Kirchhoff Die kleine Garbo
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-627-02130-6
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-627-02130-6
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Bodo Kirchhoff, geboren 1948, lebt in Frankfurt am Main und am Gardasee, wo er mit seiner Frau im Sommer Schreibseminare gibt. Er hat viele renommierte Preise gewonnen, u.a. den Kritikerpreis für Literatur, den Preis der LiteraTourNord und die Carl-Zuckmayer-Medaille des Landes Rheinland-Pfalz. Zuletzt erschien in der Frankfurter Verlagsanstalt der Roman 'Die Liebe in groben Zügen' (2012).
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Nachts, getrieben von Hunger, ohne jede Idee, es könnte anderswo besser sein als in ihrer gewohnten Umgebung, waren sie über die Grenze gekommen, durch niederen Birkenwald, gescheckt wie ihr Fell, durch Kanäle und Flüsse, kaum den Kopf über Wasser, vielleicht auch auf Eisschollen, stehend ergeben, niemand konnte Genaueres sagen; nur daß sie hier wieder Fuß gefaßt hatten, war sicher. Man fand ihre Spuren im Tagebausand und um die einsamen Seen der Gegend, man stieß inmitten von Dörfern auf Losung, knochenhaltig, fellumsponnen; man hörte ihr Klagen, wenn sie Anschluß suchten, und sei es an Hunde, auf- und abschwellend wie Gesang. Und auf die Hinweise folgten bald die Gerüchte – in Erholungsgebieten wollte man Teile von Wild entdeckt haben, am Rande von Schrebergärten den Kopf eines Pudels, von verkleinerten Schafherden gar nicht zu reden; unschöne Einzelfälle, wie ihre Fürsprecher sagten, was die Gegner vor Gericht ziehen ließ, das Abschußrecht zu erstreiten, und zunehmend Neugierige auf den Plan rief. Wanderer harrten über Tage im Dickicht aus und bekamen höchstens von weitem eins der Tiere zu sehen, wie es da, steckenbeinig, graubraun, ein Phantom, stur seiner Wege ging, im geschnürten Trab, um plötzlich, ganz Nase, ganz Ohr, innezuhalten und mit einem Satz um sich selbst im Gebüsch zu verschwinden. Doch kamen nicht nur Wanderer, die im Grunde das eigene Herzklopfen suchten, es kamen auch andere.
*
Mitte des vergangenen, langen Winters fuhr ein Filmteam in die fragliche Gegend, mehr aus Instinkt als aus Neugier, einem ähnlichen Trieb folgend wie die Wölfe, nämlich Beute zu machen, die Beute der Bilder. Auf dem Höhepunkt von Schnee und Eis schlug man an einem einsamen Waldsee, dem einsamsten, wie die leitende Producerin meinte, ein Lager auf, rund um ein riesiges Wohnmobil, das schon Tom Cruise nach einer Kampfszene für M:I-2 genutzt haben soll, ganz allein, während es jetzt, für einige Stunden, gleich mehreren diente. Der Star des Films belegte den komfortabelsten Raum, mit Bett und Dusche; für die zwei Nebendarsteller gab es ein Art Lounge, wo sie sich die Wartezeit mit Fernsehen vertrieben, und die Producerin hatte in dem Wohnmobil ein Büro.
Und da stand sie im Mantel am Fenster und sah auf den gefrorenen See mit einem Lichtkran am Ufer und gab schon ihr drittes Telefoninterview an dem Tag. Sie sprach über Filmtitel, die kurz sein müßten, kurz kurz kurz, ehe sie auf den Film selbst kam: ein Mystery drama, Engelskuß, ihre Idee, neunzig Minuten, Sonntagabendprogramm, und mit der Kleinen – so nannte sie ihren Star – bestens besetzt. Dem folgte noch etwas Klatsch, dann war das Interview beendet, sie verließ ihr Büro. Es dunkelte schon, obwohl es kaum vier war, und bei jedem Schritt drang die Kälte durch ihren hauptsächlich weichen Mantel. Neuer Schnee war zum Glück erst für den Abend gemeldet, also dürfte die Kleine, noch unterwegs zum Drehort, rechtzeitig eintreffen. Wie immer vor Nachtaufnahmen war die Producerin unruhig; sie wußte, was auf sie zukam – selbst eine leichte Geburt könnte nicht schlimmer sein.
*
Das Haus war das letzte in der Straße, und im Winter hob es sich schon nachmittags von den schneeverkrusteten Äckern am Ortsende ab, einem Ort unweit der Wälder, durch die wieder Wölfe zogen, erwiesenermaßen. Bis vor kurzem war in dem Haus noch ein Videoladen, aber solche Läden sind ja etwas aus der Mode gekommen. Jetzt gab es dort eine Bankfiliale, die einzige weit und breit; doch manchmal kam noch wer, der einen Film leihen wollte und seinen Irrtum erst merkte, wenn er dort nur auf Mütter mit Kind oder alte Frauen mit Sparbuch traf.
Und auch an diesem Nachmittag, kurz vor Schließung der Filiale, betrat jemand den Schalterraum, der nichts einzahlen oder abheben wollte, sondern gleich zur Wandheizung neben einer Vitrine mit Goldmünzen ging, um sich an den Rohren zu wärmen. Er trug eine Lederjacke mit Riemen und Polstern, wie man sie früher allein bei Motorradfahrern sah (früher, als alles noch einen ernsteren Hintergrund hatte, auch und gerade Lederjacken), und in den Händen hielt er eine Wollmütze, die er beim Betreten der Bank abgenommen hatte. Sein Kopf war mehr ein Schädel, mit dichtem Haar, das ihm über die Ohren fiel, und rotbraunen Augen, rot von der Kälte; dazu eine spitze, aber solide Nase und Falten wie Notenlinien auf breiter Stirn – Falten, die mit einem Mal tiefer wurden, während seine Finger, wie von selbst, zwei Löcher in die Wollmütze bohrten.
Alles Weitere (das eine Kamera an der Decke des Schalterraums festhielt) geschah in kaum mehr als einer Minute. Der Mann streifte sich die Wollmütze mit den Löchern übers Gesicht und griff dabei schon mit der anderen Hand in die Jacke, zog eine Pistole hervor und rief, Das ist ein Überfall! Dann zielte er auf eine der Mütter mit Kind, jedoch nur auf die Stiefel, und befahl dem Kassierer, alles Geld aus der Kasse zu holen. Der Kassierer wollte etwas einwenden – daß sich der Überfall gar nicht lohne –, da feuerte der Maskierte bereits zur Warnung auf einen Geldautomaten; von dessen Kante prallte das Geschoß jedoch ab und flog einer der alten Frauen ins Auge. Sie taumelte und stieß noch ein unverständliches Wort aus, brach zusammen und war tot. Jeder in dem Schalterraum schrie jetzt, auch der Bankräuber. Er übertönte die anderen mit einem Befehl, Alles auf den Boden!, und der Kassierer nahm sämtliches Geld aus dem Fach und schob es durch den Schlitz in der Glaswand, während seine Kollegin mit dem Fuß auf den Alarmknopf trat. Der Mann mit der Wollmaske aber griff sich das Geld, stopfte es in die Jacke mit den Riemen und verließ auch schon, rückwärts, den Raum; erst als er im Freien war, begann er zu rennen. Er rannte zu einem Motorrad, sprang auf und floh damit über die verschneiten Äcker, ein schwankender Schatten.
*
Die Kleine saß wie immer hinten im Wagen, so verlangte es ihr komplizierter Vertrag, vor sich den leeren Beifahrersitz mit Bildschirm und Fernsehempfang im Rückteil der Lehne und neben sich einen Hund, der die Maße eines Rauhhaardackels hatte, aber viel ausgefallener war: mit grauem Zottelfell und einem staubwedelartigen Schwanz, der sich beim geringsten freudigen Anlaß propellerartig zu drehen begann – selbst bei einem Handyweckruf, der die Kleine gerade aus dem Halbschlaf geholt hatte, womit für beide, Mensch und Tier, gewissermaßen der Tag anbrach. Sie war sofort hellwach und nahm den Tag auch gleich in Angriff, indem sie das Kostüm für ihre Rolle aus einem Kleidersack holte und mit dem Umziehen begann und dabei noch auf BBC World die laufenden Nachrichten sah – das eine wie das andere auf Rat ihres Agenten: Immer tipptopp am Drehort erscheinen, weil Fotografen kein Erbarmen hätten, und immer gut informiert sein, weil Journalisten gern Trickfragen stellten.
An diesem Spätnachmittag war das Umziehen allerdings nicht ganz leicht, denn die Kleine spielte keine gewöhnliche Rolle, wie etwa ein künftiges Mordopfer, das ja nur bedauernswert sein mußte, sondern eine recht ungewöhnliche, und als sie das Kostüm endlich anhatte, saß sie ganz vorn auf dem beheizten Sitz, damit die Engelsflügel nicht knickten. Sechs Drehtage lagen schon hinter ihr, alle Innenaufnahmen, und nun ging es im Freien weiter, mit einer Nachtszene an dem Waldsee. Da sollte sie, von einem Kran gehalten, über das Eis schweben, mit natürlichem Lächeln, doch daran dachte sie jetzt noch nicht. Sie konzentrierte sich nur auf die Nachrichten, während vorn am Steuer Herr Weiß saß, ihr Chauffeur oder auch Leibwächter, wie es in den Starmagazinen hartnäckig hieß, nachdem die dümmste aller Zeitungen, das Hurra-Blatt, damit angefangen hatte.
Herr Weiß war ein einzelgängerischer, ganz in der Musik von gestern, aber ganz in der Technik von heute lebender Mann. Er galt als gebildet, hielt aber die Quellen seiner Bildung im dunkeln; angeblich besaß er ein Abiturzeugnis aus den Sechzigerjahren. Im Gesicht und an den Händen hatte er jedenfalls schon ziemlich viele Altersflecken und dadurch ziemlich wenig Ähnlichkeit mit einem Leibwächter; seinem jungen Fahrgast erschien er sogar rundherum ältlich, wie gewisse Verwandte, die man nur auf Begräbnissen sieht, auch wenn er noch gar nicht so alt sei, wie er oft sagte. Tatsächlich fühlte er sich jünger als sechzig und sammelte nach wie vor die Schlager seiner Schulzeit, und überhaupt alles, was ihn bewegte, einschließlich Arien; ein musikalisches Herzblut, verteilt auf einer Festplatte im Multimediasystem des Wagens. Jeder einzelne Titel aber konnte auch unter fleckige Haut gehen, da lag das Problem, das sich nur mindern ließ, wenn die Verehrung an Stelle des Temperaments trat. Und Der gute Weiß, wie man ihn nannte, verehrte die Kleine mehr als alle anderen Fernsehstars, die er chauffiert hatte, und wußte daher auch immer über ihre jeweilige Rolle Bescheid. Zur Zeit nahm sie als Engel ein Paar oder Pärchen, das eigentlich gar nicht zusammenpaßte, so lange vor den Fallen der Liebe in Schutz, bis die Sache von allein funktionierte. Und der Witz dabei war, daß nur das Publikum den Engel bei der Arbeit sehen konnte, nicht aber das ungleiche Paar, ein Mann mit Geld und starren Ansichten und ein Mädchen ohne Geld mit lockeren Ansichten, wie in dem Film Pretty Woman; und weil dieser Witz für sein Gefühl nicht besonders gut war und die Geschichte alles andere als originell, mußte die Kleine in der Rolle umso besser sein. Ob sie noch Text lernen müsse, fragte er nach hinten. Oder wollen wir lieber Musik hören?
Lieber Musik, sagte sein junger Fahrgast. Das...