächsten Baumstamm zu, Kamm aufgestellt, die Augen gegen die Sonne zu Schlitzen verzogen. Er marschierte langsam, als sei er uralt und unsterblich. Das war noch früh in meinem ersten Semester. Reynaldo sagte: Hässlich, von mir aus, aber harmlos. Acht Monate später regnete die Scheiße aus dem Baum, ein halber Liter ranziger Zuckerrübensirup auf meinen Kopf und meine Schultern, und vielleicht hassen die Pacazo-Götter ja nicht alle Ausländer, sondern dieser hat es auf mich persönlich abgesehen. Darmparasiten, sagte Reynaldo, sonst wäre der Stuhl geruchlos und weniger dünnflüssig. Das tröstete mich kaum. Es dauerte Wochen, bis ich den Gestank aus den Haaren gewaschen hatte. Alle meine Studierenden rückten in die hinterste Reihe, bis auf eine. Ein ähnlicher Geruch: die Mischung aus Innereien und Urin und Schweiß, die aus dem offenen Abwasserkanal vor unserem Haus aufsteigt. Die meisten Abwasserkanäle sind vor fünfzehn Jahren bei den Unwettern während des letzten El Niño eingestürzt und noch nicht repariert worden. In jeder Küche in Piura riecht es nach Knoblauch und Schweiß. In den Bordellen nach Pilzen und Schweiß. Spätnachts in den Straßen nach Jasmin und Lorbeer, Frangipani und Schweiß. Es ist immer heiß hier, immer, und mit der Wettervorhersage befasste Physiker an der Universität behaupten, dass es dieses Jahr noch heißer wird: El Niño kommt wieder. Zwischen ihren Schulterblättern duftete meine Frau nach Mango und Zypressen und Salbei. Eine Viertelstunde bis Unterrichtsbeginn. Reynaldo, mein Freund und Kollege, arbeitet in der Botanischen Chemie, und ihm verdanke ich Baumnamen wie Große Sapote, Charán, Matacojudo. Mata wie matar, töten. Cojudo heißt Trottel, und nur ein Volltrottel würde im April, wenn in Piura Herbst ist, unter einem Matacojudo-Baum durchgehen. Die Matacojudo-Frucht sieht wie eine Art Riesenkartoffel aus, die man sich vielleicht als Kuriosität auf die Kommode legen könnte. Die Dinger werden bis zu zwanzig Pfund schwer, sie zerschmettern Knochen, wenn sie von hoch genug fallen. Bisher habe ich Glück gehabt. Matacojudos haben keinen direkten Nutzen. Genauso wenig wie Pacazoscheiße, die aber kulturell trotzdem eine gewisse Rolle spielt. Wenn du nicht mit dem Geschrei aufhörst, dann macht dir der Pacazo auf den Kopf – den Erziehungsratgebern zufolge darf man so etwas zu seinem Baby sagen, solange man es nicht drohend, sondern liebevoll und zärtlich vorbringt. Nur der Tonfall zählt. Reynaldo...