Kesten | Dichter im Café | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 372 Seiten

Kesten Dichter im Café


1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-86913-490-1
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 372 Seiten

ISBN: 978-3-86913-490-1
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Das Kaffeehaus - legendärer Treffpunkt europäischen Geistes, Umschlagplatz von revolutionären Ideen, Bühne des Lebens. Hermann Kesten unternimmt in seinem essayistischen Buch 'Dichter im Café' eine kulturhistorische Tour d'Horizon durch die Cafés und die Literaturgeschichte der Moderne und stellt dabei fest, dass diese ganz einzigartigen Orte für ihn und andere Literaten im Exil zu 'Wartesälen der Poesie' geworden seien. Er erzählt von eigenen Erfahrungen und Begegnungen, von Büchern, Persönlichkeiten und Leidenschaften - und immer lauscht er humorvoll den Geschichten. Eines der schönsten Bücher des Romanciers und Chronisten westlichen Geisteslebens, voll von unvergesslichen Szenen. Mit einem Nachwort von Hermann Glaser.

Hermann Kesten, 1900 im galizischen Podwo?oczyska geboren, siedelte 1904 nach Nürnberg über. Nach dem Studium arbeitete er als Lektor und literarischer Leiter des Kiepenheuer-Verlags in Berlin, bevor er 1933 emigrierte. Später lebte er an verschiedenen Orten in den USA und Europa. Der literarische Durchbruch gelang ihm 1927 mit seinem ersten Roman 'Josef sucht die Freiheit'. Während des Kriegs verfasste er biografische Romane über historische Persönlichkeiten, daneben immer häufiger Essays. Kesten trat stets als hervorragender Literaturvermittler in Erscheinung und war von 1972 bis 1976 Präsident des deutschen P.E.N. 1974 erhielt er den Georg-Büchner-Preis, 1980 wurde er zum Ehrenbürger der Stadt Nürnberg ernannt. Er starb 1996 in Basel.
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VORWORT

Ich habe einen guten Teil meines Lebens im Kaffeehaus verbracht, und ich bedauere es nicht. Das Kaffeehaus ist ein Wartesaal der Poesie. Das Beste am Kaffeehaus ist sein unverbindlicher Charakter. Da bin ich in einer Gesellschaft, und keiner kennt mich. Man redet, und ich brauche nicht zuzuhören. Ich sehe einen nach dem andern an und erkenne alle. Für mich agieren sie wie Komödianten. Wenn mir der erste Beste missfällt, greife ich nach meinem Hut und gehe ins nächste Kaffeehaus.

Zuweilen statte ich mir selber einen Besuch im Kaffeehaus ab. Manchmal gehe ich in ein halbes Dutzend Kaffeehäuser, ehe ich mich finde. Ringsum sind Spiegel mit zahlreichen gespiegelten Spiegeln, ich nicke meinem Bilde zu und sage: Guten Abend, alter Freund!

Wenn ich in Laune bin, ziehe ich mein altes Schulheft und einen Bleistift aus der Tasche, beginne zu schreiben und vergesse alle, die Kellner, die Gäste und mich. Das Kaffeehaus wird mein Parnass. Ich bin Apoll. Ich schlage die Leier.

Oft leiht mir das Kaffeehaus eine geheime Unabhängigkeit. Ich bin der Fremde in einer Stadt, wo jeder jeden kennt. Ich bin der Gast an einem Ort, wo jeder andre zu Hause ist.

Für wenig Geld setze ich mich an einen Tisch, der mir nicht gehört, neben fremde Menschen, die nichts mit mir verbindet, ich nehme einen Schluck oder esse einen Bissen und beobachte das leidenschaftliche Getümmel auf den Straßen und den Gesichtern. Ich sehe in einer Stunde ein Dutzend Komödien und höre ein Echo von Tragödien, die keiner schreibt.

Ein großer Teil des Lebens hat Platz im Kaffeehaus, von der Liebe zum Tod, vom Spiel zum Geschäft, nur leiht das Café dem großen Publikum die falsche Leichtigkeit eines Balletts. Die meisten Leute gehn ins Café wie auf Urlaub vom täglichen Leben.

Als Kind lernte ich im Café den Witz der Deutschen kennen. Mein Vater, der täglich mit dem beschäftigten Ernst ins Kaffeehaus eilte, den andere in ihrem Büro zeigen, nahm zuweilen uns Kinder in sein Stammcafé mit. Der Kellner kannte meinen Geschmack. Er brachte, ohne lang zu fragen, eine Melange, eine Schokoladentorte und einen Packen Witzblätter, den Simplizissimus, die Jugend, den Kladderadatsch, die Meggendorfer Blätter, den Ulk, ferner Maximilian Hardens Zukunft und Die Fackel von Karl Kraus, die der Kellner gleichfalls für Witzblätter hielt.

Dort begegnete ich zuerst den modernen deutschen Dichtern, teils schrieben sie in den Witzblättern, teils schrieben die Witzblätter über sie, einige wie Ludwig Thoma, Thomas Mann oder Jakob Wassermann waren sogar Witzblattredakteure.

Damals blickte ich noch zum Tischrand empor, ein Bübchen von sechs oder neun Jahren. Ehe ich die moderne deutsche Literatur ernst nehmen konnte, lachte ich bereits im Café über sie oder mit ihr.

Schon als Gymnasiast begann ich, allein ins Café zu gehn, jeden Mittwochnachmittag, mit Erlaubnis des Rektors vom Melanchthongymnasium. Er hatte nach einem inquisitorischen Rundgang durch die Kaffeehäuser von Nürnberg das solideste für uns Schüler der Sekunda und Prima ausgesucht, nach langen moralischen Erörterungen mit dem Cafetier, der uns vor den zahllosen Anfechtungen des Kaffeehauslebens behüten sollte.

Im Vorderraum saßen lustlose Familien, mit Herzen aus Kattun und grellgefärbten Gesinnungen. Im Hinterzimmer stand ein Billard, das unser Schulfreund Richard Schrotter, rosig wie ein Mädchen, das nicht das Herz hat, ein Gänseblümchen zu pflücken, tödlich verwundete, wie ein junger Torero seinen ersten Stier.

Nach dem Abitur ging ich ohne Erlaubnis ins Café, in alle Sorten Cafés, wo Spieler saßen, Liebespaare oder Emigranten, Maler und Poeten, Homosexuelle und dekolletierte Mütter mit Töchtern, die sie an den Mann bringen wollten. Ich saß in Strandcafés, Waldcafés, Weincafés, in Café-Restaurants und Kabarettcafés, im bal musette und in revolutionären Cafés, wo die Spitzel Kopf an Kopf saßen, in Verbrecherkaschemmen und im Café de Paris, in Zeitungskaffeehäusern, in Cafés, wo nur Herren, in Cafés, wo nur Damen liebten, und in Troglodytencafés im Süden von Tripolitanien, die mit dem billigsten Bordellbetrieb der Welt verbunden waren.

Was habe ich nicht alles in Kaffeehäusern erlebt! Ich spielte Schach im Café Hauptwache in Frankfurt. In Marrakesch deutete mir ein Schlangenbeschwörer die Zukunft. Im Café Royal in London aß ich Austern und Kaviar mit proletarischen Schriftstellern. Im Café Rotonde am Montparnasse saß ich an einem Silvesterabend zwischen zwei deutschen Dichterinnen im Exil, eine war aus Köln, die andre aus Mainz; die Irmgard Keun sagte zu jedem am Tisch: Küss mich auf den Mund (sie sprach es »Mond« aus) und wollte, wir sollten alle einen fremden Herrn vom Nebentisch an seinem schwarzen Vollbart berühren, das bringe uns Glück, indes die Anna Seghers verstört in den zahlreichen wandhohen Kaffeehausspiegeln imaginäre oder reelle Spitzel verfolgungswahnsinniger Diktatoren suchte, jenes Diktators, vor dem sie zitternd geflohen, und jenes, den sie zitternd anbetete. Drei Tische weiter saß Joseph Roth und machte gleichzeitig einer bayerischen Gräfin und deren Tochter den Hof, der Dichter blickte grimmig, die Komtesse lachte laut, die Gräfin sprach zu Roth und musterte uns.

Ich saß in Brüssel im Café, an der Place Brouckère, und ein Mann, den ich nicht kannte, hatte sich an meinen Tisch gesetzt, ohne mich zu fragen, und mir befohlen, mit ihm zu sprechen, und als ich ihn auslachte und ihm den Rücken zukehrte, hatte er mit der ruhigsten Stimme der Welt gesagt, wenn ich ihm nicht sofort eine Geschichte erzählte, würde er mich leider niederschießen müssen, es mache ihm nichts aus, denn sein Leben hänge davon ab, dass ich zu ihm spreche, und wenn er durch meine Schuld sterben müsse, nur weil ich ihm eine so unschuldige Bitte nicht gewähre, so ziehe er vor, mit einem blutigen Knalleffekt aus der Welt zu gehen. Da es an allen öffentlichen Orten viele Verrückte gibt, wandte ich mich ihm wieder zu und begann, ihm eine Geschichte zu erzählen, bald lachten wir beide Tränen, er klopfte mich auf die Schulter vor Vergnügen. Ich hatte meine Geschichte kaum beendet, da standen schon zwei Männer links und rechts von ihm, mit autoritären nackten Gesichtern und verhaftungsfrohen Händen, mein Zuhörer erbleichte und errötete, dann ging er, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, zwischen den Fremden fort, ein Verrückter zwischen Irrenwärtern, ein Verbrecher zwischen Detektiven, ein Kronprinz zwischen Erziehern, ein Kommunist zwischen zwei aufsichtführenden Parteifreunden? Ich werde es nie erfahren. Leider habe ich auch meine lustige Geschichte vergessen; oder lachten wir beide nur aus Angst?

Schon damals ging ich hauptsächlich ins Café, um zu schreiben. Erst ging ich natürlich spazieren, ein Peripatetiker, ein Akademiker wie jene Schüler des Aristoteles, und formulierte Verse, Dialoge, Szenen und ganze Prosaseiten, bis jedes Wort festgefügt wie ein Ziegelstein im Mauerwerk saß, dann setzte ich mich in mein Café und schrieb alles auf, als läse ich es aus eines andern Buch ab.

Ich schrieb auch auf Bahnhöfen und Schiffen, auf Moosbänken und Sandbänken am Meer, bei Mondschein, im Park und im Wartezimmer meiner Zahnärzte, sogar zu Hause zwischen meinen Büchern oder im Bett; fast jedes Lokal ward mir zum Café, ich saß ins Schreiben versunken, zwischen müßigen Menschen, die mir zuschauten, oder zwischen Wolken, Wipfeln und Wellen.

Im Café betrog ich den Müßiggang der andern mit meiner Arbeit. Ich sah wie ein Müßiggänger aus, aber neben mir zwitscherten die jungen Mädchen wie Stare. Wenn ich auf der Straße an einem der ausgesetzten Kaffeehaustische saß, wehte derselbe Wind durchs schmachtende Laub der Bäume am Straßenrand und durch die Seiten meines Schreibheftes. Die gleichen Autos fuhren an mir und meinen Figuren vorüber. Wenn das Liebespaar in meinem Roman verstummte, begann das Liebespaar am Nebentisch zu reden.

Ich saß vor der Tanzfläche in den Tanzcafés, und die Liebespaare tanzten im Tangorhythmus in meinen Roman hinein oder entstiegen meinem Heft wie einem Taxi und setzten sich an meinen Tisch und stritten mit mir und untereinander. Ich drohte, ich würde sie vor dem letzten Kapitel sterben lassen, aber sie seufzten nur und tranken Likör und kosten im Zank und zankten kosend.

Zuweilen legte ich hastig den Bleistift zwischen die Seiten meines Schreibheftes und tanzte mit einem der Mädchen, die mit einsamen Augen herumsaßen, als wüssten sie, dass keiner sie heiraten würde. Ich tanzte mit dem Fräulein ein paarmal herum und sprach, als wäre ich einer der jungen unbeschäftigten Helden aus meinen frühen Romanen, einer dieser mörderischen Moralisten ohne Zeit fürs Leben und ohne Geduld mit seinesgleichen. Ich führte die Mädchen wieder zu ihren erfrorenen Tischen und setzte mich vor mein Heft und schrieb, versunken, oder enthoben, als säße ich auf einem Leuchtturm im Meer oder an einer der tausend Quellen der großen Oasen inmitten der Sahara, und hörte die Rufe der Muezzin, das Allah il Allah. Die Kamele lagerten neben mir, wiederkäuend, und ich roch den Duft der Dattelpalmen und des schwarzgebrannten Kaffees. Nur die Jazzkapelle heulte mit Saxofon und dem Vorsänger: Allah il Allah. Und ich schrieb und sah tausend und eine Fata Morgana, das Meer mit Möwen, Wolkenkratzerkolonnen und Herden weißer Elefanten zwischen indischen Tempeln.

Bald wird es ein halbes Jahrhundert sein, dass ich in meinen Cafés sitze und schreibe. Ich sah die...


Hermann Kesten, 1900 im galizischen Podwoloczyska geboren, siedelte 1904 nach Nürnberg über. Nach dem Studium arbeitete er als Lektor und literarischer Leiter des Kiepenheuer-Verlags in Berlin, bevor er 1933 emigrierte. Später lebte er an verschiedenen Orten in den USA und Europa. Der literarische Durchbruch gelang ihm 1927 mit seinem ersten Roman 'Josef sucht die Freiheit'. Während des Kriegs verfasste er biografische Romane über historische Persönlichkeiten, daneben immer häufiger Essays. Kesten trat stets als hervorragender Literaturvermittler in Erscheinung und war von 1972 bis 1976 Präsident des deutschen P.E.N. 1974 erhielt er den Georg-Büchner-Preis, 1980 wurde er zum Ehrenbürger der Stadt Nürnberg ernannt. Er starb 1996 in Basel.



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