Kingsbury / Smalley ... denn er weiß nicht, was er tut
1. Auflage 2007
ISBN: 978-3-86827-885-9
Verlag: Francke-Buch
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, Band 1, 416 Seiten
Reihe: Die Wege meiner Kinder
ISBN: 978-3-86827-885-9
Verlag: Francke-Buch
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ein anonymer Anruf genügt und Kari Baxter weiß von der Affäre ihres Mannes. Allerdings reagiert keiner der beiden so, wie man es von ihm erwartet hätte: Tim geht aufs Ganze und treibt die Scheidung voran. Kari jedoch will sich an den Ehebund halten, den sie vor Gott und der Gemeinde geschlossen hat.
Wie aber soll sie es einordnen, dass mitten in ihren Kämpfen ausgerechnet der Mann auftaucht, mit dem sie einmal so viel verband – Ryan?
Plötzlich gerät alles ins Rollen.
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Kapitel 1 Vom Fahrersitz seines alten Chevy-Lieferwagens aus starrte Dirk Bennett zur Wohnung seiner Freundin im dritten Stock hinauf. Er beobachtete, wie die schattenhaften Umrisse zweier Menschen zusammenkamen und sich nicht mehr voneinander trennten. Eine Minute verging, zwei Minuten. Dann erlosch das Licht in der Wohnung. Dirks Finger zitterten, sein Herz hämmerte so heftig in seiner Brust, dass es wehtat. Er warf einen Blick auf den Revolver, der auf dem Sitz neben ihm lag, und erschauderte. Was war nur mit ihm los? Er war ein Junge aus einer netten Familie. Leute wie er liefen nicht mit Waffen herum und lagen nicht nächtelang, getrieben vom Hass auf einen anderen Mann, schlaflos wach. Vielleicht werde ich verrückt. Oder es lag an den Tabletten. Konnten sie so etwas bei einem Menschen auslösen? Konnten sie einen verrückt im Kopf machen? Nein, das war paranoid. Dirk beruhigte sich wieder. Die Tabletten hatten nichts mit seinen Gefühlen zu tun. Es waren nicht einmal Steroide, nicht direkt. Aber sie wirkten tatsächlich. Er hatte in den letzten sechs Wochen, seit er seine normale Dosis verdoppelt hatte, fünf Kilo zugenommen. Fünf Kilo Muskeln. Dirk fasste sich an die Stirn und versuchte, sich zu erinnern, was sein Trainer ihm gesagt hatte, als er ihm die Flasche verkauft hatte. Es kommt auf die richtige Dosierung an. Zu wenig, dann ist es nutzlos. Zu viel, dann können gefährliche Nebenwirkungen auftreten ... Zorn, Depressionen, irrationales Verhalten. War es das? Dieses ständige Pochen in seinem Kopf? Zu viele Tabletten? Dirk klopfte sich mit der Faust leicht an die Stirn. Das war unmöglich. Die Tabletten waren völlig normal; das sagte jeder. Die Hälfte der Jungen an der Uni nahm sie, und von den anderen zeigte keiner irgendwelche negativen Reaktionen. Sein Blick wanderte wieder zu der Waffe. Jeder andere würde das Gleiche tun. Er wollte Professor Jacobs ja nicht verletzen. Er wollte ihm nur ein wenig Angst einjagen. Dann könnten Dirk Bennett und Angela Manning endlich so zusammen sein, wie sie es die ganze Zeit schon sein sollten. Er hatte von Anfang an gewusst, dass Angela die Frau seines Lebens war. Die einzige Frau, die er je lieben könnte. Sie hatte das auch gespürt. Damals, bevor sie den Professor kennenlernte. Dirks Blick wanderte weiter zu Angelas Wohnung. Was konnte sie an diesem Kerl nur finden? Er war mindestens zehn Jahre älter als sie. Seine Haare wurden schon dünner, sein Bart war teilweise grau, und er hatte einen leichten Bauchansatz. Außerdem war Professor Jacobs verheiratet. Dirk hatte die Frau dieses Mannes schon ein- oder zweimal in der Journalismus-Fakultät gesehen, eine schöne, dunkelhaarige Frau, die herzlich lachte, freundlich lächelte und in ihren Mann verliebt zu sein schien. Das Ganze ergab einfach keinen Sinn: ein alter Mann wie der Professor mit zwei faszinierenden Frauen. Dirk biss sich auf die Lippe. Das würde sich bald ändern, wenn es nach ihm ginge. Im Schein der Straßenlaterne warf er einen Blick auf seine Armbanduhr und sah, dass es schon nach zehn war. Wenn er in Geschichte seinen Schein bekommen wollte, sollte er jetzt lieber nach Hause fahren und das Referat über die Generäle im Bürgerkrieg schreiben, das er morgen abgeben musste. Die Muskeln um Dirks Kinn spannten sich an, als er die Waffe nahm und sie unter seinem Sitz verstaute. Er müsste Professor Jacobs ein anderes Mal Angst einjagen. Als er den Motor anließ, kam ihm plötzlich eine Idee – eine Idee, die so vernünftig und stark war, dass sie neue Hoffnung in ihm weckte. Vielleicht müsste er die Waffe gar nicht benutzen. Vielleicht gäbe es ja auch eine andere Möglichkeit, den Professor dazu zu bringen, dass er die Finger von Dirks Mädchen ließ. Mit einem lauten Lachen fuhr er vom Straßenrand los. Zehn Minuten später saß er auf dem Boden seines Zimmers im Studentenwohnheim der Universität von Indiana und starrte auf einen Eintrag im Telefonbuch von Bloomington, während seine Finger anfingen, die Nummer einzugeben. * * * Nur wenige Straßen weiter lag Professor Tim Jacobs in der Wohnung seiner Freundin wach im Bett und überlegte, was mit ihm los sei. An Schuldgefühle und Schlaflosigkeit war er gewohnt. Aber die Tränen waren neu. Seit er das erste Mal sein Ehegelübde gebrochen hatte, war es schon zu häufig vorgekommen, dass er eigentlich in seinem Büro sitzen und die Referate von Studenten lesen oder bei der einen oder anderen Konferenz hätte sein sollen. Stattdessen lag er mit Angela Manning, der wahrscheinlich vielversprechendsten Studentin seines Journalismus-Kurses, im Bett. Sie war jung, idealistisch und so schön, dass es fast wehtat, sie anzuschauen. Tim war sich sicher, dass diese Affäre mehr als nur ein vorübergehender Zeitvertreib war. Manchmal ließ diese Erkenntnis seine Schuldgefühle so laut werden, dass sie fast eine Stimme bekamen – eine Stimme, die Tim nicht einschlafen ließ, auch wenn er todmüde war. Die Stimme war nicht hörbar, aber trotzdem riss sie ihn in vielen Nächten aus dem Schlaf. Tim lag an Angela gekuschelt und war von der Sünde, an die er früher nicht einmal im Traum gedacht hätte, so berauscht, als aus dem Nichts plötzlich diese Stimme auftauchte. Kehr um! Fliehe vor der Unmoral. Ich stehe an der Tür deines Herzens und klopfe an! Flieh ... Tim rollte sich auf die andere Seite und hoffte, wieder Schlaf zu finden, an den Platz in seiner Vorstellung zurückzukehren, an dem seine Frau, Kari, nicht allein zu Hause wartete und ihm vertraute und glaubte, er wäre ihr treu. Aber die Schuldgefühle meldeten sich wieder und wieder zu Wort – hartnäckig, pausenlos riefen sie ihn nach Hause, obwohl keine Antwort von ihm kam. Obwohl er nichts wert war. Tim drehte sich um und achtete darauf, Angela nicht zu wecken. Er starrte an die saubere, weiße Wand in ihrer Wohnung und dachte an den verhängnisvollen Tag, an dem Angela Manning das erste Mal sein Büro betreten hatte und ihm ihre Absichten deutlich zu verstehen gab. Sie hatten sich eine Viertelstunde unterhalten, gescherzt und gelacht und sich gezeigt, dass sie sich gegenseitig bewunderten, während Tim seinen Ehering versteckt hielt. Als Angela sein Büro verließ, ließ sie einen süßlichen Jasminduft zurück. Und genug Hitze, um das ganze Gebäude aufzuheizen. Tim schwelgte in den Minuten vor seinem nächsten Unterricht in dem berauschenden Gefühl, das sie bei ihm ausgelöst hatte. Sein Blick blieb auf einer Medaille hängen, die Kari ihm zu ihrem ersten Hochzeitstag geschenkt hatte. Darauf war das Bild eines fliegenden Adlers eingraviert und Worte, die er auch jetzt noch auswendig kannte: Des Herrn Augen schauen alle Lande, dass er stärke, die mit ganzem Herzen bei ihm sind. In jenem Moment hatte er das Gefühl gehabt, alles, was mit Gott zu tun habe, sei einengend. Ohne lange nachzudenken, hatte er die Medaille genommen, sie in die nächste Schublade fallen lassen und war aus seinem Büro geschritten. Die Medaille lag immer noch in seiner Schublade. Tim blinzelte, als diese Erinnerung verblasste. Diese Medaille hatte keinen Bezug mehr zu seinem Leben; am besten blieb sie dort liegen, wo er sie nicht sehen konnte. Seine Kraft kam nicht von Gott, er war nicht mit ganzem Herzen bei ihm – nicht mehr. Seit der heißen Augustnacht, in der er und Angela zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten, kam Tims Kraft von den Stunden, die er mit ihr verbrachte. Und natürlich von seinen persönlichen Erfolgen. Tim widmete sich beruflich dem Ziel, gute Artikel zu schreiben – zuerst als aktiver Journalist, dann als Lehrer, der jedes Jahr angehende, junge Reporter ausbildete, die Amerikas Ziel, eine freie Presse zu erhalten, weitertragen würden. In relativ kurzer Zeit war er ein angesehener Professor geworden, der außerdem eine regelmäßige Kolumne für den Indianapolis Star schrieb. In den einflussreichsten Kreisen seiner Zunft gewann sein Name immer mehr an Ansehen. Das war eine Stärke, die in seinem Leben etwas bewirkte. Ein weiterer Grund für seine Kraft war sein absolutes Eintreten für journalistische Integrität, sowohl im Berufsleben als auch im Vorlesungssaal. Damals, als er noch als Reporter unterwegs gewesen war, hatte er nie eine Quelle preisgegeben. Und auch wenn er ein Kirchgänger war – na ja, zumindest war er früher einer gewesen –, hatte er sich von seinem religiösen Glauben nie daran hindern lassen, objektiven Journalismus zu praktizieren. Religiöse Vorurteile hatten weder bei der Zeitung noch im Unterricht etwas verloren – nicht, wenn ein Reporter nur mit einem weltoffenen Blick beste Arbeit leisten konnte. Kari hatte immer ein wenig Mühe gehabt, Tims Ansichten in Bezug auf Glauben und Presse zu akzeptieren. Nicht so Angela. Sie schätzte es, dass Tim ein „religiöser Mann“ war, wie sie es ausdrückte. Aber sie bewunderte ihn auch für seine Fähigkeit, seine persönlichen Glaubensgrundsätze hintanzustellen, wenn er eine Kolumne schrieb oder eine Vorlesung hielt. „Wir wussten nie genau, welchen Standpunkt du selbst zu den einzelnen Themen vertratst“, hatte Angela ihm später verraten und ihn mit ihren elektrisierenden, blauen Augen fixiert. „Aber wir wussten immer, dass du für guten Journalismus stehst. Wir wussten, dass du nie zurückweichen oder nachgeben würdest. Weißt du, wie selten so etwas heutzutage ist?“ ...