Kienbaum | Die Entwicklung von Mitgefühl | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 202 Seiten

Kienbaum Die Entwicklung von Mitgefühl

Von der frühen Kindheit bis in das hohe Alter

E-Book, Deutsch, 202 Seiten

ISBN: 978-3-17-041846-2
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Mitgefühl ist eine zwischenmenschliche Emotion, die für unser soziales Miteinander von zentraler Bedeutung ist. Aber wie entwickelt sich Mitgefühl, wann tritt es zum ersten Mal auf, nimmt es mit dem Lebensalter zu oder ab oder bleibt es gleich? Welche Rolle spielen hier Erziehung, Kultur oder Persönlichkeitseigenschaften? Ziel des Buches ist es, auf Grundlage von Forschungsergebnissen einen verständlichen Einblick in die Entwicklung des Mitgefühls und der Faktoren, die hiermit in Zusammenhang stehen, zu geben. Dabei wird das Mitgefühl und dessen Entwicklung beginnend mit der frühen Kindheit bis ins hohe Erwachsenenalter betrachtet.
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2 Die Entstehung von Mitgefühl im Säuglings- und Kleinkindalter3
von Markus Paulus 2.1 Einleitung
Mitgefühl, d.?h. die Anteilnahme am Leid anderer und die dadurch motivierte Sorge um das Wohlergehen der anderen Person (vgl. Eisenberg et al., 2006; ? Kap. 1), spielt eine wichtige Rolle für das menschliche Zusammenleben. Es motiviert zu prosozialen und altruistischen Handlungen (Hoffman, 2000), trägt zur sozialen Eingebundenheit und Funktionsfähigkeit bei (Eisenberg, Fabes & Murphy, 1996) und unterstützt den Aufbau und die Aufrechterhaltung von Beziehungen (Chow, Ruhl & Buhrmester, 2013). Eine geringe Ausprägung von Mitgefühl und Sorge um andere kann auch, zusammen mit vielen anderen Indikatoren, ein Zeichen für Autismus sein (Campbell, Leezenbaum, Schmidt, Day & Brownell, 2015). Mitgefühl und Empathie, definiert als einfühlendes Verstehen der Notlage bzw. des Zustands eines anderen (? Kap. 1), werden explizit in der Gesellschaft hoch geschätzt. In politischen Umfragen wird etwa erhoben, wie empathisch und mitfühlend Politiker wahrgenommen werden (Pew Research Center, 2017), und Eltern fragen sich, wie sie die Entwicklung ihrer Kinder zu mitfühlenden Wesen stärken können (McKearney & Mears, 2015). Schon im Kindergartenalter beurteilen Kinder mitfühlendes und tröstendes Verhalten gegenüber einer Person in Not als richtig und protestieren bei Unterlassung derselben (Paulus, Wörle & Christner, 2020). Angesichts der Bedeutung von Empathie und Mitgefühl stellt sich die Frage, wie diese eigentlich in der menschlichen Entwicklung entstehen. Wie ist es möglich, dass ein auf den ersten Blick scheinbar auf sich selbst zentriertes Wesen wie ein Neugeborenes zu einer Person wird, die aus Mitgefühl für andere ihr Leben riskiert? Wann tritt Mitgefühl zum ersten Mal auf und welche Faktoren bedingen seine Entstehung? Diese Fragen lenken unsere Aufmerksamkeit auf die frühe Kindheit. Die neuere entwicklungspsychologische Forschung konnte zeigen, dass die ersten Anzeichen von Mitgefühl bereits in den ersten Lebensjahren auftreten (vgl. Hoffman, 2000). Das vorliegende Kapitel ist der Ontogenese von Mitgefühl in den ersten Lebensjahren gewidmet. Das Ziel des Kapitels ist, (i) einen Überblick über die theoretischen Debatten zu den ontogenetischen Ursprüngen und der frühen Entwicklung des Mitgefühls zu geben und (ii) zentrale empirische Studien darzustellen und zu bewerten, die als Evidenz für die unterschiedlichen theoretischen Modelle herangezogen werden. Darüber hinaus soll (iii) auf Faktoren eingegangen werden, die interindividuelle Unterschiede im Ausmaß des Mitgefühls erklären könnten. Insgesamt soll es die Leserin und den Leser mit dem spannenden Forschungsfeld zu den ontogenetischen Ursprüngen des Mitgefühls vertraut machen. 2.2 Die frühe Ontogenese von Mitgefühl: Theoretische Modelle
Psychologische Forschung wird von Theorien und Modellen geleitet, die menschliches Erleben und Verhalten erklären, vorhersagen und damit auch beeinflussbar machen wollen. Die frühe Entwicklung von Mitgefühl zu verstehen, bedeutet also, eine Theorie für seine Entstehung zu formulieren. Im Folgenden sollen drei zentrale theoretische Modell vorgestellt werden, die für die aktuelle Forschung handlungsleitend sind und eine Vielzahl empirischer Studien motiviert haben. Zuerst werde ich das Modell von Martin Hoffman präsentieren, da es einen bedeutsamen theoretischen Umbruch in der Empathieforschung darstellt, indem es sich von den zu seiner Zeit dominierenden Piagetschen und Freudschen Konzepten absetzte. Danach skizziere ich den Ansatz von Doris Bischof-Köhler, die grundlegende Aspekte des Ansatzes von Hoffman weiterführt, aber die Rolle kognitiver Prozesse stärker herausarbeitet. Als drittes Modell werde ich den neueren Ansatz von Maayan Davidov und Kolleginnen beschreiben, der sich stärker von den beiden zuerst genannten abhebt und davon ausgeht, dass Mitgefühl bereits in den ersten Monaten nach der Geburt vorhanden ist. 2.2.1 Hoffmans klassisches Modell
Die in der internationalen Debatte einflussreichste theoretische Konzeption der frühen Empathieentwicklung wurde von Martin Hoffman (2000) vorgelegt. Die innovative Kraft seines Modells lässt sich am besten auf dem Hintergrund der zu seiner Zeit dominierenden Ansätze verstehen. Die kognitive Entwicklungstheorie von Jean Piaget (2003) legt den Schwerpunkt auf die Erklärung der Entstehung kognitiver Fähigkeiten, insbesondere auch des wissenschaftlichen Denkens. Nach Piaget lässt sich die Entwicklung als eine Abfolge verschiedener kognitiver Stadien beschreiben, die in einem Zugewinn an Repräsentationsfähigkeiten bzw. Möglichkeiten, mit Repräsentationen zu arbeiten, bestehen. Dies beinhaltet auch die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme, die nach Piaget mit Beginn des konkret-operationalen Stadiums, also etwa mit Beginn des Schulalters, einsetzt. Erst in dieser Phase seien die Kinder in der Lage, mit mentalen Vorstellungen zu arbeiten (zu »operieren«, daher konkret-operational) und sich vorzustellen, wie die Welt aus der Perspektive einer anderen Person aussieht. Zuvor seien Kinder weitgehend egozentrisch und nicht in der Lage, sich in andere hineinzuversetzen. Daraus folgt, dass jüngere Kinder aufgrund ihres Egozentrismus nicht in der Lages seien, sich um das Wohlergehen anderer sorgen können. Auf Basis eines sehr unterschiedlichen Ansatzes, fokussierend auf die intrapsychischen emotionalen Dynamiken, kam die klassische Psychoanalyse zu einem ähnlichen Schluss. Junge Kinder seien irrational und ihrem inneren Triebgeschehen ausgeliefert. Durch die Internalisierung elterlicher Normen würden sie ein Gewissen ausbilden und so etwas wie Sorge um andere entwickeln (Brenner, 1999; siehe auch Zahn-Waxler, Schoen & Decety, 2018). In den ersten Lebensjahren seien sie daher nicht in der Lage, sich um andere zu sorgen bzw. für sie Mitgefühl zu empfinden. Beide Ansätze zeichnen das Bild eines über die ersten Lebensjahre weitgehend egozentrischen Kindes (Zahn-Waxler, 1998), welches erst gegen Ende der frühen Kindheit ein genuines Verständnis für andere Menschen entwickelt. Hoffmans Theorie (2000) brach mit diesem Konzept und stellt vielmehr heraus, dass Kinder bereits ab dem zweiten Lebensjahr in der Lage sind, Mitgefühl für andere zu empfinden. Seine Theorie fokussierte sich spezifisch auf die frühe Ontogenese von Empathie und Mitgefühl (im Gegensatz zu den allgemeinen Entwicklungstheorien von Piaget und der Psychoanalyse) und postuliert in der neuesten Fassung, dass sich Empathie über mehrere Phasen hinweg entwickelt (Hoffman, 2000). Den Entwicklungsveränderungen in der Empathie liegt dabei ein immer differenzierter werdendes Verständnis von sich selbst und anderen zugrunde. Mit anderen Worten: Die Empathie entwickelt sich durch zunehmend komplexer werdende sozial-kognitive Fähigkeiten. Das erste Level (newborn reactive cry) bezieht sich auf das erste Lebensjahr und beschreibt das Phänomen, dass sehr junge Säuglinge (teilweise erst wenige Tage alt; Simner, 1971) selbst zu schreien beginnen, wenn sie das Schreien anderer Säuglinge hören. Der Säugling reagiert auf den Ausdruck des Leidens anderer Personen mit eigenem Unbehagen. Als mögliche psychologische Grundlagen für dieses Phänomen diskutiert Hoffman den Einfluss von assoziativem Lernen und Konditionierung, Imitation sowie die Möglichkeit eines angeborenen Reaktionsverhaltens, welches isomorph (d.?h. gleichgestaltig) zu dem auslösenden Reiz ist. Da junge Säuglinge noch kein Bewusstsein ihrer selbst haben, insbesondere davon, dass sie von anderen Personen verschieden sind, können sie laut Hoffman nicht zwischen dem eigenen Unbehagen und dem einer anderen Person unterscheiden (Davidov, Zahn-Waxler, Roth-Hanania & Knafo 2013). Ab dem Alter von etwa 6 Monaten zeige sich eine Abnahme im reaktiven Schreien, da Säuglinge sich zunehmend selbst als von anderen physisch separate Entitäten begreifen, eigene Ziele verfolgen (und dadurch weniger durch Umweltreize ablenkbar sind) und ihre Emotionen besser kontrollieren können. Das zweite Level (egocentric empathic distress), welches Hoffman ab etwa einem Jahr ansetzt, äußert sich darin, dass die Säuglinge auf der einen Seite durch die wahrgenommene Not anderer eigenes Unbehagen empfinden (empathic distress), auf der anderen Seite aber selbst nach Trost suchen, um ihr eigenes Leiden zu vermindern. Dies sei darauf zurückzuführen, dass sie noch nicht klar genug zwischen sich und einer anderen Person unterscheiden können, den durch eine andere Person verursachten Stress als eigenes Leid empfinden und daher die Lösungsstrategien anwenden, mit der sie eigenem Unbehagen begegnen (z.?B. am Daumen lutschen; Nähe zur Bezugsperson suchen). Auf dem dritten Level (quasi-egocentric empathic distress), das in der ersten Hälfte des zweiten Lebensjahres anzusiedeln ist, zeigen Kinder prosoziales...


Prof. Dr. Jutta Kienbaum, Dipl.-Psych., lehrt Entwicklungspsychologie an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe.


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