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E-Book, Deutsch, 173 Seiten

Kiss Schäbiges Schmuckkästchen

Reisen in den Osten Europas. Bukowina – Czernowitz – Galizien – Gödöll? – Lemberg – Siebenbürgen – Vojvodina
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-944305-98-1
Verlag: Europa Verlage
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Reisen in den Osten Europas. Bukowina – Czernowitz – Galizien – Gödöll? – Lemberg – Siebenbürgen – Vojvodina

E-Book, Deutsch, 173 Seiten

ISBN: 978-3-944305-98-1
Verlag: Europa Verlage
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



»Mit hellwachem Blick reist Noémi Kiss durch Osteuropa, mit feinen Strichen halt sie versehrte Städte, Landschaften und Schicksale fest. Ein Leseabenteuer der besonderen Art, berührend und entdeckungsreich.« Ilma Rakusa, Publizistin
»Eine wagemutige Schriftstellerin« NZZ
Seit zehn Jahren sind sie stete Reiseziele von Noemi Kiss: Galizien und die Bukowina, die ehemaligen Ränder des Habsburger Reiches, aber auch Siebenbürgen in Rumänien und die Vojvodina in Serbien, ehemalige ungarische Gebiete. Meist mit dem Bus über Land und immer mit im Gepäck: der alte Baedeker, die Gedichte Paul Celans und weitere prosaische Begleiter.
Ihre Schilderungen vergewissern uns: Es gibt kein Reisen ohne Erinnerung. Passagen in den Osten bedeuten ein Herantasten an Landschaften, Architektur und Menschen, die einen Ort prägen. So findet Noémi Kiss die osteuropäische Weite in den Gesichtern, in den Abgründen und Stimmungen derer, die ihr begegnen, sensibel und atmosphärisch zugleich, in ihrer Widersprüchlichkeit aufregend.
Noémi Kiss' Aufmerksamkeit holt den geschichtlichen Glanz hinter der abgenutzten Kulisse hervor und schafft in der gegenwärtigen Unordnung Perspektiven. Ihre Offenheit macht dieses Osteuropaauthentisch und deshalb glauben wir ihr.

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VOLKSRENOVIERUNG
Das Land der Sachsen
»Von den armen Ungarn, von den armen Szeklern lebte das Heer überall in Saus und Braus; zu unsrem freudigen Wohlbefinden suchten wir die Herren und die Städte auf, überall beschenkte man die armen Recken reich: nur das eine Hermannstadt murrt und knurrt, nichts von ihren Gütern trugen sie auf, alle wurden sie versteckt in einem geheimen Haus …«
ZSIGMOND MÓRICZ, Siebenbürgen Mit meinen Reisebegleitern fuhren wir an einen Ort, der angeblich beseelt ist. Die Rumänen sind, so heißt es, ungezähmt, unbändig, ein wenig rau, doch große Träumer. Ihr Nervenkostüm ist kosmisch, sie tragen das ganze offene Universum in sich. Allerdings wurde meist nur über sie gelacht. Ihr Bild von der Vergangenheit war einfach nur zu belächeln, die Geschichte ein abgerundeter Mythos auf ihrem Schreibtisch. Vor zweihundert Jahren bezeichneten die Reisenden aus dem Westen die Walachen noch abschätzig als Bauern, und diese hatten nichts, mit dem sie sich hätten wehren können, winkten nur mit Hacke und Mistgabel zurück. Sie waren tatsächlich Bauern. Dann kam die Zeit der Worte, die Romantik, und die Rumänen schrieben lauter schöne und erbauliche Sachen über ihre eigene Seele, so wie die Gelehrten und Dichter andernorts, hier bei uns, in Mitteleuropa. Es handelte sich dabei keineswegs um einen billigen oder geistlosen Eifer. Sie waren unschuldig, wollten die Fremden nur von ihrer Daseinsberechtigung überzeugen. Aber das konnten sie nicht. Oder doch? Im zwanzigsten Jahrhundert wurden sie bereits regelrecht ausgelacht, während man ihre Diktatur überaus fürchtete. Die Rumänen bestimmten die Anordnung der Region in diesem Jahrhundert schon maßgebend, sie drängten nach vorn, so gut sie konnten. Ihre Existenz war ärgerlich und herzergreifend zugleich. Die Mehrzahl der Reisenden wusste kaum etwas mit ihnen anzufangen, lieber wählte man den einfacheren Weg, man sah auf diese Aufgeschlossenheit und Arglosigkeit, auf diese Desorganisation und Direktheit herab, mit der die Fremden hier empfangen wurden. Selbstverständlich bedachte man sie mit sehr viel hässlicheren Worten. Schade. Oder auch nicht. Es ist viel interessanter, sich mit einem falschen Bild auf die Reise zu machen als mit einem wahren. Die Wahrheit ist langweilig und abgegriffen, und wenn dies zutrifft, dann ist auch die Reise nur eine reine Wiederholung wohlbekannter Phrasen, die der Seele eines Volkes angehängt worden sind. Macht man sich aber mit einem vorab falschen Bild auf den Weg, so werden einem keineswegs sanft einlullende Worte zuteil. Statt dieser Worte sorgte der Ausflug nämlich für lauter Überraschungen. Ein Fenster in die Zukunft
Wir machen uns mit demselben österreichischen Alpenbus auf die Reise wie in die Ukraine. Einige Plätze sind leer, viele haben ihre Buchung abgesagt, da sie mit nichts besonders Sehenswertem rechnen. In Siebenbürgen waren sie schon, dieser uralte Zwist kann ihnen wirklich keine Überraschung mehr bieten; die wildromantischen Schluchten und Almen sind alte Bekannte: langweilige Kontrastpunkte zur riesigen ungarischen Tiefebene. Beim Anblick der leeren Plätze lässt unsere Begeisterung etwas nach. Dann machen wir uns breit. Unsicher überqueren wir die Grenze bei Biharkeresztes: Gibt es das wohl, wegen dessen wir uns auf den Weg gemacht haben? Gibt es das noch, nach dem wir suchen? Die Festungen der Vorurteile sind stark. Wir blättern in den neuen Bänden des Verlags Cartographia, Berge und Gewässer in Großungarn, mit Beilage, das klogrüne Gebiet ist »derzeit unter walachischer Besatzung«. Dann verwerfen wir schnell die Politik. Doch ist es, als würde sie uns im Partium stets entgegenkommen, hier ist es schwer, den Konflikten aus dem Weg zu gehen. Am Straßenrand, in den Toiletten, beim Geldwechsel oder beim Einkauf taucht das eine oder andere erinnernde Zeichen auf. Tatsächlich auf recht selbstverständliche Art und Weise, neben dem Reichtum Trümmer, unter dem Fortschritt breitet sich barfüßiges Elend aus. Verlassene Fabrikgelände am Straßenrand, gleich hinter der Grenze. Ungekämmte, zerzauste Überreste der Diktatur. Dann lauter Überraschungen, die Straßen sind gut, und man kann alles bekommen, den neuesten Traktor und chinesische strassbesetzte Kulturbeutel, in jedem Dorf durchsichtige Gummistiefel und Schweizer Taschenmesser. Oradea ist mal wunderschön, mal abstoßend altmodisch. Die Jugendstilfassaden fallen aus dem Himmel beinahe auf uns herab, wenn wir zu ihnen hochblicken. Hinter dem Glasportal isst eine Fußballmannschaft im Mensageruch zu Mittag, Buchstabennudeln schwimmen in der Tomatensuppe. Die Vergangenheit besteht aus lauter Splittern, eingeschlagene Fensterscheiben, sozialistisch; die Zukunft: betoniert, gekachelt, italienisch, deutsch, spanisch. Die Stadt ist ein Gemisch von Asche und Staub, Glitzer, Rauch und Smog. Angeblich wandern die jungen Leute neuerdings auch von hier eher in den Süden aus, gerne und schnell durchqueren sie die Stadtmauer nach Cluj-Napoca und Bukarest, tanzend verlassen sie die Stadt, am Abend davor feiern sie noch unter den Palmen des Tarzan Casinos. Überall wird gebaut. Dieses Land ist das Land glücklicher Erwartung, wir hatten ein bisschen mit etwas anderem gerechnet. Mit Zerstörung, Zerfall, langsamem Erwachen, langen Mittagessen und angenehm bedrückender, untätiger Siesta. Stattdessen setzen sich die Menschen in Bewegung, wenn sie uns erblicken. Sofort heben sie die Arme in die Höhe, die Bevölkerung lacht und winkt, das unrasierte und zerknitterte Gesicht verdeckt die offene und unverhohlene Freude; sie schneiden eine freudige und hoffnungsvolle Miene. Und Sie, worauf hoffen Sie? Auf alles. Im wahrsten Sinne des Wortes, hier glaubt man den Worten. Die EU ist eine Wunderwaffe. Ein Wortgewehr. Nichts Falsches ist an ihr, die Bewohner der Dörfer und Städte tauschen, ohne zu fragen, ihre Fahnen aus und hängen an die Stelle der rumänischen Trikolore die auf blauem Hintergrund aufgereihten, vereinten Sterne hinaus. Sie glauben daran, dass einer davon Rumänien ist. In Oradea sehen wir mehrere Mädchen, die ein EU-T-Shirt tragen, das die Wölbungen ihrer kleinen trichterförmigen Brüste betont, sie rauchen und dabei tragen sie die Sterne stolz wie ein Markenzeichen, das erste angenehme Kleidungsstück auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Am liebsten würden sie auch zu Sportveranstaltungen und zur Arbeit darin gehen, wenn es möglich wäre, würden sie in diesem T-Shirt ans Schwarze Meer fahren, den Türken stolz erzählen, schaut her, wir sind drin. Durch Rumänien zu reisen hat Konjunktur. Wir haben ein volles Programm, denn die Entwicklung, die zu beobachten ist, scheint rasant. Für uns ähnelt das Ganze einem Spießrutenlauf, wir stehen nur und schauen, leiden unter der Last unserer eigenen Seele, können uns nicht wirklich gehen lassen, denn ständig meinen wir, eine Lüge zu erahnen. Mehrere Hundert Jahre in zehn Jahren nachzuholen ist wie ein Kurzstreckenlauf. In den Einkaufszentren bekommen wir Plastiktüten, auf denen die Aufschrift I love Europe zu lesen ist. Wir sind sehr viel melancholischer als die Einheimischen, mit einem bitteren Geschmack im Mund überqueren wir die Grenze von einem Land zum anderen, um einzukaufen, und sind betrübt, wenn wir auf dem Parkplatz einer Mall eintreffen und uns fröhliche Farben umgeben. Wir stehen nur wie angewurzelt da, wie kann denen das gefallen? Wir schleppen uns geradezu aus dem ungarischen Pessimismus und der Lustlosigkeit in das lächelnde, rumänische Europa. Dann wird die Stimmung beim Anblick der fröhlichen Umgebung und der sonnenbeschienenen Natur auch im Bus immer ausgelassener, sie kommt zum Höhepunkt: Hinten wird gesungen, in der Mitte fließen Wodka und Tuica, die Mititei mit Brötchen schmecken salzig und süß zugleich, vorne sind statt der Landkarte bereits die nach Gras schmeckenden künstlichen Weingummis der Hit. Doch kaum vergehen ein paar Stunden, ziehen wieder dunkle Wolken auf. Von einem Augenblick auf den anderen treten wir ein Jahrhundert zurück. Zwischen dem Anfang und dem Ende derselben Dorfstraße liegen mehrere Jahrzehnte, das erste Haus ist hypermodern, die Garage bis zum Dach gekachelt, dann ein Lehmhaus und am Dorfrand eine Hütte aus morschem Tannenholz. Im Schlammmeer rauchende Menschenköpfe. Weiße Rohrgestelle, rostige Rohrgestelle. Häuser in Schlüpferrosa. Abriss. Aufbau. Die Peripherie der Städte ist dieselbe, sie ist der Raum der Einkaufszentren: Metro, Cora, Obi, Praktiker. Auf dem Rückweg kehren wir ein, kaufen Oliven und Fischkonserven, denn die schmecken bei uns zu Hause doch nicht genauso. Wir verlassen Oradea, Badeorte tauchen auf, himmelblaue Hotels mit weißen Marmormauern und riesige Werbeplakate für zu vermietende Zimmer, reicher balkanischer Neobarock. Attraktive Kitschdörfer. Hier und da erklingen spöttische Lachsalven aus den Fenstern unseres Busses, doch wir bekommen sie zurück, sie fallen uns geradewegs in den Mund. Ein Kaugummi, der kleben bleibt. Wir haben es verdient: Unser Zynismus ist in dieser Situation erbärmlich. Auch wir sind nicht anders als diese verputzten, klapprigen Gebäude, haben innen unsere Risse. Den neuen rumänischen Geschmack sollte man überaus ernst nehmen. Die Mehrzahl der Paläste wurde von Eigentümern gebaut, die im Ausland arbeiten, sich noch dazu ziemlich ernsthaft in den italienischen und spanischen Geschmack hineinarbeiten. Es sind die Häuser von Zimmerleuten und Maurern, die derzeit Westeuropa bauen. Gleich bei zwei Häusern werden die Dächer ausgetauscht. In diesem kleinen Dorf des Komitats Bihor ist die Ziegelmauer nur ein Scheinhaus. Die sie gebaut haben, kommen nicht zurück, die meisten Häuser sind halb fertig und gähnen vor Leere, der Palast ist das Symbol...


Noémi Kiss, 1974 in Gödöllo in der Nähe von Budapest geboren, ist Autorin, Kritikerin und Essayistin. Sie studierte Hungarologie, Komparatistik und Soziologie, unter anderem in Konstanz. Sie lebt in Budapest und ist Mutter von Zwillingen. Zuletzt von ihr auf Ungarisch erschienen: Ikeranya (Mutterbuch), Magveto Verlag, Budapest (2014). Über ihren Roman Was geschah, während wir schliefen (2009) schrieb die Süddeutsche Zeitung: 'Geschickt arbeitet Kiss mit erzählerischen Sprüngen in Zeit und Raum. Wenn Noémi Kiss in diese Richtung weitergeht, kann man auf sie sehr gespannt sein.'



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