Kirchhoff | Wo das Meer beginnt | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Kirchhoff Wo das Meer beginnt


1. Auflage 2004
ISBN: 978-3-627-02115-3
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-627-02115-3
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wer bin ich, wenn ich begehre? Und welche Grenzen überschreite ich dabei? Kardinalfragen für Viktor Haberland seit einem Vorfall am Ende der Schulzeit mit Tizia, seiner Partnerin bei den Proben des Sommernachtstraums. Damals kam es zu einer außerordentlichen Lehrerkonferenz, und nur ein alter, einzelgängerischer Lehrer machte sich für den Jungen stark. Inzwischen ist Haberland Anfang dreißig und bereitet für ein deutsches Kulturinstitut in Lissabon einen Abend unter dem Thema 'Das traurige Ich' vor. Auftreten soll unter anderem ein Hirnforscher mit seiner Neurologie der Romantik und eine Schauspielerin, die Gedichte vorträgt. Auf entsprechende Anfragen meldet sich zu seiner Überraschung Tizia, eben das Mädchen von einst, jetzt am Theater, ohne zu wissen, wer sie da engagieren will. Viktor liest zum ersten Mal die Aufzeichnungen der Gespräche, die sein alter Lehrer damals mit ihm geführt hat. Und bevor es zu dem Aufeinandertreffen von Tizia und Viktor in Lissabon kommt, versteht Viktor, wer er sein kann im Begehren des anderen. Bodo Kirchhoff ist mit 'Wo das Meer beginnt' ein meisterhaft erzählter Roman mit fabelhaften Nebengeschichten und großartigen Erzählsträngen gelungen: ein Roman über Liebe und Eros, über die Spannung zwischen Körper und Sprache, über Situationen der Grenzüberschreitung.

Bodo Kirchhoff lebt heute in Frankfurt am Main und am Gardasee. Von ihm erschienen sind u.a. 'Parlando' (Roman, 2001) und 'Schundroman' (Roman, 2002) in der Frankfurter Verlagsanstalt.
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– 1 –


»Was ist mit dir, was denkst du? Du denkst, ich hätte keine Phantasie, ich könnte mir nicht vorstellen, was an dem Abend zwischen dir und dem Mädchen war, aber ich kann es mir vorstellen, und wie ich das kann«, sagte mein alter Lehrer, kaum saßen wir uns zum ersten Mal bei einer Kanne lakritzeschwarzem Kaffee gegenüber, ich noch beurlaubt und er krank geschrieben. Das war für mein Gefühl gestern, in diesem März, dem März, als Bagdad vor Berlin oder Beckham in den Nachrichten kam.

»Denn ich kenne das Mädchen, und ich kenne dich, Haberland, und ich weiß, was ein Schulkeller ist und wie man sich fühlt nach einer Theaterprobe, Sommernachtstraum, doch es würde auch schon der Name des Mädchens genügen, um es mir vorstellen zu können. Ihre Mutter, alleinerziehende Ärztin mit Bildungsallüren, hatte sich, inspiriert durch einen Roman, für Tizia entschieden, was die Tochter zwingen sollte, apart zu sein, so wie dein vielbeschäftigter Vater – ein einziges Mal besuchte er meine Sprechstunde, um nach deinen Fortschritten im Deutschen zu fragen – dich mit nichts als einem Wort dazu verdammt hat, als Mann aufzutreten. Stil, sagte er, das sei sein Appell an dich, und so trafen zwei Verdammte aufeinander, die eine mit dem Willen, alles Aparte abzuwerfen, der andere mit dem Vorsatz, endlich mit eigenem Stil aufzutrumpfen. Oh, ich kann es mir sogar lebhaft vorstellen, wie dieses Mädchen, das gar kein Mädchen mehr war, wenn auch noch lang keine Frau, nach der Theaterprobe – sie die Thisbe, du der Pyramus, die Szene mit der symbolischen Wand und dem Loch – dir in den Keller gefolgt ist oder gar vor dir herging, Hände im Nacken, und mit dem Fuß die Tür zum Heizraum aufstieß …

Wenig später brennt dort beiderseits einer Luftmatratze je eine Kerze, und ein klassischer Plattenspieler mit alter Platte, Schuleigentum, liefert dazu die Musik, auf die wir noch kommen. Und wie gesteuert von dieser Musik knöpft sich Tizia das Hemd auf, das sie als Thisbe getragen hat, und läßt es sich über die Schultern fallen, und übrigbleiben – alles andere verschwindet für dich – zwei überraschend volle Brüste, die über dem Herzen etwas schwerer und beide mit einer Gänsehaut, wahrlich apart, als führten sie ein Eigenleben. Deine Augen sind noch ganz darauf gerichtet, da hat sich Tizia schon die Hose, in der sich anderntags ein Riß ?nden soll, über die Schenkel gestreift, wobei sie ihre Beine anzieht und sich, bewußt oder unbewußt, nach hinten rollt auf der Luftmatratze, während du vor ihr in die Knie gehst, als gäbe es etwas anzubeten, die Hände am Knäuel ihrer Hose wie an einem Rettungsreif, wenn du den Vergleich gestattest. Du hast gezerrt an dem Knäuel, keine Frage, sonst wäre es kaum zu dem Riß gekommen, der allerdings nicht groß war, nur ein Stück offene Naht: Also war es vielleicht noch ihr Wille, nehme ich an, sich in der Weise ausziehen zu lassen. Doch dann muß etwas geschehen sein, das sich über ihren Willen hinwegsetzte oder ihn brach, etwas, das mehr von dir ausging als von ihr, auch wenn es nicht allein deinem Willen gefolgt sein muß, jedenfalls nicht deinem freien. Aber wie dem auch sei, Haberland – es hat zu jener Reihe schwer einzuordnender Schreie geführt, die unseren Hausmeister, den bekanntermaßen ängstlichen Zimballa, veranlaßt haben, hilfesuchend im Delphi, also um die Ecke, anzurufen, wo wir alle vor einem schwerverdaulichen griechischen Essen saßen, als könnte eine erwachsene Frau und Rektorin nicht auch allein sechsundfünfzig werden.

Als uns Zimballas Anruf erreichte, gut eine Stunde nach Ende der Probe, und das heißt, eine knappe Stunde nach Erscheinen der Kressnitz beim Griechen – als Leiterin der Theatergruppe durfte sie später kommen –, bedankte sich die Cordes gerade für unsere Teilnahme an ihrer Feier, die sie im selben Atemzug für beendet erklärte. Im Hölderlin, wie sie sich ausdrückte, passiere etwas Schlimmes, und schon bei dieser Einleitung ließ jeder Messer und Gabel sinken, erleichtert, wie mir schien. Ersticktes Schreien im Keller, sagte die Jubilarin mit einem Griff nach den Blumen, für die jeder gespendet hatte, und kurz danach platzten wir mit Zimballas Hilfe bei euch herein, wie dir sicher noch gut oder weniger gut in Erinnerung sein wird. Kollege Blum, der seinen Lammspieß einfach mitgenommen hatte, war der erste in der ruckartig geöffneten Tür; ich sah zunächst nur auf ihn, der mit seinen neugemachten Zähnen noch einen Fleischbrocken vom Holzstäbchen zog, während die Augen schon auf den Boden gerichtet waren, und folgte dann seinem Blick, bedrängt durch unsere sonst so gebremste Kristine, ich meine die Kressnitz, die sich wohl irgendwie verantwortlich fühlte für das Geschehen im Raum und, unter Einsatz des Kollegen Graf, der ja auch privat nie über den Sportlehrer hinauskommt, an mir vorbeizugelangen versuchte und mich nun vollends gegen Blums Rücken schob, wodurch meine Sicht auf die Dinge fast gänzlich versperrt war. Ich sah nur ein Stück Luftmatratze und zwei leicht behaarte Waden sowie eine der beiden ?ackernden Kerzen und in deren Lichtschein einen Fuß mit lackierten Nägeln, welcher seitlich der Matratze ein Stück frei in der Luft hing, geradezu pendelnd über einem geknüllten Taschentuch, als sei er mit einer Schnur an der Decke befestigt. Und im nächsten Moment gingen schon die Kerzen aus, zuerst die meinen Blicken entzogene, dann die andere, durch Pusten. Das geknüllte Taschentuch aber geriet in Bewegung und rutschte wie ein Blatt im Wind an Blums Mailänder Slippern vorbei – er hatte ihre Herkunft erwähnt – und landete genau vor meinen Schnürschuhen aus dem Kaufhof, während die Cordes zum Lichtschalter griff und es eine Sekunde lang hell wurde, viel zu hell, um etwas zu sehen, bevor jemand ihre Hand förmlich wegschlug und das Licht wieder löschte, zu deinem Vorteil, Haberland. Es war Blum, der wieder für Dunkelheit sorgte, kein anderer hätte so entschieden dazwischengehen können; es erstaunt mich immer wieder, was sich die Frauen von ihm alles bieten lassen, nicht nur die Cordes, mit der er verreist war, auch die Kressnitz, an deren Hals vorbei er zum Lichtschalter gelangt hat, wo seine Hand stur verharrte, während sie den Kopf etwas schräg legte, um sich an seinem Arm zu reiben, so mein Eindruck. Leo Blum behielt auch weiter die Hand auf dem Schalter, was mit seiner Herkunft zu tun haben mochte, der ewigen Sorge, von fremder Seite bestimmt zu werden, hier jedoch, in der Gegenwart, nur alle anderen beschränkte. Er versperrte sowohl der Cordes den Weg als auch ihrer Stellvertreterin, unserer niemals krankfeiernden Frau Kahle-Zenk, beide mehr als sonst geschminkt, die Jubilarin noch mit ihren elf Rosen im Arm, Quersumme aus sechsundfünfzig, Pirsichs Idee. Es konnte nun keiner mehr nachrücken, und nach dem Auf?ammen des Lichts, das jeden geblendet hatte, war in den Raum selbst noch weniger hineinzusehen als vorher. Ich sah nur meine Schuhe und das Taschentuch und bückte mich schnell danach und steckte es ein, eins dieser Dinge, die man besser nicht zu erklären versucht, verrückt wie die ganze Geschichte dort unten, ich meine nicht eure, ich meine unsere, die der alarmierten Lehrer, in den Augen nichts als Neugier und in den Händen das herübergerettete Essen, eine jener Geschichten, die sich mit allen Mitteln ihrem wahren Ernst widersetzen. Doch wir waren beim Licht, das jetzt nur noch aus dem Kellergang in den Raum ?el, aus dem Zimballa Musik und Schreie gehört hatte, ein Licht, das mehr auf die Gesichter der Betrachter ?el als den Gegenstand der Betrachtung, höchstens noch in Türnähe auf einen schmalen roten Gürtel, vermutlich hastig aus einer Hose gezogen und von Pirsich, durch kurzes In-die-Hocke-Gehen, aufgehoben, womit es nun zwei Trophäen dieses Abends gab, Gürtel und Taschentuch. Und an dieser Stelle hatte ich eigentlich genug und wollte schon kehrtmachen, auch weil es ja nichts mehr zu sehen gab, nur noch die Endzeitblicke zwischen Blum und der Cordes, aber da drängten mich die beiden letzten aus der Runde beim Griechen, die erst jetzt in den Kellergang kamen, wieder zurück, nämlich unsere Stubenrauchs, bei sich, in Folie gewickelt, ihr angebrochenes Essen, Calamares mit Auberginenbrei und Zaziki. Heide Stubenrauch trug das silbrige Päckchen, das den gesamten Gang, ungleich mehr und ungleich schneller als etwa Blums Lammspieß, mit einem Aroma von griechischer Küche erfüllte, während Holger Stubenrauch mit wehender Siebzigerjahrekönigspudelfrisur und eingesackter Wein?asche, Retsina, sowie dem Ruf nach der Polizei heraneilte, und beide wollten sie von mir, der ich immer noch hinter Leo Blum stand, wissen, was sich in dem Raum, der ja nun völlig im Dunkeln lag, abspiele oder abgespielt habe …

Da seien wohl zwei drin, die nach der Theaterprobe noch etwas vorgehabt hätten, sagte ich, worauf auch schon dein Name ?el, und zwar aus dem Mund von Pirsich, das Stichwort für die Stubenrauch. Sie legte die Calamares samt Beilagen auf einen Feuerlöscher und schritt mit den Worten, dann habe die Tizia da drinnen geschrien, Richtung Tür, genau zu dem Zeitpunkt, als Blum sich umdrehte und mit beiden Armen die Kressnitz und den Sportlehrer Graf in den Gang zurückschob, mehr die Kressnitz, wie mir schien, eine Hand unter ihrer Achsel, worauf sie schon wieder den Kopf etwas schräg legte, als sei dort noch immer sein Arm, während Blum weiter Druck machte. Ich unterstützte ihn jetzt nach Kräften, und in gewisser Weise kam auch Unterstützung von dir oder euch, die ihr dort irgendwo im Dunkeln gelegen habt, ohne Mucks, womöglich noch verbunden in der Umarmung – das klären wir später. Blum hatte euch, wie gesagt, abgeschirmt, bis auf die Beine, und auch Graf und unsere gute Kristine, ich meine, die Kressnitz, dürften wenig gesehen haben in der Sekunde, als das...


Bodo Kirchhoff lebt heute in Frankfurt am Main und am Gardasee. Von ihm erschienen sind u.a. "Parlando" (Roman, 2001) und "Schundroman" (Roman, 2002) in der Frankfurter Verlagsanstalt.



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