Buch, Deutsch, 220 Seiten, PB, Format (B × H): 148 mm x 210 mm, Gewicht: 380 g
..von den Verstrickungen - Werden, wer wir wirklich sind
Buch, Deutsch, 220 Seiten, PB, Format (B × H): 148 mm x 210 mm, Gewicht: 380 g
ISBN: 978-3-9812119-7-9
Verlag: holotropos-Verlag
Dieses Buch führt uns durch das Labyrinth der Konditionie-rungen, die unsere Antwort auf die allerersten Lebenserfahrungen sind. Diese Konditionierungen sind Strategien geworden, die unseren Charakter und unsere Lebensart geformt und oft eingeschränkt haben. Wenn wir die Quelle des Lebens in uns wieder entdecken, dann können wir wieder alle unsere Möglichkeiten genießen - als Menschen, gesund an Körper und Geist.
Zielgruppe
Alle erwachsenen Menschen, die ihr Leben befreit von den Mustern und Zwängen frühkindlicher Prägungen gestalten möchten.
Weitere Infos & Material
Inhalt
Vorwort 10
Einleitung 13
Kapitel 1 – Die äußere Welt 20
Druck 21
Deadline 22
In Ordnung! 23
Inhärentes Ziel 24
Nichts mehr müssen 25
So tun als ob 25
Managementtraining 26
Das Spiel 27
Machtspiele 28
Verlierer 30
Spiel ohne Verlierer 31
Übung 32
Kapitel 2 – Die innere Welt 34
Lebensrhythmus 34
Gefühl 35
Emotionen 36
Stagnation 37
Sexualität 37
Samt 39
Du 40
Ratatouille 41
Orgiastischer Reflex 41
Fließen 43
Kummer, Wut, Trauer 44
Therapie 46
Körperorientierte Therapie 48
Therapie kann sehr vielfältig sein 48
Alles kann helfen, oder auch nicht 50
Übung 50
Kapitel 3 – Verliebtheit und Liebe 54
Verliebtheit 54
Droge 55
Wiederholung von Schmerz aus der Kindheit 56
Fremdbestimmung 57
Liebe 58
Verantwortung 60
Abhängigkeit 62
Vermasseln 63
Übung 65
Kapitel 4 – Angst 67
Bindungsangst 67
Casanova, Fernbeziehung und Dreiecksbeziehung 68
Trennungsangst 69
Angst und Erziehung 71
Angst und Stress 72
Physiologische Antwort 73
Veränderungen im Gehirn 74
Dissoziation (Abspaltung) 75
Das Pferd von hinten aufzäumen 75
Überleben 76
Grenzen 77
Hyperventilation 78
Übungen 80
Kapitel 5 – Der dunkle Abgrund 85
Ausgebrannt 85
Leere 86
Die Quelle 86
Die Quelle und der Drachen 88
Singen aus der Quelle 89
Atem 90
Löcher auffüllen 92
Geburt, Tod und Transzendenz 93
Freiraum 94
Paradies 95
Übungen 97
Kapitel 6 – Geistesgegenwart 100
Ohne Zweifel 100
Draußen ist es dunkel 102
Abenteuer im Raum 102
Innere Hochzeit 103
Natürliches Gefühl 104
Meditation 105
Idealbild 106
Übung 107
Kapitel 7 – Wie ein Charakter entsteht 110
Geburtstrauma 110
Urvertrauen 111
Innere Stimmen 111
Wo ist das Kind geblieben? 112
Fließend und lebendig 114
Der blockierte Mensch 116
Der Glückskreis und der Teufelskreis 116
Strategien 117
Neurotisches Verhalten 120
Übungen 121
Kapitel 8 – Der Körperpanzer 124
Der Harnisch 124
Augen-, Ohren- und Nasenbereich 125
Kieferbereich 127
Nacken- und Kehlbereich 127
Herzbereich 128
Taillenbereich 129
Bauchbereich 130
Beckenbereich 131
Körperstruktur 132
Übung 133
Kapitel 9 – Charakterstrukturen 137
Angeborene Rechte 137
Das Recht, zu leben 138
Das Recht, Bedürfnisse haben zu dürfen 139
Autonomie 140
Sexuelles Verlangen 141
Emotionale Gesundheit 142
Charakter 143
Übung 145
Kapitel 10 – Charakterstrukturen,
entstanden in der prägenitalen Phase 147
Der schizoide Charakter 147
Die schizoide Körperstruktur 150
Der orale Charakter 151
Die orale Körperstruktur 155
Der masochistische Charakter 155
Die masochistische Körperstruktur 161
Übungen 162
Kapitel 11 – Charakterstrukturen,
entstanden in der genitalen Phase 166
Der rigide Charakter 166
Experimentieren 166
Spiegel 168
Inzest 171
Werte und Normen 174
Die rigide Körperstruktur 175
Der passiv-feminine Charakter bei Männern 176
Die passiv-feminine Körperstuktur bei Männern 178
Der zwanghafte Charakter bei Männern 178
Die zwanghafte Körperstruktur bei Männern 179
Der aggressiv-maskuline Charakter bei Frauen 179
Die aggressiv-maskuline Körperstruktur bei Frauen 181
Der hysterische Charakter bei Frauen 181
Die hysterische Körperstruktur bei Frauen 184
Der phallisch-narzisstische Mann 184
Die phallisch-narzisstische Körperstruktur 186
Der psychopathische Charakter 186
Scheinwelt 188
Manipulieren 188
Misstrauen 191
Die psychopathische Körperstruktur 192
Übungen 193
Kapitel 12 – Typische Verhaltensweisen 198
Die Charakterstrukturen und der Abgrund 198
Unirdisch 198
Es ist nie ganz gut 200
Ächzen und Stöhnen 201
Kampf 201
Beschwörungsformeln 202
Übungen 203
Kapitel 13 – Das tiefste Verlangen 205
Entfaltung 205
Der Kern 206
Das tiefe Verlangen 207
Initiation 208
Der dreidimensionale Spiegel 209
Fruchtbarer Nährboden 210
Übung 212
Nachwort 215
Literatur 218
Bildverzeichnis 219
3. Kapitel
Verliebtheit und Liebe
Verliebtheit
Da sehen wir auf einmal ein wundervolles Wesen, einen Wärme und Liebe ausstrahlenden Quell von Genuss vor uns, wonach wir uns schon so lange gesehnt haben. Es scheint, dass er oder sie uns alles geben wird, wonach wir uns sehnen.
Hanna, 29 Jahre alt, hat Eltern, die schon seit ihrer Geburt viel im eigenen Betrieb beschäftigt sind. Dadurch gibt es oft Spannungen, und ihr Vater trinkt zu viel.
Frank, 34 Jahre alt, hat eine Mutter, die schwach ist und viel klagt.
Hanna und Frank sind über beide Ohren verliebt ineinander und können nicht voneinander lassen. Sie zeigen das auch deutlich mit Aussprachen wie: „Du bist Alles für mich – ich kann mir ein Leben ohne Dich nicht mehr vorstellen ¬– ohne Dich hat mein Leben keinen Sinn mehr – wir werden zusammen alt – andere können Dir nicht das Wasser reichen – Du bist eine aus Tausenden – Du bist das Ende – ich will alles mit Dir – ich könnte ganz in Dich kriechen – ich will immer bei Dir sein und ich will nie wieder weg von Dir!“
Sie haben einander fest im Griff. Das Szenario ist schon festgelegt. Die Sehnsucht, so oft und so nahe wie möglich in der Nähe des Anderen zu sein, hat die Illusion ins Leben gerufen, dass sie sich völlig übereinstimmend gefunden haben. So, wie ein Baby an der Mutterbrust, verschmelzen sie miteinander. Das glückselige, warme, wonnige Gefühl, das ein Säugling hat, wenn er getrunken hat und an der warmen Mutterbrust liegt, erleben sie während intensiver Umarmungen. Es fühlt sich an wie ein herrlicher Zustand. Der Energiehaushalt kommt in Balance und ihr Körper ist selig entspannt. Im Kontakt mit dem Anderen wird ein Teil des eigenen ursprünglichen Wesens fühlbar. Dieser Teil wird unmittelbar auf den anderen projiziert. Jeder ist für den Anderen Vertreter des ursprünglichen eigenen Gefühls geworden.
Droge
Eigentlich wirst Du durch den Anderen verliebt in Dich selbst. Ver-liebtheit ist also eine fantastische Art, mit Dir selbst tiefer in Kontakt zu kommen. Du denkst, dass Du süchtig bist nach Deiner Geliebten. Die wirkliche Ursache Deiner Sucht sind die Neurotransmitter Dopamin und Phenylethylamin (das ist auch in Schokolade enthalten), die Dein Körper selbst produziert, wenn Du verliebt bist. In dem Rausch wird die Illusion aufrechterhalten, dass der/die Geliebte jede Sehnsucht erfüllen wird. Wenn es zu wenig Wärme und Liebe in der Kindheit gegeben hatte, ist die Gefahr groß, dass jetzt vom Geliebten erwartet wird, dass er den Mangel vollständig gut machen wird. Der andere wird der Glücksbringer, ohne den das Leben sinnlos erscheint.
Nach einiger Zeit werden weniger dieser Neurotransmitter produ-ziert. Der Rausch geht vorbei. Manche werden alles tun, um die Verliebtheit zu bewahren, und setzen dazu eine Maske auf, die ausdrückt: „Oh, wir sind so glücklich.“ Sie haben ihre Autonomie aufgegeben und leben ab jetzt in einer Verschwörung.
Wenn der Rausch nachlässt, werden die weniger angenehmen Eigenschaften des/der Geliebten schneller signalisiert. Oder, wenn jemand seine eigenen, weniger angenehmen Seiten nicht sehen will, besteht die Gefahr, dass er/sie diese auf die/den Geliebten projiziert. Die süßen Worte verändern sich dann immer mehr in scharfe Bemerkungen und Vorwürfe. Das kommt durch den Schmerz, die Wut und die Traurigkeit über das verlorene Paradies. Der andere bekommt die Schuld. Die erst so geliebte Person wird jetzt eine Person, die Unfrieden hervorruft. Jeder fühlt sich als das Opfer des anderen.
Vor einem Jahr waren sie noch bis über die Ohren verliebt, Frank und Hanna. Sie haben vor kurzem zusammen eine Wohnung gekauft, wo sie jetzt zusammen wohnen.
Frank: „Ich habe all das Gerede satt. Du machst mich verrückt. Ich geh jetzt weg, muss raus.“
Hanna: „Du meinst wohl: in die Kneipe. Lauf nur weg vor deiner Verantwortung. Hau doch ab, wenn man mit dir nicht mal ordentlich reden kann.“
Wiederholung von Schmerz aus der Kindheit
Sie sind jetzt dabei, die schmerzhafte Situation ihrer Kindheit zu wiederholen. Hanna fühlt sich ihrem Schicksal überlassen, genau wie früher, als ihre Eltern beschäftigt waren und keine Zeit für sie hatten. Und Frank hört in seiner Geliebten seine klagende Mutter wieder. Die Befreiung, die während der Verliebtheit möglich schien, ist als Schnee unter der Sonne verschwunden. Sie befinden sich abwechselnd in der bestrafenden Elternrolle oder in der Opferrolle. Dieses Szenario war bei Frank und Hanna vorherzusehen. Die Sprache, die sie benutzten, war besitzergreifend und zeugte von wenig Selbstständigkeit.
Verliebtheit ruft auch manchmal Scham hervor, zum Beispiel bei Macho-Männern. Die haben eine Programmierung, dass sie nicht klein und verletzlich sein dürfen. Sie lassen es sich dann nicht an-merken, dass sie verliebt sind und tun ein bisschen cool und dis-tanziert.
Es gibt auch noch eine Art von Verliebtheit bei Frauen, die gerade ein Kind geboren haben. Zugleich mit der Geburt des Kindes wird die Mutter neu geboren. Über das Kind kommt die Mutter in Kontakt mit ihren eigenen Kernqualitäten wie Liebe, Wärme, Sanftheit, Ehrerbietung vor dem Leben und Vertrauen. Die frische Reinheit des Babys kann diese bei ihr wecken.
Auch diese Verliebtheit kann sich verändern in Abneigung und Hass. Zum Beispiel, wenn das Kind nachts oft weint und jeden vom Schlafen abhält.
Bei einer Mutter, die das Baby als einen Teil von sich selbst erfährt und gleichzeitig die Eigenheit des kleinen Wesens sieht und respek-tiert, wird das nicht geschehen. Ein Baby zu haben kann dazu bei-tragen, erwachsen zu werden.
Fremdbestimmung
Durch die Illusion, dass Liebe von außen kommt, was die Abhän-gigkeit von anderen impliziert, wird Liebe ein seltenes Gut, etwas, das man verlieren kann. Eine der Strategien, dieses zu vermeiden ist ein Tauschhandel:
“Ich gebe Dir meine Zuwendung, Wärme und Liebe, dann werde ich im Tausch dafür wohl Deine Zuwendung, Wärme und Liebe bekommen.“
„Ich liebe Dich so sehr, dann musst Du auch mich lieben.“
„Ich finde Dich nett, dann musst Du auch mich nett finden.“
Du kannst Dein ganzes Leben immerzu „Liebe“ geben und abwarten bis Du etwas dafür zurückbekommst. Auf diese Weise wirst Du nie etwas so zurückbekommen, wie Du das gerne hättest. Liebe ist nicht etwas, das Du bekommst. Aber Du bekommst nach einiger Zeit schon etwas: Vorwürfe. Und das, wo Du doch dachtest, dass Du Dein Bestes getan hast und doch das Gefühl hattest, dass es nicht gut genug war. Die Folgen sind: Du fühlst Dich verletzt, zu kurz gekommen, und ein Opfer – mit einer Kette von unliebsamen Reaktionen. Zum Beispiel, jemandem bis zur Erschöpfung noch mehr Liebe zu geben zu versuchen. Du gibst gar keine Liebe, sondern ge-brauchst eine Strategie, um Deine eigenen Bedürfnisse zu erfüllen, wodurch der andere Deine Liebe erfährt wie eine Forderung. Für jemanden, der gewöhnt ist, immer zu geben, ist es schwierig zu entdecken, ob es hier um einen Tauschhandel geht. Sehr viele Menschen glauben selbst an diese Maske:
„Ich finde es so schön zu geben. Ich brauch nichts dafür zu haben, nur ein bisschen Dankbarkeit. Und jetzt bekomme ich nur "Gestank" statt Dank“.
Dieses Klagelied ist ein gutes Beispiel für Tauschhandel. Liebe ist nicht etwas, das Du gibst. Sie ist da und fließt aus dem Herzen. Eines ist sicher: Wenn Liebe strömt, dann fließt sie auch zu dir selber. Das heißt auch, wenn Du Dich nicht selbst liebst, kannst Du auch keinen Anderen lieben.
Manche tun so, um des lieben Friedens willen, als wenn sie froh wären mit einer “gnädigen Spende“. Das hat jedoch seinen Preis. Wenn sie versuchen, hierdurch ihre Unzufriedenheitsgefühle zu unterdrücken, kann das zu Depression führen.
Liebe
Jemand, der die Wirklichkeit akzeptiert, wie sie ist, und nicht wie er denkt, dass sie sei, oder wie er gerne wollte, dass sie sein sollte, wird seine Bedürfnisse äußern und sich auch trauen, um etwas zu bitten. Er geht davon aus, dass der andere nicht verantwortlich ist für die Befriedigung seiner Bedürfnisse, und einfach „Nein“ sagen kann und darf. Beide sorgen damit gut für sich selbst und behandeln damit den anderen mit Respekt. Liebe wird dann eine Angelegenheit, die dem anderen Spielraum gibt. Es wird nichts erzwungen und nichts verlangt. Respekt, Dankbarkeit und Liebe liegen dann auf einer Linie mit einem Verhalten, das von beiden Seiten von Herzen kommt. Liebe kann man nicht erzwingen.
Wenn Menschen im Stande sind, auch ohne einander zu leben, ist da ein Platz für die Liebe. Wenn man sich dann entscheidet, mit- einander zu leben, wird diese Wahl nicht aus einem Mangel heraus getroffen, sondern aus einem Überfluss. Wenn dann gesagt wird: „Ich liebe Dich“, ist das der Ausdruck dieses Überflusses. Diese er-wachsene Haltung resultiert daraus, dass man sich seines Handelns und Denkens bewusst wird, ohne es zu beurteilen. Ab einem bestimmten Punkt kannst und willst Du nichts Anderes mehr, weil Du das wirkliche Potential an Liebe, Wärme, Zärtlichkeit, Kraft und Vertrauen mit seinen so vielen individuellen Ausdrucksformen entdecken wirst. „Ich liebe Dich“ oder „ich hab Dich lieb“ ist dann eigentlich ein Ausdruck, der zu schwach ist, dieses umfassende Gefühl zum Ausdruck zu bringen.
Nina, 47 Jahre alt:
Der Mann, auf den sie völlig verrückt ist, Dietrich, geht nicht ein auf das, was sie sich vorstellt: zusammen zu wohnen und vieles gemein-sam zu unternehmen. Im Gegenteil: er entfernt sich immer weiter von ihr weg. Er hat andere Freundinnen, und zeigt wenig Aufmerksamkeit für Nina und für alles, was sie so beschäftigt. Sie leidet darunter. Sie probiert alles, um ihn zu verführen. Es hat den entgegengesetzten Effekt. Dietrich hält sie an der Leine. Sie ist eine Art verfügbare Versicherung für ihn. Sie haben manchmal Sex miteinander. Danach verschwindet er und lässt nichts mehr von sich hören. Sie ist diejenige, die immer wieder Kontakt aufnimmt. Sie fühlt sich dann wie eine Bettlerin und minderwertig. Sie versucht alles, um sich von ihm zu lösen und von diesem Leiden erlöst zu werden. Es gelingt ihr nicht. Sie fühlt sich wie eine Süchtige, die von Dietrich abhängig ist. Ihre Verzweiflung wird stetig größer, bis sie in eine Krise kommt.
Sie hört jetzt auf, alles Mögliche von ihm zu erwarten und braucht deshalb auch nicht mehr so dringend die Erlösung durch ihn. Sie akzeptiert, dass sie nicht anders kann als ihn zu lieben, was auch immer er tut und lässt. Und das ist der Wendepunkt, wonach sie nicht mehr versucht, die Wirklichkeit zu beeinflussen, sondern ihn und sich selbst so lässt, wie jeder ist. Sie hört auf, sich selbst und ihn zu kontrollieren.
Und das bewirkt, dass etwas ganz anderes passiert. Dietrich ist nicht mehr so überlebensgroß in ihr anwesend. Ihre Sehnsucht ist schon noch da, aber sie hat sie nicht mehr so total im Griff. Und dann ruft Dietrich auf einmal von selbst an. Und das war schon lange nicht mehr geschehen.
Verantwortung
Wenn wir altem Kinderschmerz über nicht erfüllte Sehnsüchte Raum geben, kann dieser auf eine sicherere Art aufs Neue erlebt und so verarbeitet und losgelassen werden. Dann ist Sanftheit und Verletzlichkeit nicht mehr automatisch gekoppelt an Traurigkeit und Schwäche, sondern eine offene Ausgangsbasis, um das Aben-teuer “Leben“ anzugehen. Es findet eine Transformation statt: vom Überleben mit einer Strategie zum wirklichen Leben. Dies bedeutet, dass wir eine tragfähige Basis von liebevoller und spielraumgeben-der Zuwendung für uns selbst schaffen, ohne (Ver-)Urteilen. Wir geben uns selbst Liebe. Wir gehen mit der Wirklichkeit so um, wie sie ist, und nicht, wie wir nur denken dass sie wäre, oder wie sie sein sollte. Wir wenden uns nach draußen und fühlen uns gleichzeitig verantwortlich für uns selbst, für unsere Umgebung, und das beinhaltet auch: für die Erde. Wir rechnen nicht mehr ruchlos mit der Erde als einer ewigen Quelle des Überflusses, ohne auch für sie zu sorgen. Wir erfahren und trauen uns zu sehen, dass das, was wir tun, auch wieder zu uns zurückkommt, und dass wir das, was wir schaffen, auch zurückgespiegelt bekommen. Wir erleben, wie die Qualitäten unseres Wesens auf einem fruchtbaren Boden Früchte tragen – und wie diese einander wieder befruchten.
Adolf, 36 Jahre alt:
„Ich bin am Strand mit einer Freundin, die es in der letzten Zeit gerade etwas schwer hat. Ich weiß sehr gut, wie sie sich fühlt, ich habe gerade selbst ein schlimmes Burn-out hinter mir. Das Wahrscheinlichste ist, dass ich mich mit runter ziehen lasse, wenn wir darüber reden, was alles nicht stimmt. Ich habe keine Lust darauf. Eine Möwe fliegt über uns weg. Der Strand ist noch still und breit. Es ist gerade Ebbe. Ich nehme sie in meine Arme. Sie seufzt tief und gibt sich der Umarmung hin. Während wir so eine Weile mit unseren Füssen im Wasser stehen, beginnt sie leise zu weinen. Ich halte sie weiter in meinen Armen, bis sie selbst vorschlägt, ein bisschen weiter zu gehen. Als ich sie von der Seite anschaute, sah ich, dass ihr Gesicht ganz entspannt war. Auf einmal sagte meine Freundin, dass ihr deutlich wird, dass sie eine Fortsetzung ist von einer langen Reihe von Generationen und eine Basis für zukünftige Generationen. Und wie sehr das Heute durch die Vergangenheit bestimmt wird, und wie es auch die Zukunft bestimmen wird, wenn wir aus unseren Konditionierungen heraus leben. ‚Ich schöpfe eigentlich die ganze Zeit mein Leben aus meinem Geklage, anstatt auf eigenen Beinen zu stehen‘, sagte sie. ‚Fühlen, was ich brauche und darum bitten, ist eigentlich viel effizienter. Ich hätte Dich auch einfach fragen können, mich eben mal in die Arme zu nehmen. Ich kam nicht mal auf die Idee. Und wenn ich auf die Idee gekommen wäre, würde ich wahrscheinlich schmachtend und sehnsüchtig abwarten oder Dich ein bisschen verführen. Einfach fragen ist nicht betteln, obwohl es sich so anfühlt. Ich hab eigentlich Angst, dass Du nein sagen könntest. Und wenn schon!‘ So sprach sie noch eine Zeitlang weiter. Das Bemerkenswerte ist, dass mein einfacher Impuls, nicht mit ihr mitzuquatschen, sondern sie eben einfach in die Arme zu nehmen, bei ihr etwas berührte, wodurch sie mit ihrer eigenen Tiefe und ihren Möglichkeiten in Kontakt kam. Ich tat einfach etwas, worauf ich in dem Moment Lust hatte. Und nun schau mal, wie effizient das war."
Die Begegnung mit unserem ursprünglichen Wesen ist also gleichzeitig eine Begegnung mit Freiheit, Unabhängigkeit und Liebe. Mit anderen Worten: mit "Erwachsensein" im Sinne von Ausgewachsensein. Und das bedeutet: im Stande zu sein, effektiv zu handeln, wie es die Situation erfordert.
Abhängigkeit
Abhängigkeit voneinander und Liebe werden oft miteinander verwechselt. Es ist das Bekannte: “Ich kann nicht leben ohne sie oder ihn.“ Wenn der andere dann plötzlich nicht mehr da ist, sei es durch Tod oder am Ende einer Beziehung, kann das zu heftigen Entzugs-erscheinungen führen. Jemand, der im Stich gelassen ist, fühlt sich dann genau so frustriert wie ein Alkoholiker oder ein Drogenabhängiger, der zum Entzug gezwungen wurde. Dadurch, dass Liebe und Abhängigkeit miteinander verwechselt wurden, scheinen die Beschuldigungen und Vorwürfe an die Adresse desjenigen, der jemanden freiwillig verlässt, gerechtfertigt. Der andere hat das ihm oder ihr alles angetan und ihn in die Einsamkeit geworfen. Und die Gesellschaft sieht das auch nicht anders. Symbiotisch eingestellte Freunde und Bekannte können dann, durch eigene Ängste vor solch einem Verlust, die Situation noch wesentlich schlimmer machen. Die Opferrolle wird durch die Umgebung bestätigt. Dies hilft dem Betroffenen nicht, im Gegenteil: Die Verarbeitung des Verlustes stagniert. Die Wut, der Schmerz und die Trauer von demjenigen, der verlassen wurde, werden gerinnen zu Beschuldigungen, Vorwürfen und Hass. Die Leere, die so fruchtbar hätte sein können, ist damit schon wieder aufgefüllt und es kommt nicht dazu, dass man sich öffnet, und nach dem anderen die Hand ausstreckt. Der einst so geliebte Andere, der alle Sehnsüchte zu erfüllen schien, ist jetzt ein Feind geworden, und die Liebe hat sich in Hass verwandelt.
Vermasseln
Wenn wir nicht gefangen sind im Tauschhandel, keine anderen Strategien anwenden und uns glücklich fühlen in einer Liebesbe-ziehung, können wir trotzdem auf einmal mit dem falschen Bein aus dem Bett steigen und uns ohne einen Grund über etwas ärgern. Was ist das bloß für ein Mechanismus?
Hingabe an die Liebe wird manchmal verglichen mit Hingabe an den Tod. Es kann sich anfühlen, als ob Du Dich auflöst. Es fühlt sich eher bedrohlich an als transparent und leicht. Es ist anziehend und angenehm, und zugleich auch beängstigend. Warum kann etwas, das so herrlich ist, gleichzeitig beängstigend sein und nicht nur als eine Bereicherung erlebt werden? Das ist zurückzuführen auf die Kindheit. In praktisch allen Fällen waren nach unserer Empfängnis Momente oder Perioden von Glück, die durch die Liebe unserer Mutter und unserer Umgebung genährt wurden. Aber es gab auch Momente von Schmerz und Streit. Beide tragen wir wie eine Blau-pause mit uns. Wenn wir keine autonomen, stabil in uns selbst verankerten Wesen geworden sind, werden wir Liebe und Glück weiterhin erleben wie damals, als wir klein waren: als etwas, das von außen kommt. Manchmal war es da, manchmal nicht. Wir können es also verlieren. Das hält uns in seinem Bann. Wenn das wahre Glück auf einmal da zu sein scheint und wir uns nicht dafür an-strengen müssen, fühlt sich das an wie ein Ende, wo nichts mehr zu wünschen oder streben übrig bleibt. Ein Loch! Wenn wir nicht stabil in uns selbst verankert sind, lösen wir uns darin auf und versuchen das rasend schnell wieder zu verändern. Wir verderben uns unser Glück. Wir machen Stunk, machen aus Nichts ein Problem und haben damit alle Hände voll zu tun. Dann fällt alles auf seinen Platz. Das Loch ist wieder gefüllt. Der volle Reichtum von Liebe und Glück ist wieder ein seltenes Gut geworden. Die Situation kennen wir. Das ist vertraut. Das gibt uns ein Gefühl von Substanz statt eines Gefühls von Auflösung.
Wenn Du ein autonomes Wesen bist, kannst Du umgehen mit Dei-ner Angst vor Hingabe, zum Beispiel an die Liebe. Du traust Dich, sie zu genießen und Dich damit glücklich zu fühlen. Liebe impliziert, anstatt eines „Entweder-oder“ ein „Sowohl-als-auch“-Denken, wobei die Dinge erlebt werden, so wie sie sind und wie eine Erweiterung gesehen werden, anstatt wie eine Bedrohung. Ein Bei-spiel dafür ist, wie Etty Hillesum das Konzentrationslager ertragen hat. Sie akzeptierte, was war, und wurde reicher durch die Erfahrung, anstatt sich dadurch beschränken zu lassen. Sie ließ sich ihre Liebe für das Leben nicht abnehmen durch die schwierigen Umstände. (Anm. d. Ü.: Hetty Hillesum, eine 30 jährige holländische Jüdin, wurde in Auschwitz ermordet. Ihre Tagebücher wurden 40 Jahre später gefunden).