Kiessl / Herwig-Stenzel / Reif | Systemische Beratung in der Heilpädagogik | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 150 Seiten

Kiessl / Herwig-Stenzel / Reif Systemische Beratung in der Heilpädagogik

Ein Praxisbuch
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-17-040786-2
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Ein Praxisbuch

E-Book, Deutsch, 150 Seiten

ISBN: 978-3-17-040786-2
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Systemtheoretisches Wissen ist heute in der Heilpädagogik, z. B. bei der Beratung von Familien, selbstverständlicher Standard. In der Ausbildung sind dabei konkrete Anwendungsbeispiele und Problemlösungsansätze von besonderem Interesse. Fünf reale Fallstudien wurden deshalb als geeignete Formen zur Vermittlung dieses anwendungsorientierten Wissens aufgearbeitet, um einen profunden Einblick in die Vielfalt der Beratung von Familien zu geben. Interessierte BeraterInnen und Lernende von Beratung sowie Studierende der Heilpädagogik und verwandter Disziplinen finden in diesem Buch eine praxisnahe Einführung in die systemische Beratung.

Heidrun Kiessl ist Professorin für Heilpädagogik und Beratung an der Katholischen Hochschule Freiburg. Eckehard Herwig-Stenzel ist Supervisor und Coach für Führungskräfte und Organisationsberater in eigener Praxis. Jutta Reif ist Heilpädagogin und systemische Therapeutin in einer Beratungsstelle.
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Weitere Infos & Material


2 Familiengeheimnis als Kraft zum Trennen und Kraft zum Binden – Der Fall Lukas


2.1 Fallbeschreibung


Lukas, neun Jahre, und seine Mutter kommen wegen Schwierigkeiten und Streitereien untereinander in die Fachabteilung »Familienheilpädagogik« in der psychosomatischen Fachklinik für Familienrehabilitation. Lukas' im Vorfeld des Klinikaufenthaltes diagnostizierte Autismusspektrumsstörung (früher: Asperger-Autismus) und seine Störung des Sozialverhaltens wird von der Mutter im Aufnahmegespräch mit der fallführenden Psychologin als Grund für das Problemverhalten von Lukas beschrieben (auf weitere Diagnosen der Mutter wird zur besseren Veranschaulichung an dieser Stelle nicht eingegangen).

Mit der Anmeldung der Familie in der heilpädagogischen Fachabteilung der Klinik verspricht sich die Psychologin der Station eine Verbesserung der Beziehung und eine Befriedung zwischen Mutter und Sohn. Die Psychologin leitet dann an die Heilpädagogik weiter, wenn die Kinder jünger als zwölf Jahre alt sind oder wenn bei Jugendlichen eine Behinderung und/oder sprachliche Einschränkung ein Thema in der Familie ist/sind.

2.2 Behandlungsgeschehen und Resonanzen I


Einleitung in den Fall

Bewusst entscheidet sich die Beraterin/Heilpädagogin, den in der Fallvorstellung im Team gewonnenen Diagnosen von Lukas keine Beachtung zu schenken und die Akte ungelesen wegzupacken.

Gedanken und Fragen der Heilpädagogin/Beraterin

Was würde passieren, wenn ich davon ausginge, dass Lukas mit seiner diagnostizierten seelischen Behinderung in der Kommunikation und Interaktion sowie in seiner Mentalisierungsfähigkeit so eingeschränkt ist, dass es nicht möglich wäre, mit der Familie die Themen zu bearbeiten und »anspruchsvollere« Methoden einzusetzen? Hier würde die Wirklichkeitskonstruktion »Diagnose« weiter fortgeschrieben werden.

Ich verabschiede mich von diesen Gedanken, mein Verhalten an der Diagnose auszurichten. So nehme ich die Chancen und Möglichkeiten war, die in der Familie und in der Begegnung stecken, um diese zu fokussieren. Möglicherweise wird so eine andere und neue Wirklichkeit konstruiert.

Wie kann ich eine andere Sicht auf das Problem oder Thema ermöglichen? Innerlich registriere ich, dass durch die Diagnose ihr innerer Stressmotor anzuspringen droht. Indem ich das Thema Diagnose beiseitepacke und durchatme, kann ich mich mit Neugier der Begegnung im Erstkontakt öffnen und eine entsprechende Haltung des Nichtwissens einnehmen. Ich lasse mich auf die Begegnung im Erstkontakt ein. Hier kommt zusätzlich zur heilpädagogischen Haltung eine bewusst neutrale Haltung und ein allparteiliches Ausbalancieren in der Verteilung von Aufmerksamkeit und Energie.

Weiter im Fallgeschehen

Als Mutter und Sohn im Anmeldebereich der heilpädagogischen Fachabteilung zum Erstgespräch ankommen, nimmt die Heilpädagogin/Beraterin zu einem liebenswerten kleinen Jungen mit Fußball unter dem Arm und einer sympathischen, gestresst wirkenden Mutter Kontakt auf. Als das Joining (Kiessl 2019, S. 54) und die Erklärungen über die Familienheilpädagogik in der psychosomatischen Fachklinik durch die Beraterin abgeschlossen sind, setzt Frau A. dazu an, vor Lukas in die Problembeschreibung einzusteigen. Lukas wird beim Luft- und Ausholen seiner Mutter sichtlich etwas kleiner.

Gedanken und Fragen der Heilpädagogin/Beraterin

  • Wie gelingt es mir, Lukas zu erreichen, eine gute Kooperation und einen Kontakt hinzubekommen sowie gleichzeitig seine Mutter in ihrer Not zu würdigen und auf ihre Bedürfnisse einzugehen?

  • Doch wo liegen die Bedürfnisse von Lukas und hat er überhaupt ein Anliegen?

  • Wie verläuft die Kommunikation zwischen Mutter und Sohn und was hat das mit ihrer Beziehung zu tun? Die Idee ist: Verändert sich die Beziehung, verbessert sich möglicherweise die Kommunikation (was schon Paul Watzlawick in seiner Kommunikationstheorie festgezurrt hat).

  • Kann sich hier in der »Familienheilpädagogik« ein neuer Raum öffnen, in dem die beiden einander zuhören, in einen guten Kontakt kommen und sich das beobachtete Kommunikationsmuster durchbrechen lässt?

  • Wie gestaltet sich die Beziehung im Dreieck Mutter – Sohn – Heilpädagogin/Beraterin?

  • Wie kann es mir gelingen, nicht in die Problemtrance einzusteigen und die mangelnde Kommunikation und ersichtlich belastete Beziehung zu manifestieren?

Weiter im Fallgeschehen

Bevor es dazu kommt, sich in problematischen Beschreibungen zu verfangen, lädt die Heilpädagogin/Beraterin die beiden ein, sich auf ein gestalterisches Spiel einzulassen, in dem es darum geht, Schätze an alle Familienmitglieder und sich selbst zu verschenken. Jedes Familienmitglied wird mit einem Teller auf dem Tisch mit Namen versehen repräsentiert. Da die Familie groß ist, dauert das Ganze etwas. Es stehen insgesamt fünf Teller auf dem Tisch. Lukas hat noch zwei deutlich kleinere Halbgeschwister aus der aktuellen Partnerschaft. Zu seinem leiblichen Papa hat Lukas guten und regelmäßigen Kontakt.

Einmal werden »Edelsteine« als positive Eigenschaften, Stärken oder etwas, was jemand gut kann (wenn es schwerfällt, etwas Positives an sich oder anderen zu finden), verschenkt und benannt. Anschließend werden Wünsche formuliert und Bedürfnisse an die anderen adressiert.

Frau A. ist zunächst überrascht, genauso Lukas, der entlastet ist und sich nicht mehr im Zentrum der öffentlich gemachten, mütterlichen Kritik sieht. Das Problem drückt besonders Frau A. Sie hat Stress und erhofft sich Entlastung. Die Heilpädagogin/Beraterin begründet ihren Vorschlag mit ihrem Wunsch, die beiden und die nicht anwesenden Familienmitglieder zunächst einmal etwas besser kennenlernen zu wollen. Im Zuge dessen sollen anhand des Spiels, insbesondere mit den formulierten Wünschen, im Ergebnis gemeinsame Anliegen formuliert werden. Lukas ist begeistert dabei und Frau A. springt über ihren Schatten.

Der Fokus auf die guten Eigenschaften und Ressourcen des Einzelnen sowie der Familie und dem Hören und Erzählen der damit verbundenen Geschichten, des Weiteren die spielerische Interaktion ermöglichen es beiden, sich in einer gewissen Leichtigkeit freudvoll und interessiert zu begegnen. Es gelingt, sich zuzuhören und an der Ressource gute Beziehung anzuknüpfen, die bei Beratungsbeginn einer gewissen Problemtrance zum Opfer gefallen ist, und beide schaffen es, sich nicht »im Problem zu verhaken«. Der Alltag und die Mutter-Sohn-Interaktion sind durch die Problemzuschreibungen überlagert und andere oder neue Sichtweisen an sich schwer zu verankern. Die Zugänge zueinander sind dadurch erschwert.

Es gelingt anschließend kooperativ, das zentrale Anliegen beider aufzugreifen, nämlich die Beziehung zueinander zu verbessern. Die anschließende Auftragsklärung und das Kontrakten gelingt sehr schnell. Es kann nun mit beiden konstruktiv an ihren formulierten Themen gearbeitet werden, was in Folge auch geschieht. Das System organisiert sich selbst weiter neu.

Die Heilpädagogin/Beraterin arbeitet weiter ressourcen- und lösungsorientiert. Gleichermaßen bekommt das Thema, wie Lukas seine Familie erlebt, eine größere Bedeutung. An dieser Stelle wird der Auftrag erweitert und Lukas eingeladen, mit Tierfiguren und Materialien seine Familie aufzustellen. Diese Chance nutzt er. Seine Mutter hört und sieht zu. In der Aufstellung bilden sich überraschend tiefgehende familiäre Themen ab, die Lukas mit großer Feinfühligkeit und Sensibilität wahrgenommen und getragen hat.

Am Ende der Beratung gelingt es Frau A. zu erkennen, dass sie sehr viele Gemeinsamkeiten mit ihrem Sohn hat. Lukas gelingt es, seine Befürchtungen und Emotionen bezüglich einem in der Beratung aufgedeckten Familiengeheimnis zu formulieren, das im Gespräch bearbeitet werden kann. Er hat Sorge um seine Mutter. Sie ist häuslicher Gewalt durch den aktuellen Lebenspartner ausgesetzt. Emotionen haben Platz: Ängste, Sorgen, Wut und Trauer. Sie sind da und werden zum Teil in Worte gepackt und geteilt. Das Geheimnis wird in den Beratungsraum gestellt, findet ein Außen und durch die anwesende Heilpädagogin/Beraterin eine gewisse Öffentlichkeit.

Das Thema kann gemeinsam besprochen werden und die beiden finden eine Lösung, wie es Entlastung für Lukas geben kann und was er dafür benötigt. Es entsteht eine große Verbundenheit zwischen Mutter und Sohn. Durch den geteilten Lösungsraum, das Expertentum von Lukas und seiner Mutter entwickelt sich in Kombination mit vielen Ressourcen in wenigen Sitzungen ein wunderbares und zusätzlich überraschendes Ergebnis.

Weitere Gedanken der Heilpädagogin/Beraterin

Ich spüre eine Verbundenheit in und mit der Familie. Bei mir stellt sich eine emotionale Berührtheit ein, eine Resonanz verbunden mit einem respektvollen Staunen über das Ergebnis, den Flow und die veränderte Beziehung zwischen Mutter und Sohn. Die Verbundenheit konnte sich durch eine gute Verabschiedung sowie...


Heidrun Kiessl ist Professorin für Heilpädagogik und Beratung an der Katholischen Hochschule Freiburg. Eckehard Herwig-Stenzel ist Supervisor und Coach für Führungskräfte und Organisationsberater in eigener Praxis. Jutta Reif ist Heilpädagogin und systemische Therapeutin in einer Beratungsstelle.



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