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E-Book

E-Book, Deutsch, 550 Seiten

Kirchhoff Parlando


1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-627-02180-1
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 550 Seiten

ISBN: 978-3-627-02180-1
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Karl Faller, Held des Romans, erwacht im Krankenhaus. Jemand hat ihn in der Neujahrsnacht neben einer erstochenen Frau niedergeschlagen, auf der Tatwaffe ein wahres Gedränge seiner Fingerabdrücke, wie die junge Staatsanwältin Suse Stein bemerkt. Sie vernimmt ihn über Wochen in der Mordsache und beweist trotz aller Selbstbezichtigung des Verdächtigen dessen Unschuld. Karl kommt der Staatsanwältin mit Geschichten, die einen Staub aufwirbeln, der sich erst am Ende des Buchs vollständig legt. Da ist unter anderem von einem Lehrer die Rede, den er schon als Schüler erschlagen haben will, und von erst kürzlich umgekommenen Eltern, die der Sohn nach langer Zeit wieder zusammengebracht hat und an deren Tod er sich die Schuld gibt. Doch in das Zentrum von Karls Erzählen rückt immer zwingender sein schillernder Vater Kristian, der den Sohn in den Wirren der Studentenbewegung früh verlassen hat und später eine einzigartige Buchreihe erfand, Fallers Stadtführer für Alleinreisende.
Kaum auf freiem Fuß, bereist Karl die Städte, die sein Vater in unverwechselbarer Weise beschrieben hat, davon überzeugt, Kristians Wege durch versteckte Gassen und Lokale seien auch Wege zu seinen Geliebten oder überhaupt zur Liebe. Mit leidenschaftlicher Neugier folgt der Sohn den Spuren eines fernen und doch vom Alter her zu nahen Vaters und begibt sich auf die Suche nach der rätselhaften Fremden, die in allen Stadtführern (Rom, Marrakesch, Lissabon, Moskau, Buenos Aires) erwähnt wird - einzige Geliebte seines Vaters, die er selbst noch nicht erobert hat. Aber nicht nur Karl folgt einer Fährte, auch an seine Geschichte hat sich jemand geheftet. Die junge Staatsanwältin Suse Stein, schon während der Verhöre ebenso an dem Verdächtigen interessiert wie an der Wahrheit, hat Urlaub genommen. Als sie eines Abends in Karls Hotel auftaucht, bewegen sich Sprache und Liebe für ihn zum ersten Mal aufeinander zu.

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Bevor das alles anfing oder ins Rollen kam, hatte ich noch geträumt, kurz, aber stark, stärker als jeder Kopfschmerz an diesem Tag Null, eine Hand war da an meiner Wange, Daumen am Kiefer, und eine Stimme sagte Du, und über die Schulter sah ich genau auf den Mann, der gern gestanden hätte, wo ich stand, und dabei immer noch die Hand und das Du sowie ein Aufatmen meinerseits, weil beides, Gebärde und Stimme, die Liebe ergab oder war, nachts, in einer Stadt voller Treppen, Lissabon, dachte ich, und da kamen schon dieser Schmerz und zwei idiotische Fragen dazwischen, Können wir jetzt anfangen, wissen Sie, wo Sie sind? In einem Bett war ich, logisch, und mein Kopf schien zu bersten, dazu noch Übelkeit, und wieder Können wir jetzt anfangen, wissen Sie, wo Sie sind? Ich schlug die Augen auf und in den Schläfen ein Gemeißel – jetzt ist, wenn es weh tut –, Im Krankenhaus. Lobendes Pfeifen, Und wo? Der Frager, Arzt oder Sanitäter, einer in Weiß, gab keine Ruhe, Frankfurt stieß ich hervor und wollte mich aufstemmen, schon ging sein Finger hoch, Liegenbleiben. Und Sie heißen, Sie wohnen? Er hatte das alles auf einem Blatt, aus meinen Papieren vermutlich, es war bloß ein Spiel. Faller, Karl, von hier, aber nicht hier geboren, und wieder sein Finger, Nur die Fragen beantworten, Sie sind wie alt? Ich tat jetzt verwirrt, Fünfunddreißig, kann das sein, was ist passiert? Der Weiße sah aus dem Fenster, Sie bekamen einen Schlag auf den Kopf, quer über die Stirn bis zur linken Braue, können Sie sehen mit dem Auge? Genau Richtung Stadt ging das Fenster, rechts im Hintergrund unsere paar Hochhäuser, ich konnte alles sehen, nur mich nicht, Wie schaue ich aus? Der Arzt oder Sanitäter drehte sich um, Besser, es besucht Sie niemand, aber das schwillt wieder ab, vor der Tür wartet allerdings eine Staatsanwältin, die will mit Ihnen reden. Ich zeigte mich geschmeichelt, während er die Tür bereits öffnete, und schon stand die Staatsanwältin an meinem Bett, schweigend, bis der Weiße aus dem Zimmer war. Das erste Wort dann von mir, Sehen Sie lieber aus dem Fenster, und die Staatsanwältin – nervöse Wangen, flache Lider, naßblondes Haar – nannte meine Blutergüsse prächtig, ehe sie loslegte. Stein, ich ermittle in einer Mordsache, heute morgen, zwei Uhr, als noch Raketen flogen, wurde eine Unbekannte hinter der Alten Oper erstochen, Sie, Herr Faller, fand man neben der Leiche, niedergeschlagen, und auf der Tatwaffe gibt es ein regelrechtes Gedränge Ihrer Fingerabdrücke, wie erklären Sie sich das? Sie zückte ein kleines Tonbandgerät, ob sie das einschalten dürfe, und ich, nach einem ermunternden Nicken, das höllisch weh tat, Ganz einfach, ich war’s, ich kannte die Frau, sie trat auf dem Opernplatz als Stillsteherin auf, seit Tagen stand sie da am Brunnen . . . Die Staatsanwältin – knapp mein Alter, aber noch mit diesen kleinen, behandelten Stellen auf den Wangen – unterbrach mich, Und von wem wurden Sie bewußtlos geschlagen? Wir nehmen an, das war der Täter, er wollte keinen Zeugen. In ihren Augen, grau bis blau, jetzt ein Lächeln, eins ohne Mundbeteiligung, und ich: Sie glauben mir nicht, und sie: Falsch, ich muß Ihnen glauben, die Beweislage zwingt mich dazu. Alles, was Sie mir sagen, Herr Faller, kann gegen Sie verwendet werden. Etwas spät kam das, dieses Belehrtwerden, aber ich wollte keinen Streit, daher meinerseits nur ein weiteres Nicken samt Zucken vor Schmerz, und nun war mir alles egal, Gut, die ganze Wahrheit, unter einer Bedingung, Sie hören sich auch die ganze Geschichte an, und sie gleich, leise, So kommen wir nicht weiter. Aus ihrer Sicht hatte sie recht, doch interessierte mich allein meine Sicht, wie es ja auch nur meine höllischen Schmerzen waren, und ich wollte ihr das sagen, aber da sagte sie schon Wovon leben Sie, Herr Faller? Ich sah auf ihre chinesischen Lider, Wovon ich lebe, warum möchte die Staatsanwaltschaft das wissen? Wieso fragen Sie mich nicht, wie ich lebe oder wo ich lebe; ich lebe mit Blick auf unsere Hochhäuser, die nicht hoch genug sind, mich zu erschüttern, aber schon zu viele Stockwerke haben, um das Ganze noch auf die leichte Schulter zu nehmen, eine gewisse Kulisse demnach, ausreichend für eine Fernsehserie, die ich mit Geschichten versorge, aus kindlichem Gefallen am Geld, nicht aus Liebe zur Sache, was man mir übelnimmt, ansonsten trifft man mich tagsüber im Bett, wie Sie sehen . . . Darauf keine Erwiderung, nur ein Ausdruck von Sorge, Sorge über meinen Zustand, und ich zu ihr Hören Sie, ich rede hier gegen den Schmerz an, nichts weiter. Aber selbst das schien ihr Ohr zu verfehlen, ohne Antwort ging sie zur Tür, dort drehte sie sich noch einmal um – plattes, von mir immer vermiedenes Mittel –, Ach, alles Gute zum neuen Jahr, und sobald Ihr Kopf es erlaubt, unterhalten wir uns. Sie hatte wirklich Jahr gesagt, nicht Jahrtausend, und mit dieser Zurückhaltung auch die Tür geschlossen, geradezu behutsam, und mich allein gelassen oder fast allein; irgend etwas hing noch von ihr in der Luft, kein Geruch, auch kein Aroma, sondern ein Ton, der ihrer Fragen, Wovon leben Sie, ohne Dringlichkeit, als hätte sie die Ruhe, allem zu folgen, jedem Wort aus meinem Mund. Der Arzt oder Sanitäter, inzwischen vielleicht auch Bewacher in Weiß, kehrte zurück, er wollte noch einige Daten, Krankheiten, Geburtsort, Adresse der Eltern, und ich sagte, diese Eltern seien kürzlich umgekommen, in Italien, wo sie mich auch gezeugt hätten, nachweislich, doch als Geburtsort stehe Kirchzarten im Paß, Dorf meiner Kindheit, südlicher Schwarzwald, das aber von Vaterseite gegen Frankfurt am Main eingetauscht worden sei, und als meine einzige Krankheit sähe ich die Zeit an, die ich in dieser Vaterstadt zugebracht hätte, das solle er bitte aufnehmen, aber er tat nichts dergleichen, er murmelte nur Hops, Herr Faller, als sei er mir damit überlegen, und nun war ich es, der nicht lockerließ, bis er mit Hirnorganisches Psychosyndrom herauskam – Oder auch Hops, so sagen wir hier – und wieder ans Fenster trat und auf die Hochhäuser schaute, als seien sie ihm zuliebe gebaut worden, und da sprach ich einfach weiter, gegen das Hops und seine Großstadtillusion und meine Kopfschmerzen an. Natürlich sei ich hier zu Hause oder daheim, darin liege ja die Krankheit, in dieser Zwangsliebe, die mir oft hochkomme, wie die Pasta am Opernplatz oder Rippchen in der Freßgass’, eher die Pasta, nicht das Schweinerne, das verschmelze mit einem, wenn man es nur oft genug anschaue, desgleichen die Zeil, sogar an einem Sonntag, still und starr; verrückt, wie ich sie liebgewonnen habe, die Zeil, dort auf und ab laufe, aber auch in anderen Straßen, Kurt Schumacher oder Berliner, Fritz Reuter oder Große Gallus, trotzig flaniere, wenn auch noch genug bei Trost, mir keine Rädchen an die Füße zu schnallen, mich einzureihen bei der Jagd auf die Stadt, oft im März schon mit bloßen Schultern, Helm auf dem Kopf, Manschetten ums Knie, südenerzwingend, Legionär des far niente, vom Caffè Opera über die Via Goethe und das runde Kaiserplätzchen vor der Banca di Commercio bis zur Piazza Willy Brandt, vormals Theaterplatz, und dann am Main entlang, aufwärts, fiume a monte, und via Alleenring zurück, und das Woche für Woche, Monat für Monat, auch noch im Juni, wenn Millionen geplatzter Blüten ihre Wellen berückenden Geruchs aussenden und ich in meinen Wänden bleibe, während nachts in den Hecken die Vögel schreien, Zeichen unbändigen Erwachens für viele, für mich nur eines Nicht-aufbrechen-Könnens vom falschen Ort; in keiner anderen deutschen Stadt haben sich Wetter, Menschen und Architektur dermaßen gefunden, niemand ist hier wirklich stolz, kein Schwein! Mein weißer Bewacher – er hatte sich wieder umgedreht – schien jetzt richtig Angst vor mir zu haben oder wenigstens falschen Respekt, Aber Sie sind doch hier gar nicht geboren, also was wollen Sie . . . Und ich griff mir an den Kopf, Nur etwas gegen Übelkeit und Schmerzen, und da erwies er sich als angehender Arzt, schon berechtigt, mir ein Mittel zu spritzen, und während das Gemisch aus Vomex und Dipidolor langsam in meinen Arm floß, sagte ich, für die Statistik treffe das sicher zu, aber der wahre Geburtsort liege für mein Gefühl dort, wo man zum ersten Mal einen klaren Blick auf sich selbst werfe, und das war hier. Die Mixtur begann gleich zu wirken, und ich fühlte eine Welle von idiotischem Dank in mir aufsteigen, Dank, wie ich ihn auch manchmal der Stadt gegenüber empfand, etwa auf der Terrasse des Cafés Plus, Sachsenhausen, in der ersten wärmenden Sonne, zwischen Immobilienhändlern aus Hanau und Offenbach, Prosecco in der Faust und ihren Benz im Auge, und sagte Ich schulde Ihnen etwas, hören Sie zu: Der einzige Ort, an dem ich es in Frankfurt, langfristig, aushalte, ist mein Bett. Darauf von ihm, dem Weißen, nur ein Nicken und das rasche Herausziehen der Nadel und das vorgeschriebene Pflästerchen auf den Einstich, Morgen früh kommt der Kopf in die Röhre, Herr Faller, wegen möglicher Hämatome, mit Ihrem Auge müssen Sie leider in eine andere Abteilung, und nun werden Sie gleich schlafen. Rückwärts, mich bis zuletzt observierend, als sei ich tatsächlich gefährlich, verließ er nach dieser Vorhersage das Zimmer, und natürlich schlief ich nicht, ich wartete bloß auf den angekündigten Schlaf in dieser Mittagsstunde des ersten Januars, während Schmerz und Übelkeit von mir abfielen. Nichts tat mehr weh, nicht einmal die Gesellschaft meiner Gedanken, im Gegenteil, ich dachte nämlich an die Staatsanwältin, die sich mit mir unterhalten wollte, sobald es mein Kopf erlaubte, und an dem sollte es nicht scheitern, dieses frühe Gespräch, also ich habe Ihretwegen, vorzeitig, das Bett verlassen, was schon einiges heißt, denn seit jeher habe ich Betten, auch fremde, als Zuflucht betrachtet, und...


Bodo Kirchhoff lebt in Frankfurt am Main und am Gardasee.
In der Frankfurter Verlagsanstalt erschienen u.a. seine Romane "Infanta", "Schundroman", "Wo das Meer beginnt", "Die kleine Garbo" und ein Band mit gesammelten Erzählungen "Der Sommer nach dem Jahrhundertsommer".



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