Klatetzki | Die überforderte Organisation | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 190 Seiten

Klatetzki Die überforderte Organisation

Die Institutionalisierung des Irrtums im Kinderschutz
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7799-9117-5
Verlag: Julius Beltz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Die Institutionalisierung des Irrtums im Kinderschutz

E-Book, Deutsch, 190 Seiten

ISBN: 978-3-7799-9117-5
Verlag: Julius Beltz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Damit eine Organisation erfolgreich operieren kann, muss eine Passung zwischen der Beschaffenheit des zu bearbeitenden Problems und der Form und Ausstattung der Organisation vorhanden sein. Diese Passung ist im Kinderschutz nicht gegeben, denn den Jugendämtern fehlt in ihrem Handlungsrepertoire die notwendige Vielfalt, um mit dem vertrackten Problem der Kindeswohlgefährdung umgehen zu können. Fehler des Personals sind daher organisationsstrukturell vorprogrammiert. Wie das in der Praxis aussieht, wird in dem Buch anhand des Versagens von drei Kinderschutzorganisationen im Missbrauchskomplex von Lügde beschrieben und theoretisch erklärt. Und es wird aufgezeigt, mit welchem organisatorischen Handlungsrepertoire sich die Lage verbessern ließe.

Thomas Klatetzki, Prof. Dr., hat Psychologie und Soziologie studiert und ist seit 2000 Professor für Organisationssoziologie an der Universität Siegen.
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1.Eine Skizze des organisationstheoretischen Rahmens


Der in diesem Buch vertretene organisationstheoretische Ansatz für das Verständnis von Fehleinschätzungen im Kinderschutz wird hier eingangs verkürzt und skizzenartig dargestellt, um die in der nachfolgenden Analyse des Falls Ramona Böker angeführten einzelnen Erklärungen besser verorten zu können. Um zu unterstreichen, dass diese Skizze lediglich einen ersten Eindruck des Ansatzes vermittelt und nicht alle Annahmen und Aussagen expliziert, finden sich in diesem Abschnitt auch keine Literaturangaben. Die Skizze ersetzt nicht die ausführlichen Darstellungen der Theorie in den Kapiteln II und III.

Die theoretische Basis der Analyse des Falls Ramona Böker bildet die Annahme, dass Organisationen die Realitäten erzeugen, mit denen sie sich konfrontiert sehen. Karl Weick beschreibt diesen Vorgang als einen zirkulären Prozess, der sich aus drei Elementen zusammensetzt: dem Enactment, der Selektion und der Retention. Weick geht davon aus, dass stets ein Enactment stattfindet, dass Personen sich immer schon in einem Handlungsstrom befinden und situativ Ereignisse erzeugen, die dann von ihnen mittels der Selektion, das heißt im Rahmen des für die Organisation geltenden Sinnsystems, verstanden werden. Sowohl das Enactment als auch die Selektion werden möglich gemacht durch die Retention. Damit sind das strukturelle Repertoire, die legalen und formalen Regeln, die finanziellen und sachlichen Ressourcen, sowie das Wissen und Können des Personals gemeint. Mit diesem Repertoire werden das Enactment und die Selektion erzeugt. Das strukturelle Repertoire selbst wird wiederum durch die sinnstiftenden Selektionen beeinflusst, sodass ein Kreislauf entsteht. Das Handeln von Organisationen lässt sich als Verknüpfung einer Vielzahl von solchen zirkulären Prozessen verstehen.

Gemäß der hier vertretenen Erklärung von Fehlern im Kinderschutz ist nun das strukturelle Organisationsrepertoire ursächlich. Dieses Repertoire beruht auf einem sozialpolitischen Problemsetzungsprozess, der Kindeswohlgefährdungen als familiäre Erziehungs- und Sozialisationsprobleme auffasst, die durch sozialpädagogische Hilfen behoben werden können. Dieser Problemsetzungsprozess findet seinen rechtlichen Niederschlag in den Normen des SGB VIII, besonders im §?8a, und deren Übersetzungen in formale Organisationsregeln (Dienstanweisungen, Formulare, Pläne etc.), den finanziellen Ressourcen der Ämter und dem Wissen und Können des Personals in Form des sozialpädagogischen Habitus, das heißt deren im Zuge von tertiären Sozialisationsprozessen erworbenen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsdispositionen. Dieses strukturelle Repertoire gibt die Regeln für die Formen der organisatorischen Enactments vor und liefert die kognitiven Kategorien für die selektiven Sinnstiftungen.

Die Institutionalisierung von Fehlern im Kinderschutz durch das Personal beruht auf zwei miteinander verknüpften, aufeinander folgenden zirkulären Prozessen:

1.auf der Interaktion des Personals mit den Personensorgeberechtigen an der „front-line“ der Organisation, dem Gespräch beim Hausbesuch anlässlich einer Meldung über eine mögliche Kindeswohlgefährdung;

2.auf die anschließende Verarbeitung der dort gewonnenen Informationen in den kollegialen Interaktionen, vor allem der kollegialen Beratung im Team, im Inneren der Organisation.

Ad 1) Die Institutionalisierung des Irrtums an der front-line der Organisation


Die in der organisatorischen Retention verfügbaren Regelungen des SGB VIII konstituieren, in Allianz mit dem Wissen und Können des sozialpädagogischen Habitus, eine Variante des Kinderschutzes, die als familienorientiert bezeichnet wird und die Kindeswohlgefährdungen als Erziehungs- und Sozialisationsproblem versteht. Die für die Kinder und Jugendlichen sorgeberechtigten Personen gelten dabei als durch gesellschaftliche Verhältnisse überforderte Klienten, denen mittels sozialpädagogischer Maßnahmen geholfen werden muss. Diese Handlungsprämissen des strukturellen Repertoires führen an der Organisationsgrenze, der front-line der Ämter, zu einem interaktiven Enactment durch das sozialpädagogische Personal, in dem angesichts einer (möglichen) Kindeswohlgefährdung in Form einer partnerschaftlichen Aushandlung versucht wird, ein gemeinsames Problemverständnis mit den sorgeberechtigten Personen zu etablieren. Die Etablierung einer solchen gemeinsamen Realitätsdefinition über die Kindeswohlproblematik ist im familienorientierten Kinderschutz unabdingbar, weil sozialpädagogische Hilfsmaßnahmen zur Abwendung von Kindeswohlgefährdungen auf die Mitarbeit („Ko-Produktion“) der Klienten angewiesen sind – denn ohne Akzeptanz der Hilfen können diese, auch rechtlich, nicht implementiert werden.

Zeigen sich die Personensorgeberechtigten in diesem Aushandlungsprozess nun als kooperativ, so werden sie im Zuge des Selektionsprozesses als veränderungsbereite Klienten kategorisiert, denen Kinder oder Jugendliche (weiter) anvertraut werden können. Andreas V. macht sich im Fall Ramona Böker das partnerschaftliche Enactment zu Nutze, indem er sich stets als ein glaub- und vertrauenswürdiger Klient darstellt, und er dadurch als guter Pflegevater wahrgenommen wird. Ihm gelingt es auf diese Weise, die sexuelle Versklavung von Ramona geheim zu halten, und das Personal fortwährend zu täuschen. Dass Andreas V. mit seinen Täuschungen erfolgreich ist, und Ramonas sexuelle Versklavung über Jahre unentdeckt bleibt, hat zwei Ursachen:

  • Zum einen verfügen Jugendämter in ihrer Retention, ihrem strukturellen Repertoire, nicht über ein Personal, das über das psychologische und psychiatrische Wissen und Können verfügt, um die Selbstdarstellung der Klienten im Aushandlungsprozess nicht umstandslos als wahrhaftig und echt hinzunehmen. Um eine nicht direkt zugängliche Realitätsebene, auf der psychische Probleme, sexuelle Neigungen und/oder Persönlichkeitsstörungen von Klienten wahrnehmbar sind, zu erfassen, fehlt dem sozialpädagogischen Habitus das Wissen und Können – und auch der moralische Wille, denn eine solche „Ermittlungsarbeit“ wird als paternalistische Kontrolle abgelehnt. Andreas V.s pädophile Begierden und seine narzisstische, manipulative Persönlichkeitsstruktur bleiben daher während der ganzen Fallbearbeitung unerkannt und werden erst nachträglich im Rahmen des Gerichtsverfahrens durch ein Gutachten festgestellt.

  • Zum anderen verfügen die Jugendämter auch nicht über ein Personal mit entwicklungspsychologischem Wissen und Können, um mit Kindern und Jugendlichen altersangemessen kommunizieren zu können und um deren Erfahrungen und Probleme in den Beziehungen zu den Personensorgeberechtigen erfassen und verstehen zu können. Im Fall Lügde führt das dazu, dass vom sozialpädagogischen Personal mit Ramona kaum, und schon gar nicht ohne Anwesenheit von Andreas V., gesprochen wird. Zudem werden Äußerungen von Ramona, die auf sexuellen Missbrauch hinweisen, von den Mitarbeiterinnen als zusammenhangslos und unverständlich, mithin als irrelevant abgetan.

Dass die Jugendämter nicht über ein derart qualifiziertes Personal verfügen, ist kein Zufall, sondern sozial- und professionspolitisch gewollt. Der Kinderschutz in Deutschland versteht sich als familien- und dienstleistungsorientiert und ist die Domäne der sozialpädagogischen Berufsgruppe. Der Einsatz des psychologischen und psychiatrischen Wissens und Könnens im Kinderschutz wird als ein gefährdungs- und/oder kindorientiertes Vorgehen angesehen, das als „de-familiarisierend“ gilt und daher politisch abgelehnt wird. Die Folge der sozialpolitischen und professionellen Fixierung auf das sozialpädagogische Wissen und Können ist die...



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