E-Book, Deutsch, 552 Seiten
King DIE KURATORIN
Deutsche Erstausgabe
ISBN: 978-3-946330-50-9
Verlag: Buchheim Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
mit einem Nachwort von Joe R. Lansdale
E-Book, Deutsch, 552 Seiten
ISBN: 978-3-946330-50-9
Verlag: Buchheim Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
OWEN KING ist der Autor von Double Feature und We're All in This Together, sowie Co-Autor von Sleeping Beauties. Er ist Mitherausgeber von Who Can Save Us Now?. Sein neuester Roman DIE KURATORIN wurde im März 2023 veröffentlicht und erschien auf Deutsch im Buchheim Verlag. Owen lebt mit seiner Familie im Hinterland von New York.
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NEUE LEUTE
Vor dem Aufstand hatte sie als Teil des Gesindes der Nationalen Universität gearbeitet, nun jedoch plante D, sich eine Stellung in der Gesellschaft für Psychikalische Forschung zu verschaffen. Überall in der Stadt würde man neue Leute brauchen – nicht wahr? –, um die Posten neu zu besetzen, die zuvor Mitglieder des abgesetzten Regimes und deren Anhänger innegehabt hatten. Dies traf nicht nur für die Regierung und das Militär zu, sondern zog sich durch das gesamte alltägliche Leben, wo jede Stelle in Schulen und Geschäften, Gaswerken und Theatern unter der Fuchtel der herrschenden Eliten gestanden hatte, solange man zurückdenken konnte.
Obwohl sie sich nur ein einziges Mal, als junges Mädchen, innerhalb der Mauern der Gesellschaft aufgehalten hatte, war ein Bild davon in Ds Erinnerung verblieben, das Bild vom »Großen Saal«, wo sie eines Morgens darauf gewartet hatte, dass ein Dienstbote ihren älteren Bruder holte, der damals Juniormitglied gewesen war. Der rot-goldene Teppich auf dem Boden hatte für ihre Kinderaugen so dick ausgesehen, dass man eine Murmel darin verstecken könnte. Die hohen Regale an den Wänden waren voller Bücher. An einem Schreibtisch hatte sich eine Frau in dramatischem Blau über ein dickes Buch gebeugt und Linien mit Kompass und Lineal markiert. Auf einer ordentlichen kleinen Bühne war eine Ausstellung von Zaubertricks aufgebaut. Von der Decke hing ein großes Mobile des Sonnensystems, dessen Zentralgestirn so groß wie ein Krocketball war und dessen elf Planeten die Größe von Billardkugeln hatten. Und vor dem Kamin hatte ein feiner Herr in Tweedhose in einem Ledersessel gesessen und mit einem Lächeln auf den Lippen und unter den Achseln eingeklemmten Händen geschlafen.
In den schwierigen Jahren im Anschluss an ihren einmaligen Besuch hatte sich D oft in die Vorstellung von der Ruhe und den Möglichkeiten zurückgezogen, die dieser geräumige und zivilisierte Raum zu bieten schien. Wenn solch ein perfekter Raum in einer Stadt wie dieser in aller Stille existieren konnte, vielleicht verbarg sich dann dahinter noch etwas anderes, etwas mehr – ein anderer Teil des Lebens.
Ihr Besuch der Gesellschaft und ihres Großen Saals hatte vor etwa fünfzehn Jahren stattgefunden, zu einer Zeit also, als die Auflehnung gegen die Wohlhabenden und Mächtigen noch unvorstellbar war. Nicht lange danach war ihr Bruder Ambrose nach einem kurzen Anfall von Cholera gestorben. Die beiden Ereignisse, der Besuch und Ambrose’ Tod, waren in ihrer Gedankenwelt miteinander verknüpft.
D dachte oft an die letzten Worte ihres Bruders. Sie waren voller Ehrfurcht gewesen, heiser, aber klar. »Ja, ich sehe dich. Dein … Gesicht.«
Wessen Gesicht? Ambrose war absolut verschlossen gewesen, hatte immer Ausflüchte gemacht und manchmal Dinge gesagt, von denen D nicht wusste, ob sie sie glauben oder ernst nehmen konnte. Einmal hatte er ihr erzählt, es gebe andere Welten. Vielleicht stimmte das. D war beinahe sicher, dass er in jenen letzten Momenten etwas gesehen hatte; keine Halluzination, sondern etwas Reales und Erstaunliches. In seiner Stimme hatte Überzeugung gelegen.
Falls es ein Leben nach dem Tod gab, ein Jenseits – etwas anderes, überhaupt irgendetwas –, dann war es ihr Bruder, den D dort vorfinden wollte.
Im Erwachsenenalter hatte sie dieser Hoffnung nur noch verträumt nachgehangen, wenn sie Botengänge in die Legatenallee führten und sie innehielt, um einen Blick in die abzweigende Kleine Traditionsstraße und auf den prächtigen Ziegelbau im Schatten zweier Pappeln zu werfen, in dem die Gesellschaft für Psychikalische Forschung beheimatet war.
Bis sich diese Gelegenheit präsentierte. Die Revolution hatte die hellrote Tür der Gesellschaft praktisch aufgestoßen und sie hineingebeten.
D fragte ihren Liebhaber, einen Lieutenant der Freiwilligen Bürgerwehr namens Robert Barnes, ob er ihr helfen könne, und er antwortete ihr, er werde alles tun, was sie wolle, aber … »Psychikalische Forschung, Dora?« War das die Art Klub, in die frivole reiche Frauen gingen, um sich die Handfläche streicheln zu lassen und Gespräche mit verstorbenen Eminenzen zu führen? Denn danach hörte es sich für ihn an.
»Lieutenant«, erwiderte D, »wer gibt hier eigentlich die Befehle?«
Die beiden gingen zum Hauptquartier der Provisorischen Regierung auf dem Magistratsplatz unweit des Mittelostufers des Flusses.
Auf dem Platz fanden sie einen Adjutanten Crossleys. Studenten, die Hafenarbeitergewerkschaft und andere Radikale mochten die Unruhen geschürt haben, doch erst General Crossleys Annäherung an die Oppositionsführer hatte die Revolution beschleunigt und stabilisiert. Ohne die Muskeln von Crossleys Reservegarnison hätten sie das Regime niemals zu Rücktritt und Flucht aus der Stadt zwingen können.
Der Adjutant, ein Sergeant van Goor, war an einem kleinen Tisch postiert. Er trug große Smaragdmanschettenknöpfe und als er das Kinn auf die Faust stützte, reflektierte einer der Smaragde einen Fleck wässrig grünen Lichts in das Auge der Statue eines sich aufbäumenden Tigers, die das Zentrum des schiefergedeckten Platzes beherrschte. D argwöhnte, dass diese Manschettenknöpfe erst kürzlich in Sergeant van Goors Besitz gelangt waren.
Ds Lieutenant erklärte, was sie wollten, und gelobte, dass sie eine Patriotin sei.
»Ist das wahr?« Van Goor lächelte sie an. Sie schlug die Augen nieder und nickte.
»Reizend. Ich bin überzeugt. Also nur zu.«
Doch Robert wollte ihr etwas Offizielleres beschaffen. Er legte keinen Wert auf Ärger oder Konfusion. Er grub einen Zettel aus der Tasche und verfasste eine Erklärung darauf. Sie übertrug D die Autorität über das Haus der Gesellschaft und das dazugehörige Gelände, »um das rechtmäßige Eigentum der Öffentlichkeit zu erhalten, bis sich die frei gewählte Regierung etabliert hat und zu einem Urteil hinsichtlich seiner zukünftigen Verwendung gelangt ist«. Er las dem Adjutanten den Text laut vor.
Van Goor feixte, stellte fest, das sei hübsch formuliert, und zeichnete den Zettel am unteren Rand sorgfältig mit seinen Initialen ab.
Das Paar spazierte an den Ellbogen untergehakt nach Nordosten.
Ein aufrecht stehendes Klavier, ein zerrissenes Tischtuch, zerbrochene Weinflaschen, ein Gummibaum mit entblößtem Wurzelballen in den Scherben seines Topfes, zerfledderte Bücher und tausend andere Dinge verunreinigten den Nationalboulevard; Treibgut der abgesetzten Regierung und ihrer Anhänger, das aus Karren und Kutschen geworfen worden war. Nachdem so viele Dienstboten befördert worden sind, muss wohl jeder erst lernen, seinen eigenen Dreck wegzuräumen, überlegte D. Die Leute trauten sich gerade erst wieder auf die Straßen nach den Kämpfen, in deren Gefolge die Krongarde aus der Stadt vertrieben worden war.
Leute, die ihnen begegneten, wirkten aufgeschreckt und warfen ständig Blicke hierhin und dorthin, als wären sie inmitten der versprengten Trümmer auf der Suche nach sich selbst.
»Jetzt ist alles in Ordnung«, versicherte der Lieutenant mehreren der desorientierten Fremden ungebeten. Sie blinzelten und lächelten zaghaft, tippten sich zur Antwort an den Hut und schienen wieder zu sich selbst zu finden.
»Seid Ihr sicher, Sir?«, entfuhr es einer Frau. Sie betrachtete Robert durch die zerkratzten Gläser einer winzigen Brille. Ihr Rock war schwarz und voller Staub. Ein Kindermädchen, mutmaßte D, oder eine Lehrerin.
»Ja«, erwiderte er.
»Sie haben kapituliert?«
»Sie sind weg«, antwortete der Lieutenant, »und kommen nicht wieder zurück.«
D sah, dass die Frau in dem staubigen Rock die Stirn runzelte, doch Roberts Worte schienen die anderen in der Nähe zufriedenzustellen: Mehrere von ihnen klatschten und johlten. »Na, dann los«, verkündete ein Zuschauer inspiriert und eine Gruppe versammelte sich um den Kadaver einer umgestürzten Kutsche, um ihn von den Tramschienen zu schieben.
D registrierte verstohlen, dass ihr Lieutenant verhalten grinste. Im Profil machte sein Aussehen seinem Rang alle Ehre: gelockte schwarze Haare, die die Spitzen seiner Ohren einfassten und bis in den Nacken reichten, und eine vorzüglich gerade Nase über einem starken Kinn. Ab und zu überkam sie der Gedanke, wie sehr sie ihn doch mochte. Wenn er behauptete, alles sei in Ordnung und werde auch so bleiben, konnte man glauben, dass dies auch stimmte.
Andere junge Männer mit den grünen Armbändern, die die Mitgliedschaft bei der Freiwilligen Bürgerwehr anzeigten, waren zur Bewahrung der Ordnung auf den Straßen stationiert. Robert, wie viele Freiwillige ehedem ein Student an der Universität, grüßte seine Kameraden lässig und ironisch im Vorbeigehen und alle erwiderten den Gruß.
Ein kleiner Junge, dessen...