Kirchhoff | Bericht zur Lage des Glücks | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 608 Seiten

Kirchhoff Bericht zur Lage des Glücks


1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-627-02298-3
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 608 Seiten

ISBN: 978-3-627-02298-3
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



"Ist es ein Glück oder ein Unglück, dass es mich gibt?" Das fragt sich der ehemalige Zeitungsredakteur auf eine unfassbare Tat hin, inzwischen zurückgezogen an einem fernen afrikanischen Grenzort, um mit einem Bericht Rechenschaft abzulegen. Er erzählt von dem, was ihm in den Wochen zuvor, erst in Kalabrien, dann in Rom, später in Mailand und zuletzt im Schwarzwald zugestoßen ist, nachdem er auf einer Erinnerungsreise – um mit dem Verlust einer Liebe abzuschließen – einer über das Meer geflüchteten Afrikanerin begegnet ist, die, anders als er, noch das Glück sucht und für ihn zur übermächtigen Gegenwart wird. Für ihn ist plötzlich alles in der Schwebe, und doch weiß er: "Was man am meisten liebt, liebt man schon in dem Gefühl einer Wehmut, des unabwendbaren Endes – der Tag wird kommen, an dem wir uns aus den Augen verlieren, an dem alles gewesen sein wird, von dem an nur noch die Erinnerung zählt."
Bericht zur Lage des Glücks, der neue große Roman von Bodo Kirchhoff, erzählt von einem, der auszieht, das eigene Unglück abzuschütteln, aber anders als erwartet auf die Beine kommt: mit der Chance, von einer Fremden aus seiner eigenen Egosphäre geholt zu werden.

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Genussvolles Trinken und der Blick auf etwas Entfesseltes, das einem aber nichts anhaben kann, sind Privilegien, die unsereiner, grob gesagt nördlich der Alpen zu Hause, kaum noch wahrnimmt. Südlich davon kann es schon anders aussehen, und einige Breitengrade über dem Äquator ist fließendes Trinkwasser bereits die Ausnahme, und ein chaotisches Geschehen, das man verfolgt, ohne in Mitleidenschaft gezogen zu werden, eine Illusion – gemeint das Geschehen in einem afrikanischen Grenzort, in dem ich mich seit kurzem aufhalte, um diesen Bericht zu schreiben. Natürlich hat der Ort einen Namen, wie ja auch der Berichtende einen Namen hat, aber beide Namen sind Schall und Rauch, wenn es darum geht, sich an das zu erinnern, was mich hierhergeführt hat. Und weit mehr als der Name des Ortes spielt seine Lage eine Rolle, nämlich an einem Fluss, anscheinend ideal, was die Wasserversorgung betrifft, nur ist es der Grenzfluss zur umkämpftesten Provinz des Nachbarlandes, umkämpft wegen der dortigen Bodenschätze. Alle Abwässer aus den Minen landen im Fluss, und immer wieder sollen auch Leichen unter der Grenzbrücke hindurchtreiben; über diese gesicherte Brücke führt eine der wenigen Verkehrsverbindungen ins Nachbarland, die Straße, die auch Durchgangsstraße durch den Ort ist – der mir nur langsam vertrauter wird. Die meisten der rohbauhaften Häuser und Wellblechhütten und auch das einzige kleine, noch im Bau befindliche Hotel, zu erkennen nur an einem selbstgefertigten Schild mit den aufgepinselten Worten Moses’ Hotel, New Private Rooms, drängen sich an dieser Straße aus rötlichem Lehm; und das hatte von Anfang an den Vorteil, dass von einem Zimmer im oberen Stock dieses Hotels im Werden, dem bisher einzig bewohnbaren Zimmer mit einem noch nicht ganz geheuren Balkon, an seinen Vorderecken gestützt von gestapelten Hohlziegeln, doch viel Interessantes zu sehen ist, in den Abendstunden sogar ein entfesseltes Geschehen. Das heißt, man hat auch hier etwas im Blick oder fast vor Augen, das einem nichts anhaben kann – vor meinen Augen, die sich freilich täuschen können, nur sehen, was mir als typisch erscheint, als lohnend genug, um es wiederzugeben. Da wäre zum Beispiel ein alter Scherenschleifer mit einem ebenso alten Fahrrad, das, wenn es hinten aufgebockt ist und er die Pedale bewegt, einen Schleifstein über dem Gepäckträger antreibt. Er hat mich, den Fremden, bisher so gut wie gar nicht beachtet, wenn nicht bewusst übersehen, trotz meines zaghaften Winkens, wenn er den Blick hebt, und des Interesses an seiner Arbeit, wie er da funkensprühend Messer nachschleift und auch Schlüssel anfertigt, ja sogar, fast nebenbei, Kinderspielzeug aus alten Drähten biegt, das alles am Rande der Durchgangsstraße, wo jeden Morgen ein Marktbetrieb herrscht und sich vom späteren Nachmittag an ein Rückstau von Lastwagen bildet, die vor der Nacht die Grenzbrücke passieren wollen; der Scherenschleifer räumt dann seinen Platz, und gestern hat er mir, eine Premiere, noch ein leichtes Grußzeichen gemacht. Nur nach und nach gewöhnen sich die Leute hier an den doch sehr abweichenden Anblick meiner Person, was auch daran liegt, dass ich das Rohbauhotel tagsüber kaum verlasse. Noch in der kurzen Dämmerung, wenn sich die Laster vor der Grenzbrücke über den Fluss schon bis in den Ort stauen – der Fluss so verschmutzt, dass die Besorgteren ihr Wasser aus dem Busch holen, wo es Brunnenlöcher gibt –, sitze ich in der Tür zum Balkon und schaue zum Abendhimmel, den Schlieren aus Tausenden von Flughunden, die dorthin ziehen, wo die Schwerlaster hinwollen, ins Nachbarland, Laster mit Tanks voll Kerosin, mit Ladeflächen voller Zementsäcke oder alten Autoteilen, während aus der Gegenrichtung Transporte mit riesigen Baumstämmen kommen, mit magerem Vieh, und manchmal ein Karren nur mit geräucherten Fischköpfen, wie man sie hier am Straßenrand geröstet bekommt. Gekocht wird den ganzen Tag, und sobald gegen Abend der Lastwagenstau in den Ort zurückreicht, sieht man Mädchen oder junge Frauen in blauen Overalls, in der einen Hand Spieße mit gegrilltem Hähnchenfleisch, in der anderen einen Eimer mit Getränkedosen. Beides verkaufen sie an die Fahrer, die von weit her kommen; das Fleisch aber stammt aus einer nahen Geflügelfarm, die Chinesen gehört, ebenso die Grillstände. Die jungen Frauen arbeiten für die Chinesen, und natürlich kommt es vor, dass manche Fahrer ein Extrageld bieten, wenn sich die Frauen auch gleich mit verkaufen, als das Fleisch, das ihnen gehört und nicht den Chinesen. Woher ich das alles habe? Von der, die auf einem der Pferde des stillgelegten Karussells in Melito di Porto Salvo, Via Berlinguer / Madonnuzza (Letzteres ist eine Verballhornung der Madonna), vergeblich fotografiert worden ist, im Folgenden Die Afrikanerin genannt – wobei ich ihren Namen selbstverständlich kenne, allerdings für zu klangvoll halte, für zu bestechend, um ihn bei jeder Gelegenheit zu verwenden, als sollte damit Stimmung gemacht werden für sie; stattdessen lieber die Gefahr, dass man mir Verallgemeinerung vorhält. Namen gehören auch eher in Romane, sie sind deren Lyrik, ganz wegfallen können sie hier freilich nicht, schon wegen der Übersichtlichkeit, und so bleibt der Effekt, dass der Name einer Person Bilder hervorruft, noch ehe im Einzelnen etwas zu ihr gesagt ist, innerhalb eines Berichts in eigener Sache zweifellos problematisch. Das Ich hat alles zu entscheiden, auch den Umgang mit sich selbst und dem eigenen Namen; es ist ein einsames Entscheiden in der ersten Person Singular, eins aus der isolierten, unnatürlichen Ichwelt, und es gibt dabei keine Behauptungen von Gewissheit, wie sie beim Entwerfen eines Romans und seiner Figuren möglich sind, es gibt nur die Gefühle – und die im Augenblick klarsten, so klar, also würde ich nicht in eigener Sache berichten, betreffen die Ausgangspunkte des hier zu Erzählenden. Der erste liegt ein halbes Jahr zurück und fällt auf den Abend des Karfreitags, an dem mir meine Begleiterin durch die vergangenen zehn Jahre eröffnet hat, dass es in ihrem Leben einen anderen Mann gebe und sie folglich frei sein müsse, ohne Verpflichtungen mir gegenüber, ein bewusst auf diesen Tag gelegtes Geständnis, um mich davon abzuhalten, sie billigerweise Verräterin zu nennen, einen weiblichen Judas. Der zweite Ausgangspunkt ist nicht auf einen bestimmten Tag zu datieren und liegt mehr als einen Monat zurück, irgendwo in den beiden letzten Augustwochen, die kaum andere Meldungen geliefert haben als solche über die Hitze und ihre Folgen. Alles Leben ist ja in diesem Spätsommer dahingekrochen, und unseren Nachrichtenverbreitern blieb nur, aus Mücken Elefanten zu machen – ich sage das, weil ich nicht mehr zu dieser Gruppe gehöre, wenn es je der Fall war. Die Zeitung, die mich gut zwanzig Jahre lang über Wasser gehalten hatte, war eben eine kirchliche, überkonfessionell und eher mit dem Sinn des Lebens im Programm als dem Leben, was der Redaktionskern – vier halbstudierte Männer, zwei ausstudierte Frauen – nur zunehmend vergessen hat. Statt Glaubensnöten nachzugehen, wurden Meinungen zu allem und jedem verbreitet, vornehmlich von den Halbstudierten, häufig gegen die Bedenken der beiden Frauen. Verpackt wurden die Meinungen in Geschichten, zunächst angenehm zu lesen, bis das dicke Ende kam, jeder einfach hinschrieb, was er dachte, um Leserinnen und Leser der Zeitung entweder vor den Kopf zu stoßen oder zu hymnischen Mails zu verleiten. Kurzum, ich kenne mich aus mit Dramaturgie – etwas, das mich auch ohne feste Stelle noch bis zu jenem Karfreitag in einer Balance gehalten hatte, verlorengegangen erst, als sich meine Lebensgefährtin – Lydia, der Name auf jeden Fall muss sein – von mir losgesagt hat. Lebensgefährtin, ein Verlegenheitswort, um sich andere, schmerzlichere Worte zu ersparen, nicht Frau meines Lebens oder meiner Träume sagen zu müssen; aber genau das war sie, so ist sie vor meiner Erinnerungstour durch Kalabrien noch in mir präsent gewesen: als die, die ich versäumt hatte zu heiraten, Jahr für Jahr, wie ich auch versäumt hatte, mit ihr ein Kind zu zeugen. Wir hatten nie eine Wohnung geteilt, und so nah wir uns auch waren, blieb es doch ein Kreisen um sich selbst; nur ist Lydia darin immer weniger aufgegangen, was mir wiederum immer mehr entgangen ist. Ich rede von den letzten zwei Jahren, in denen sie auf ihrem Gebiet Karriere gemacht hat, mit Händen, die Verspannungen ertasten, wo Betroffene noch gar nichts spüren, aber auch Schmerzen gleichsam in sich aufnehmen können und damit den Geplagten abnehmen. Einer dieser Geplagten aber war Hauptabteilungsleiter in der bedeutendsten Rundfunkanstalt weit und breit, mit einem gehobenen Programm für Nachtmenschen, in das Lydia mich als freien Mitarbeiter hatte hieven können (buchstäblich unter der Hand beim Entkrampfen eines Bandscheibenprolapses). Die Dinge standen damit wieder besser für mich, bis der von Schmerzen Erlöste einem höchst prominenten Kollegen aus dem Reich der Bilder, also des Fernsehens, Lydia als letzte Rettung für dessen Rücken empfahl. Und sie hat diesen Rücken einschließlich HWS-Syndrom so weit stabilisiert, dass Benedikt Cordes – noch ein unumgänglicher Name, wie ein Titel für alles Wahre und Gute, vom Tierwohl über die Aufdeckung von Komplotts bis zur gerechten Sprache für alle Geschlechter – seine TV-Mission als Lebens- und Welterklärer fortzusetzen imstande war, sogar mit der Last einer schusssicheren Weste; und seit Einrenkung der Wirbel, darauf wollte ich hinaus, auch in Begleitung seiner Physiotherapeutin, damit sie ihm notfalls beistehen könnte, und das in jeder Hinsicht. Ein gewisses Ressentiment gegenüber diesem Mann lässt sich also kaum bestreiten, gepaart...


Bodo Kirchhoff, geboren 1948, lebt in Frankfurt am Main und am Gardasee. Nach seinen von Kritik und Publikum gleichermaßen gefeierten Romanen "Die Liebe in groben Zügen" (FVA 2012) und "Verlangen und Melancholie" (FVA 2014) wurde Bodo Kirchhoff für seine Novelle "Widerfahrnis" (FVA 2016), die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde, mit dem Deutschen Buchpreis für den besten deutsch-sprachigen Roman des Jahres ausgezeichnet. Zuletzt erschien sein großer autobio-graphischer Roman "Dämmer und Aufruhr. Roman der frühen Jahre" (FVA 2018). Bodo Kirchhoff, geboren 1948, lebt in Frankfurt am Main und am Gardasee, wo er mit seiner Frau seit 2003 Schreibseminare gibt. Das Gesamtwerk Bodo Kirchhoffs erscheint in der Frankfurter Verlagsanstalt.



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