E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Kiesele Verbindung und Verbundenheit
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7495-0654-5
Verlag: Junfermannsche Verlagsbuchhandlung
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Wie wir zu uns selbst finden und tiefe Beziehungen aufbauen
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-7495-0654-5
Verlag: Junfermannsche Verlagsbuchhandlung
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Karin Kiesele, Kommunikationswissenschaftlerin, zertifizierte Leadership-Coach & Trainerin, Mitglied im deutschsprachigen Dachverband für Positive Psychologie e.V.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie Differentielle Psychologie, Persönlichkeitspsychologie
- Sozialwissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie Sozialpsychologie
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychologie / Allgemeines & Theorie Psychologie: Allgemeines
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychologie / Allgemeines & Theorie Psychologie: Sachbuch, Ratgeber
- Sozialwissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie Kognitionspsychologie Emotion, Motivation, Handlung
Weitere Infos & Material
1. Vom Zeitgeist der Unverbindlichkeit
1.1 Bestandsaufnahme im Kleinen und im Großen
Uns geht es gut – aufgrund von technologischen und wirtschaftlichen Fortschritten. Und von morgens bis abends sind die meisten von uns irgendwie in Bewegung und auf irgendeine Weise in Kontakt – zumindest virtuell. Soziale Medien und digitale Kommunikationsmittel schaffen immer neue Wege dafür. Im Schnitt schauen wir mindestens 30-mal am Tag auf unser Handy. Liken, folgen, ablehnen, löschen – in der virtuellen Welt ist ständig Handlungsbedarf.
Unser Leben ist angefüllt mit Impulsen und Aufforderungen, „dabei zu sein“. Mails, Newsletter und Werbeflyer verstopfen den (E-Mail-)Postkasten, Vertragswechsel winken mit lukrativen Prämien. Und egal, auf welchem Kanal: Influenzer:innen und auch weniger Einflussreiche in den sozialen Medien propagieren glattgebügelt und gutgelaunt den Dauer-Optimierungskurs. Ob banal oder bedeutsam – ständig müssen wir aus einer Vielzahl an Möglichkeiten die vermeintlich richtige Auswahl treffen.
Obwohl wir immer enger miteinander vernetzt sind, fallen viele von uns durch die Maschen. Überall finden sich Spuren von Unverbindlichkeit. So werden z. B. Neukunden hofiert, während Stammkunden ein Schattendasein führen. Monatlich kündbare Verträge und befristete Arbeitsverhältnisse hinterlassen auch in unserem Privatleben ihren Abdruck. Wir bekunden Interesse an einer Facebook-Veranstaltung und gehen am Ende nicht hin. Wir liken sinnlos eine WhatsApp-Story, die sich nach 24 Stunden ohnehin wieder in Luft auflöst. Wir sagen Treffen mit Freunden ab, weil wir zu müde sind. Wir schwänzen Unternehmungen oder das Fitness-Studio, obwohl wir wissen, dass uns das gut tun würde. Und was tun wir stattdessen? Wir ziehen uns zurück und daddeln vor uns hin. Einmal nach links swipen, einmal nach rechts und dabei zuschauen, wie Fremde sich scheinbar ganz spontan vor ihren Schrankwänden, im Schlafzimmer und auf der Toilette filmen. Sie tänzeln, frotzeln und blödeln und treiben allerlei merkwürdigen Schabernack, um den Algorithmus auszutricksen. Das Private ist scheinbar öffentlich, wir haben Teil am Leben anderer, ohne wirklich dabei zu sein. Multimedial sind wir zwar ständig „on Air“ und stecken doch fest. Dass wir unter unserer Kuscheldecke sozial verlottern, merken wir erst spät.
In einer Umfrage der DAK aus dem Jahr 2023 äußerten 70 Prozent der Befragten, dass das soziale Miteinander in den vergangenen drei Jahren gelitten habe und wir hierzulande aggressiver, oberflächlicher und weniger verbindlich miteinander umgingen. Rund 81 Prozent der Personen gaben an, dass Termine und Zusagen leichtfertiger und kurzfristiger abgesagt werden als früher.
Der Internetkonsum steigt nicht nur bei jungen Nutzer:innen. 2022 lag der Bundesdurchschnitt bei 160 Minuten am Tag. Laut einem Bericht der Gemeinsamen Forschungsstelle (GFS) der Europäischen Kommission besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der passiven Nutzung von Social Media sowie Einsamkeit: Soziale Medien fördern zwar Verbindungen, können aber bei exzessiver und passiver Nutzung das Risiko für Depressionen und Einsamkeit erhöhen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Algorithmen sozialer Medien in Negativschleifen führen und oft unrealistische Darstellungen des Lebens vermitteln.
Virtuelle Welten spielen nicht nur für Teenies und „Twenty Somethings“ eine Rolle; auch jenseits dieser Altersgrenzen sorgen sie für tiefe Spuren: Wir lassen uns digital auf alles Mögliche ein und doch fühlen wir uns mehr und mehr auf merkwürdige Weise isoliert, verloren und einsam. Wir sehnen uns nach Verbindung und Verbundenheit, doch Entscheidungen zu treffen fällt uns schwer. Gehen wir zu der Geburtstagsfeier, Party oder dem gemeinsamen Essen? Ob wir tatsächlich erscheinen, halten wir uns gern ein wenig offen. Es ist inzwischen Usus geworden, Einladungen zwar lächelnd entgegenzunehmen, sich aber um ein klares Ja oder Nein herumzudrücken. Posts und Podcasts unbekannter Menschen zu verfolgen und bis spät in die Nacht durchs virtuelle (N)irgendwo zu schweben, scheint hingegen mit keinem Entscheidungsproblem verbunden zu sein.
1.2 Über Verbundenheitskiller und was sie mit unserer Evolution zu tun haben
Ich selbst kenne das nur zu gut: Auf dem heimischen Sofa schlunzen und hier ein Klick, da eine unverbindliche WhatsApp-Nachricht. Passiv und ganz ohne Anstrengung bin ich dabei – und irgendwie bin ich auch aktiv. Mit Herzchen, einer Rabatt-Aktion, einem kostenfreien Angebot und anderen Gimmicks und Gadgets werde ich belohnt. Und wenn mir was nicht passt, wische ich es einfach weg. Zu hässlich? Zu langweilig? Zu aufwändig? Swipe!
Liken, kaufen, konsumieren: Der virtuelle Jahrmarkt erinnert mich bisweilen an die dekadenten Zustände im alten Rom. Gelage, Überfluss und Völlerei nahmen im Endstadium groteske Formen an. Wer sich überfressen hatte, wurde mit der Pfauenfeder am Gaumen so lange gekitzelt, bis alles wieder rauskam. Und auch mir ist inzwischen irgendwie schlecht vom bunten Treiben. Der Versuch, mit einem Becher Eiscreme das bohrende Gefühl in der Magengegend zu betäuben, scheitert. Denn der Hunger nach Liebe, Anerkennung und Gemeinschaft bleibt dabei ungestillt.
Kontinuierlich verlieren wir an Bodenhaftung und fühlen uns leer und leerer. Dennoch treiben wir selbst diese Entwicklungen weiter voran und mutieren zu „Verbundenheitskillern“. Ob wir wollen oder nicht – wir sind uns selbst der größte Feind, die größte Feindin. Ja sind wir denn bekloppt?!
Fühlen wir uns verbunden, wirkt sich das positiv auf unsere physische und psychische Gesundheit aus. Zahlreiche Studien attestieren ein geringeres Risiko für Depressionen, Angstzustände und sogar chronische Krankheiten.
In allen Lebensbereichen spielt Verbundenheit eine entscheidende Rolle: in persönlichen Beziehungen, am Arbeitsplatz oder gesamtgesellschaftlich. Verbundenheit umfasst das Gefühl der Zugehörigkeit, des Zusammenhalts und der emotionalen Nähe zu anderen Menschen.
Warum bleiben wir so gern unverbindlich? Was ist bloß los mit uns? Haben wir einen miesen Charakter? Nein, unser Geist ist mit der Fülle der Angebote schlicht überfordert und muss lernen, sich selbst nicht in den Weiten der virtuellen Welt zu verlieren.
Folgende Erklärung scheint mir sehr schlüssig: Es ist normal, dass unser Geist ziellos wandert und zerstreut ist, denn darauf sind wir evolutionär geeicht. Unser Überlebensinstinkt sorgt dafür, ständig Reize wahrzunehmen und zu überprüfen. Das hat in der Urzeit Menschen davor bewahrt, wilden Tieren zum Opfer zu fallen, z. B. dem Säbelzahntiger. Als Spezies haben wir bis heute überlebt, weil wir aufmerksam waren – auf ein Knacken im Gehölz, einen Schatten oder ein Knurren. Was wir heute als Zerstreutheit erleben, sind die evolutionären Nachwehen dieser ständigen Wachsamkeit.
Und dann gibt es im Gehirn noch das Belohnungssystem, das anspringt, wenn z. B. Prämien winken oder etwas in Aussicht gestellt wird, das einen leicht erreichbaren Mehrwert verspricht – egal in welcher Form. Ein innerer Schaltkreis springt an: Das limbische System reagiert, indem es ein Verlangen schafft, bei dessen Befriedigung das Glückshormon Dopamin ausgeschüttet wird. Auch ich neige mitunter dazu, in meiner Freizeit durch die Vergleichsportale zu jagen. Mit flinken Fingern erjage ich im vollen Galopp das beste Schnäppchen, bevor ich müde in die Kissen sinke.
Begegnungen in der realen Lebenswelt erscheinen im Vergleich dazu irgendwie behäbig, schwer, zäh und anstrengend. Schließlich kann ich den vollen Supermarkt, die lange Kassenschlangen, den schrägen Gartennachbarn, die zickige Freundin oder den pubertierenden Neffen nicht einfach wegklicken.
1.3 VUKA und BANI: Wie sieht unsere Welt gerade aus?
Alles befindet sich im radikalen Wandel: unsere Arbeitswelt, aber auch unsere privaten Lebensbedingungen. Wir alle spüren das, kaufen wir doch inzwischen meist mehr in Online-Shops als im Kaufhaus vor Ort – falls es überhaupt noch eins gibt. Auch lassen wir uns gerne Getränke und Essen ins Haus liefern. Die Globalisierung sorgt weltweit für Remote-Jobs und wir kommunizieren öffentlich und privat vorwiegend online. Diese und andere massive Veränderungen aufgrund der Digitalisierung beschreibt das VUKA-Modell.
Das Akronym VUKA bezog sich ursprünglich auf moderne Kriegszustände, doch dann haben Wirtschaft und Forschende das Modell auf globale Veränderungsprozesse übertragen. Seit den 1980er-Jahren spricht man in der Arbeitswelt von VUKA, um zu verdeutlichen, dass wir alle in einer unsicheren und unvorhersehbaren Zeit leben.
Die Buchstaben des Akronyms stehen für:
V = volatil
U = unsicher
K = komplex
A = ambivalent
Das Leben in der VUKA-Welt ist herausfordernd: Regeln und Vereinbarungen, die lange Zeit galten, sind heute obsolet. Simple Ursache-Wirkung-Ableitungen greifen nicht mehr und es reicht es nicht, Entwicklungen nur von einer Seite zu betrachten. Es ist äußerst schwierig, tragfähige Strategien zu entwickeln – zu viele Unwägbarkeiten und Eventualitäten spielen eine Rolle. Wir müssen uns damit zurechtfinden, dass die Dinge widersprüchlich und mehrdeutig sind.
Der stetige Wandel hat selbst vor dem VUKA-Modell nicht haltgemacht. Seit 2020 hat sich ein Nachfolgemodell etabliert: BANI. Es bringt die aktuelle post-pandemische Entwicklung auf den Punkt.
Das BANI-Modell nach...