Kirchhoff | Legenden um den eigenen Körper | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 220 Seiten

Kirchhoff Legenden um den eigenen Körper


1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-627-02191-7
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 220 Seiten

ISBN: 978-3-627-02191-7
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Im Wintersemester 1994/95 hielt Bodo Kirchhoff im Rahmen der Frankfurter Poetikdozentur an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität vier Vorlesungen mit den Titeln 'Das Kind und die Buchstaben', 'Orthopädische Wahrheit', 'Schreiben und Narzissmus' und 'Dem Schmerz eine Welt geben', erstmals erschienen bei Suhrkamp 1995. Der seit langem vergriffene Band wurde für diese Neuauflage durchgesehen und um den Essay 'Auf dem Weg zu einer Sprache der Sexualität' erweitert. Kirchhoff bietet eine lebhafte, sehr persönliche und elegante Mischung aus biobibliographischen Berichten und Selbstanalysen, Reflexionen über zentrale Leseerlebnisse und für ihn bedeutsame Schriftsteller. Ein ausgiebiger Blick in die Werkstatt in Form von Auszügen aus Kirchhoffs Romanprojekt und Gedanken zur Lage der Gegenwartsliteratur sowie eine feurige Philippika über den deutschen Kulturbetrieb runden die Vorlesungen ab. Kirchhoff legt die Triebfeder literarischen Schreibens bloß und bringt in einem eigens für diesen Band konzipierten neuen Essay die Geschichte des eigenen Missbrauchs zur Sprache. Klar umrissene Begrifflichkeiten für eine poetologische Systematisierung lehnt Kirchhoff ab, konzentriert sich auf die Körperlichkeit der Dinge, schreibt über den Männlichkeitswahn eines Hemingway, die Idiosynkrasien eines Kafka und über die Körperlichkeit der Werke moderner, zeitgenössischer Autoren wie Josef Winkler, Marguerite Duras und Hervé Guibert und kommt zu den die Literatur bestimmenden Fragen: 'Weshalb bin gerade ich, hier und jetzt, in diesem Körper eingeschlossen? Wo komme ich her, und wo sollte ich hin? Was soll dieses Leben?' ... und: 'Gibt es ein Recht auf Glück?'

Bodo Kirchhoff, geb. 1948, lebt in Frankfurt am Main und am Gardasee, wo er mit seiner Frau im Sommer Schreibseminare gibt. Er hat viele renommierte Preise gewonnen, u.a. den Kritikerpreis für Literatur, den Preis der LiteraTourNord und die Carl-Zuckmayer-Medaille des Landes Rheinland-Pfalz. Im Herbst 2012 erscheint sein neuer Roman 'Die Liebe in groben Zügen'. Näheres zu Kirchhoffs umfangreichem Werk und seinen Seminaren unter: www.bodokirchhoff.de oder: www.Bodo-Kirchhoff.de.
Kirchhoff Legenden um den eigenen Körper jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


I


DAS KIND UND DIE BUCHSTABEN


Guten Abend, meine Damen und Herren – fangen wir ganz einfach an, mit einem Satz aus der Rubrik »Vermischtes«: »In den letzten Jahrzehnten ist das Interesse an Hungerkünstlern sehr zurückgegangen.«

Es fällt mir nicht schwer zu erklären, warum gerade solch eine Zeile, erschütternd lapidar, dieser Poetik-Vorlesung vorangestellt ist. Der Sog, den eben jener Satz, Beginn einer Erzählung, vor nun bald dreißig Jahren schon auf mich ausgeübt hat – mir stand damals, erstmalig, ein Weg offen, in der Welt herumzukommen: lesenderweise –, lag nämlich in dem Gefühl, auch an mir, der ich in mich vergraben war, sei in letzter Zeit das Interesse sehr zurückgegangen; und plötzlich sah sich der Leseanfänger eingeladen zu einer Erzählfahrt, in deren Verlauf, so durfte er hoffen, man doch manches erführe über die Ursachen eines derart zurückgehenden Interesses an einem selbst.

Später bin ich dann noch viel herumgekommen, lesenderweise, kehrte aber stets ins Land des Hungerkünstlers zurück; es hat mich bewegt, dieses Land, wie jene schroffen Gegenden, in die hineingeboren zu sein man sich so gern wie schaudernd vorstellt – »… an schönen Tagen«, heißt es dort, »wurde der Käfig ins Freie getragen, und nun waren es besonders die Kinder, denen der Hungerkünstler gezeigt wurde; während er für die Erwachsenen oft nur ein Spaß war, an dem sie der Mode halber teilnahmen, sahen die Kinder staunend, mit offenem Mund, der Sicherheit halber einander bei der Hand haltend, zu, wie er bleich, im schwarzen Trikot, mit mächtig vortretenden Rippen, sogar einen Sessel verschmähend, auf hingestreutem Stroh saß …« Dies kurze Stück (aus der berühmten Erzählung, erschienen 1922) veranschaulicht schon meine Thematik: Schreiben als Legendenbildung um den eigenen Körper, gleichgültig wie kraftvoll oder wie schmächtig, wie anziehend oder abstoßend dieser in den Augen anderer ist; der Schöpfer des Hungerkünstlers hielt bekanntlich nie große Stücke auf seinen Körper; an allem schien es ihm zu gebrechen, was den Körper seines Erzeugers, aufstrebender Prager Kaufmann, auszeichnete. Verglichen mit ihm, war er buchstäblich ein Nobody, wie es im Englischen treffend heißt – dann aber die Worte: »mit mächtig vortretenden Rippen«.

Auf einmal verwandelt sich, schreibend, der Körper dessen, der seinen Mangel an Stattlichkeit selbst herbeigeführt hat, in einen anderen, machtvoll imaginären Körper – den unumstößlichen der Literatur, in dem Fall: jener Erzählung, über die später noch zu sprechen sein wird; zunächst ein weiterer kurzer Text, doch erschienen nicht 1922, sondern 1979 – »Ich habe es wieder zu mir genommen. Es mit Hilfe eines Fotos, welches mich und meine Mutter zeigt, aufgelesen, mit dem kleinen Finger zusammengeschoben, es abgeleckt und verschluckt. Ich habe mir über den Mund gewischt, bin aufgestanden und begann zu posen, was ich jetzt immer noch mache. Ich schaue mich an, diesen unglaublichen Körper mit seinen sagenhaften Einzelheiten, und weiß inzwischen genau: Jene Angst, die alles begleitet, stammt überhaupt nicht von mir.«

Und auch in diesen Zeilen aus meinem Band Die Einsamkeit der Haut das Bemühen doppelter Neuerschaffung: eines unvergänglichen Körpers als Teil der Erzählung (so aussichtslos es sein mag, durch Schlucken des eigenen Samens dessen Verlust auszugleichen) und jenes imaginären, den der Gesamttext verkörpert: nämlich das zu Lesende, die Legende um den gegebenen, durch Torturen des Sports zwar zu verformenden, nie aber zu objektivierenden Körper; erinnern wir uns nur all der Versuche, uns einmal ganz von hinten zu sehen …

In meiner Arbeit ging es von Anfang an, darum das zweite Zitat, um Körper und Schrift, um die Spannungen zwischen Soma und Sema, vermutlich, weil es auch in meinem Leben schon recht früh um diese beiden Pole ging – »Das Kind und die Buchstaben«, heißt daher das heutige Thema. Beim nächsten Mal steht die Wahrheit als eine hergestellte, »Orthopädische Wahrheit« im Mittelpunkt, die Macht und Ohnmacht der Fiktion; in der dritten Vorlesung wird es um »Schreiben und Narzissmus« gehen – etwas, das für sich spricht; oder gegen mich. Und am vierten Abend der Versuch, das Leitmotiv meiner Poetologie, »Legenden um den eigenen Körper«, mit unserer Zeit in Verbindung zu bringen – »Dem Schmerz eine Welt geben«, lautet das Thema. Die letzte Veranstaltung dürfen Sie sich dann als eine Art Theaterabend vorstellen; sie wird an einem anderen Ort stattfinden und einiges von dem, was vorher behauptet wurde, demonstrieren, zum Beispiel, dass jedes Wort im Grunde ein Abtasten des Körpers ist – Titel: »Der Ansager einer Stripteasenummer gibt nicht auf«.

Das Kind und die Buchstaben – wie ließe sich da besser beginnen, als dass ich die Geschichten heranziehe, die mir den eigenen Körper grundlegend interpretiert haben und mich, auf Umwegen, zur Literatur führten, zu jener Art des Schreibens also, bei der man dem Publikum eine bestimmte Sache, seine, vor Augen hält, indem man ihm eine ganz andere zeigt.

Erste Geschichte. Mein Vater – Jahrgang 17 und früh überrollt von den Zeiten – hatte nur ein Bein; er verlor das andere Bein im Krieg, und so lernte das Kind diesen allem vorausgehenden Mann, der weiß Gott mit beiden Beinen im Leben stand, als Einbeinigen kennen. Eine meiner frühesten Erinnerungen ist die, dass ich mit meinem Vater in Hamburg zum Prothesenbauer ging, wie dieser Besuch immer hieß – und was im Kind zunächst auch das Bild eines Bauern hervorrief, der auf dem Feld Arme und Beine anbaut; sprachlos durchstreifte es, während sein Vater diverse Beine probierte, ein verzweigtes Gewölbe, von dessen Decke Hunderte hölzerner Gliedmaßen hingen.

Etwa um diese Zeit, 1952, durfte das Kind zum ersten Mal mit den Eltern ins Kino; es sah die Geschichte vom hölzernen Jungen Pinocchio und glaubte, sich selbst zu erblicken; vor Aufregung machte es in die Hose, man musste das Kino verlassen – »Ich war’s nicht«, soll das Kind gesagt haben, die Eltern ließen das durchgehen, und schon gab es eine Markierung: Man konnte sich vom eigenen Körper zur Not distanzieren. Nach dieser Erfahrung begann das Kind zu zeichnen. Es zeichnete Schiffe im Querschnitt, die es Ozeanriesen nannte, und schuf sich damit provisorische Buchstaben, eine hieroglyphenartige Schrift, dem Schiffskörper entlehnt, schrägen Schornsteinen und p-förmigen Nebelhörnern, Anker und Bullaugen oder dem Kästchenmuster der Kabinen. Seine Tätigkeit war im Grunde mehr Schreiben als Zeichnen, ein Festschreiben jener Distanz zu allem Körperlichen, das ihm nicht geheuer war, seit es dessen Bestandteile von Gewölbedecken hatte herabhängen sehen – zwischen vier und fünf entwickelte das Kind ein Gefühl, das es erst zwanzig Jahre später, mit Hilfe eines anderen, Jacques Lacan, zu benennen vermochte, das Gefühl eines Mangels an Sein – des Mangels, den Heidegger Schuld nennt, unsere Schuld, darin bestehend, dass wir uns nicht selbst erschaffen haben; das Kind jedenfalls, durch künstliche Glieder früh schockiert und früh ermuntert, sollte die Selbsterschaffung fortan versuchen.

Zweite Geschichte. Die junge, schöne Mutter des Kindes strebte danach, eine berühmte Schauspielerin zu werden; sie war folglich mehr im Theater als zu Hause oder zu Hause so gut wie im Theater, laut ihre Rolle lernend, während im Nebenraum wieder ein Ozeanriese Gestalt annahm; und so erfuhr das Kind schon bald, dass Anwesenheit kein natürlicher, die Spitze einer Hierarchie bildender Zustand ist, sondern nur ein Sonderfall der Abwesenheit: eine für das Kind geradezu machtvolle Abwesenheit vorhandener Eltern.

Die Mutter, besessen von der Vorstellung, ihr Nobody-Sein zu beenden, spielte unentwegt Komödien, immerhin auch am Deutschen Schauspielhaus, wo das Kind, manchmal, während der Proben bei der Souffleuse sitzen durfte, und der Vater, besessen von dem Wunsch, etwas herzustellen, Fabrikant zu werden, stand unter dem Druck, Geld für das Nötigste zu verdienen (erstaunlich dicht unter der Oberfläche war er Künstler, mit Leidenschaft einem genauen Zeichnen verpflichtet und vom diffusen Theaterschein eher abgestoßen); er war eigentlich in allem das Gegenteil der Mutter, ohne den Krieg hätten beide nie zusammengefunden (eine neunzehnjährige Wienerin aus bürgerlich-nervösem Haus pflegte, zwangsrekrutiert, einen schwer kriegsverletzten, gutaussehenden Habenichts aus Hannover; dass man sich verliebte, lag so auf der Hand wie die folgende Heirat; und nicht mehr als ein Gerücht ließ dann das junge Paar nach Hamburg gehen).

Die dritte Größe im Leben des Kindes war die Mutter seiner Mutter, Das Ömchen, früher besessen von der Idee einer großen Opernkarriere; sie war auch Opernsängerin, an der Wiener Volksoper, bis die Standesregeln ihres Bräutigams, eines Majors aus Detmold, den der Krieg gleich verschlang, dieses Bühnenleben beendeten; übrig blieb eine schöne Stimme und das Phantasma des Erfolgs.

Jedes Wochenende holte sie das Kind bei den Eltern ab und ging mit ihm in die Grefflingerstraße. Dort sang sie ihm aus der Butterfly vor, während in einem vermieteten Hinterzimmer ein gewisser Dr. Branzger, den das Kind nie zu Gesicht bekam und darum auch nie vergaß, halb entzückt und halb empört vor sich hinbrummte. Wenn sie dann genug gesungen hatte, bezahlte Das Ömchen zwei Jungs dafür, dass sie mit dem Kind spielten, da das Kind nicht wusste, wie beim Spielen im Allgemeinen vorzugehen ist; häufig wechselnde Kindermädchen waren nur angewiesen, es unter der Woche mit Papier und Bleistift zu versorgen, ihm die vorläufige Schrift zu ermöglichen. So zeichnete es in aller Stille bis zur...


Bodo Kirchhoff, geb. 1948, lebt in Frankfurt am Main und am Gardasee, wo er mit seiner Frau im Sommer Schreibseminare gibt. Er hat viele renommierte Preise gewonnen, u.a. den Kritikerpreis für Literatur, den Preis der LiteraTourNord und die Carl-Zuckmayer-Medaille des Landes Rheinland-Pfalz. Im Herbst 2012 erscheint sein neuer Roman "Die Liebe in groben Zügen". Näheres zu Kirchhoffs umfangreichem Werk und seinen Seminaren unter: www.bodokirchhoff.de oder: www.Bodo-Kirchhoff.de.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.