E-Book, Deutsch, 862 Seiten
Kessler Tagebücher 1918 - 1937
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8496-2925-0
Verlag: Jazzybee Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 862 Seiten
ISBN: 978-3-8496-2925-0
Verlag: Jazzybee Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kessler führte 57 Jahre (1880-1937) Tagebuch, wobei er großen Wert auf Vollständigkeit legte. Dieses Tagebuch darf mit Recht als Kesslers literarischer Nachlass bezeichnet werden. Kritiker halten diese Texte für 'ein Fest für Literaturnarren und Wissbegierige nach Geschichte und Geschichten'. Kessler macht in seinen Aufzeichnungen 'die sinnliche Erfassung von Phänomenen zum Credo. Seine Wahrnehmungs-Erfahrungen', so die Kritik, 'tragen nicht selten Züge einer Experimentalsituation, einer Inszenierung und besitzen somit artifiziellen Charakter'. Dieses Werk umfasst die Jahre 1918 - 1937.
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1919
Berlin, 1. Januar 1919. Mittwoch
Heute abend, als ich mich zu Tisch setzen wollte, erschien im Lokal eine Deputation von streikenden Kellnern, die den Betrieb stillegten und dem Direktor ein Ultimatum mit zehn Minuten Frist stellten, innerhalb deren er die Forderungen der Streikenden anzunehmen habe; sonst würde sein Restaurant geschlossen. Nach fünf Minuten verkündete ein Angestellter die Annahme. Die Streikenden, die rote Zettel in ihren Hüten stecken hatten und eine rote Fahne trugen, zogen ab; wir konnten nach dieser Erpressung weiteressen. Viele Lokale sind schon geschlossen, andre gestürmt und demoliert. Außerdem haben heute nachmittag Katholiken und einige Evangelische das Kultusministerium Unter den Linden gestürmt, um den Unabhängigen-Kultusminister Adolf Hoffmann herauszuholen. Wir kommen in die Zeiten des Faustrechts zurück. Die Staatsgewalt ist ganz ohnmächtig.
Berlin. 2. Januar 1919. Donnerstag
Der Antiquar Lippmann ist mit Wertgegenständen der Kaiserin und mehreren Matrosen, zu denen er ein zartes Verhältnis hat, gestern morgen nach Holland gefahren. Ein kleines Satyrspiel, da L. nur durch seine Beziehungen zu Matrosen im Vollzugsrat, die er während der Revolution bei sich aushielt, der Kaiserin den Dienst leisten kann.
Berlin. 3. Januar 1919. Freitag
Abends las Däubler in der Deutschen Gesellschaft größere Teile seines ›Nordlichts‹ vor. Wie er selber körperlich sozusagen unbegrenzt, eine Art von Element ist, so ist auch das Pathos seiner Stimme scheinbar unerschöpflich: eine schöne, dunkle Stimme, von der seine großen und kleinen Gedichte wie Schiffe und Schifflein auf Meereswogen getragen werden. Er meinte, sein ›Nordlicht‹ sei noch fast gänzlich unbekannt – ein Skandal. Es sei doch als Dichtung gar nicht schwer, man müsse in sich nur das nötige Pathos finden, um es richtig lesen zu können. Er selbst erinnerte mich bei seinem Vortrag an den Satyr aus der Ekloge von Vergil, dessen mächtiges Flötenspiel Menschen, Tiere, Bäume, ja selbst das Gebirge in Bewegung bringt.
Ich lernte unter anderen Hans Blüher kennen, wohl den originellsten Kopf unter den jüngeren Denkern. Rothaarig, mit Ohren, die auffallen, weil sie so messerartig scharf und dünn rechtwinklig abstehen.
Berlin. 4. Januar 1919. Sonnabend
Abends gegessen beim heute zurückgetretenen Unabhängigen-Finanzminister Simon in Zehlendorf mit seinem Kollegen Südekum, dazu dem Direktor der Nationalgalerie Justi, Dr. Käsbach und Dr. Hübner. Wenig von Politik, viel von Kunst die Rede. Allgemeine Übereinstimmung, daß in der deutschen Kunst eine Wandlung vom Bürgerlichen zum Volkstümlichen bereits der Revolution vorausgegangen sei. Wandlung vom Impressionismus, der in Tafelbildern intime, bürgerliche Kunst bietet, zum Expressionismus, der Öffentlichkeit, große Räume, monumentale Aufträge, Wirkung auf breite Massen, Pathos und Rhetorik will. Unterschied wie der zwischen einer Causerie in einem Pariser Salon und einer Volksrede in Berlin O oder Schwabing. Käsbach und Justi wollen im Prinzessinnen-Palais eine besondere Galerie für diese moderne, expressionistische Kunst begründen.
Justi, der ein Protegé des Kaisers war, ist jetzt ganz modern und revolutionstreu. Er erzählte Anekdoten vom Kaiser, die nicht zu dessen Vorteil waren. Südekum, recht amüsant, ebenfalls; insbesondere, wie S. M. den alten Plessen in seiner Gegenwart, also in Gegenwart eines Sozialdemokraten, einmal angeschnauzt habe, weil er sich auf den Namen irgendeines Majors nicht besinnen konnte. Justi berichtete eine ähnliche Brüskierung Platens. Man macht immer wieder die Beobachtung, wie vollkommen lieblos über den Kaiser von denen gesprochen wird, die ihm nahestanden – schon vor seinem Sturze, im Frieden, vom Kronprinzen und den anderen Söhnen. Er war ein schüchtern-forscher Mensch, der laut schrie und aufgeregt redete, um seine Verlegenheit zu verbergen; seine Brutalität und kitschige Pose Selbstschutz und Selbstbetrug, eine rein persönliche Angelegenheit, die wir alle jetzt mit Vernichtung des Reiches und Ruin des deutschen Volkes bezahlen. Dieser brüllende, wie ein Löwe brüllende Hase wäre das lächerlichste Ungeheuer der Geschichte, wenn nicht Elend und Blutströme sein Werk wären. Die Verlogenheit seiner Haltung, die nichts Echtes neben sich duldete, hat Staat und Politik ausgehöhlt, Schein und Flitter an die Stelle des altpreußischen Kerns geschoben und dazu das Augenmaß fast des ganzen Volkes verdorben.
Berlin. 5. Januar 1919. Sonntag
Der Berliner Polizeipräsident Eichhorn, eine Figur wie aus einer Offenbachschen Operette, der die öffentliche Ruhe sicherte, indem er bei Aufruhr die Aufrührer bewaffnete und der deutschen Regierung diente, ohne auf seine Monatsgage aus Rußland zu verzichten, ist gestern vom sozialdemokratischen Minister Hirsch abgesetzt worden. Heute morgen erklärt er, von seinem Posten nicht weichen zu wollen, und gleichzeitig rufen in der ›Roten Fahne‹, der ›Republik‹ und sogar der ›Freiheit‹ die Spartakisten und Unabhängigen das Volk zu seinem Schutze auf. Nachmittags soll für ihn demonstriert werden. Die Regierung erklärt dagegen, daß sie bereits mittags den neuen Polizeipräsidenten Ernst in sein Amt einführt.
Ich fuhr nachmittags um fünf zum Alexanderplatz, um zu sehen, wie die Sache steht. Um diese Zeit war jedenfalls Spartakus im Besitz des Polizeipräsidiums. Davor staute sich eine dichte Menschenmenge, alle Elektrischen standen, und vom Balkon redete Liebknecht. Ich hörte ihn zum ersten Male; er redet wie ein Pastor, mit salbungsvollem Pathos, langsam und gefühlvoll die Worte singend. Man sah ihn nicht, weil er aus einem verdunkelten Zimmer sprach, man verstand nur einzelne von seinen Worten, aber der Singsang seiner Stimme tönte über die lautlos lauschende Menge bis weit hinten in den Platz. Am Schluß brüllte alles im Chore ›Hoch‹, rote Fahnen bewegten sich, Tausende von Händen und Hüten flogen auf. Er war wie ein unsichtbarer Priester der Revolution, ein geheimnisvolles, tönendes Symbol, zu dem diese Leute aufblickten. Halb schien das Ganze eine Messe, halb ein riesiges Konventikel. Die Welle des Bolschewismus, die von Osten kommt, hat etwas von der Überflutung durch Mohammed im siebenten Jahrhundert. Fanatismus und Waffen im Dienste einer unklaren neuen Hoffnung, der weithin nur Trümmer alter Weltanschauungen entgegenstehen. Die Fahne des Propheten weht auch vor Lenins Heeren.
Auf dem Potsdamer Platz inmitten einer Gruppe denselben jungen Spartakusredner getroffen, vor dem Riezler neulich auf dem Schloßplatz kniff. Er machte einen breiten Mund auf, fast ohne Widerspruch zu finden. Ich trat ihm entgegen, und sofort war die Majorität der Versammlung auf meiner Seite, namentlich alle Soldaten, weil festgestellt wurde, daß er nie im Felde gewesen ist. Er schrie, er sei am 2. August Unter den Linden verhaftet worden wegen Gegnerschaft gegen den Krieg. Ich hielt ihm aber vor, daß er jetzt den Bürgerkrieg zu Hause und den neuen Weltkrieg draußen wolle; die Versammlung wurde gegen ihn unverhohlen feindlich. Spartakus findet vor sich nur Feigheit, unterstützt durch mangelnde Organisation.
Berlin. 6. Januar 1919. Montag
Elf Uhr Ecke Siegesallee und Viktoriastraße: Zwei Demonstrationen ziehen aneinander vorüber, die eine nach der Siegesallee, die andere nach der Wilhelmstraße. Beide bestehen aus den gleichen, genau gleich gekleideten grauen Kleinbürgern und Fabrikmädchen, schwingen dieselben roten Fahnen, marschieren den gleichen Familienmarschtritt. Nur tragen sie verschiedene Inschriften, höhnen einander im Vorbeiziehen und werden heute noch vielleicht aufeinander schießen. Um diese Zeit ist Spartakus in der Siegesallee noch ziemlich dünn. Aber als ich zehn Minuten später am Brandenburger Tor bin, kommt er in unabsehbaren grauen Scharen die Linden herunter vom Osten. An der Wilhelmstraße kreuzt er sich mit einem ebenso gewaltigen Strom von Regierungssozialisten; vorläufig friedlich.
Mittlerweile werden von Vertrauensleuten aus den Regierungssozialisten die mitdemonstrierenden Soldaten herausgezogen gegen die Linden zu und bewaffnet. (Kommando: "Alles, was gedient hat, heraus! Waffen holen!") Eine Front gegen die Linden wird gebildet. Man sieht dort eine ungeheure Menschenmenge aufgereiht stehen: Spartakus und die Unabhängigen. Zwischen beiden Fronten, vor der Englischen Botschaft, entsteht ein leerer Platz. Von der Rampe des Palais des Prinzen August Wilhelm halten Regierungssozialisten Ansprachen, lassen die Menge "Hoch Ebert und Scheidemann", "Nieder mit Liebknecht" rufen.
Plötzlich, kurz nach ein Uhr, ein großer Tumult: "Liebknecht, Liebknecht! Liebknecht ist hier." Ich sehe einen zarten blonden Jungen laufen, verfolgt von einer Menschenmenge; sie umringen ihn, er bekommt den ersten Faustschlag. Noch immer läuft der blonde Kopf, das atemlose rote Knabengesicht zwischen Fäusten und Stöcken. Man schreit überall: "Der junge Liebknecht, Liebknechts Sohn!" Jetzt stolpert er, verschwindet unter einer siedenden Menschenmasse. Ich habe den klaren Eindruck, jetzt schlagen sie ihn tot. Guttmann klammert sich an mich: "Helfen Sie, helfen Sie! Sagen Sie den Leuten, daß sie ihn nicht totschlagen!" Plötzlich taucht er wieder auf, blutig, mit zerfetztem Gesicht, aufgedunsen, gestützt und gehalten von Spartakusleuten, die blitzschnell herangelaufen sind und ihn herausholen.
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