Kleßmann | September-Haus | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Kleßmann September-Haus


1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7693-6624-2
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-7693-6624-2
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Dieser Roman erzählt die Geschichte eines um 1900 lebenden fiktiven Malers und Bildhauers, der wie so viele seiner Zeitgenossen fasziniert war von der Vorstellung eines Gesamtkunstwerks. Es ist das Leben eines Menschen, der sein vereinsamtes Dasein einer Idee widmet, die er schließlich mit dem Leben bezahlt.

Eckart Kleßmann wurde am 17. März 1933 im lippischen Lemgo geboren. Nach dem Abitur machte er eine Ausbildung zum Sortiments- und Verlagsbuchhändler in Stuttgart, war Verlagslektor und Redakteur in Hamburg (u.a. bei der "Welt" und der "Zeit") und ist seit 1977 selbständiger Schriftsteller. Er veröffentlichte u.a. sechs Gedichtbände, zwei Darstellungen der deutschen Romantik, sechs Bücher über das Zeitalter Napoleons, eine Geschichte Hamburgs und mehrere Biographien, darunter "E.T.A. Hoffmann oder Die Tiefe zwischen Stern und Erde" (1988), "Die Mendelssohns. Bilder aus einer deutschen Familie" (1990), "Christiane. Goethes Geliebte und Gefährtin" (1992), sowie die Lebensbilder von "Barthold Hinrich Brockes" (2003) und »Georg Philipp Telemann" (2004), Erzählungen und Essays. Für den Komponisten Dieter Einfeldt schrieb er den Text des Oratoriums "Gomorrha" (Uraufführung am 12. November 1987 in Hamburg). Eckart Kleßmann erhielt 1989 den Hamburger Literaturpreis der Irmgard-Heilmann-Stiftung, war 1992 Ehrengast der Villa Massimo in Rom, bekam 1995 die Ehrengabe der Deutschen Schiller-Stiftung in Weimar und 1998 den Lion-Feuchtwanger-Preis.
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1


Es war eine Eigentümlichkeit Georg Ottmars, während des nächtlichen Schlafs zu träumen, daß er träume. In dieser Nacht, gegen Morgen, träumte er, neben ihm, an seine Seite geschmiegt, liege eine junge Frau, nackt und mit hüftlangem goldblondem Haar, den Rücken an seinen Bauch gedrückt, die Beine leicht angezogen.

Er empfand das als ein Stück atemlosen Glücks, er wagte sich nicht zu rühren, obwohl er sich gern auf die andere Seite gedreht hätte, aber er fürchtete, die Unbekannte könnte dann erwachen und sich als ein Traum aus seinem Traum verflüchtigen. Ja, der Gedanke daran macht ihm geradezu Angst, hatte er doch seit fast dreißig Jahren nicht mehr neben einer Frau geschlafen, und dieses Geschenk war ein gänzlich unverhofftes Glück. Natürlich würde irgendwann der Moment des unwiderruflichen Erwachens kommen, und dann mußte etwas geschehen, wenn er sie halten wollte, geradezu retten aus der Unbestimmtheit des Traums in seine Wirklichkeit, von der er allerdings mutmaßen konnte, daß sie diese ein wenig ungehörige Gabe des Traums nicht akzeptieren würde.

Aber dann träumte er weiter, daß er aus diesem Traum erwachte und seine Gefährtin stumm und kalt sei wie ein großer Stein. Und als er sie näher betrachtete, erschien sie ihm wie einer jener Leichengipse, die er in Pompeji gesehen hatte, die Gipsabgüsse der in der Asche Erstickten, auch sie mit zuweilen angewinkelten Beinen. Das lange goldene Haar überzog als eine blonde Glasur die erstarrte Masse, die mit einem Knacken zerprang, als er sie vorsichtig berührte.

Er fuhr im Bett auf, nun wirklich wachgeworden, sein Herz schien zu flattern, und er schnappte nach Luft.

Mühsam gewöhnte er sich an das milchige Frühlicht. Vor dem Fenster seines Schlafzimmers lag Nebel, der Wecker zeigte wenige Minuten vor sechs Uhr. Obwohl er gewohnt war, erst um acht Uhr aufzustehen – übrigens aus Disziplin, nicht aus Pflicht oder gar Neigung – konnte er sich nicht wieder in den Schlaf finden. Er schloß die Augen, wälzte sich erst auf die rechte, dann auf die linke Seite, legte sich auf den Bauch, wobei ihn die morgendliche Erektion quälte, und versuchte den Traum genau in seinem Ablauf zu rekonstruieren.

Wie war die nackte Blonde in sein Bett gekommen? Aber an eine Handlung konnte er sich nicht erinnern oder an einen einigermaßen logischen Vorgang (aber wann hätte es den im Traum je gegeben?); es tauchten nur Bilderfetzen auf, die sich rasch aus seinem Hirn verflüchtigten. Als sicher galt ihm nur die Erinnerung an das Lächeln ihres kindlichen Gesichts (das schon einmal gesehen zu haben ihm nicht bewußt war) und die Blondheit eines sehr weißen Leibes, das Blond des hüftlangen Haars, das Blond unter den Achseln und das Blond ihres sehr feinen, kaum schattenden Venushaars, das die rosigen Lippen darunter nicht verbarg. Gerade dieses Bild erregte ihn jetzt stark.

Er warf die Bettdecke zurück und stand auf. Der Nebel vorm Fenster löste sich allmählich auf, es wehte würzig von draußen herein, die Luft eines Sommertages, genauer: des 30. August 1900.

An diesem Tag wurde Georg Ottmar fünfzig Jahre alt, und es galt, diesen Tag mit Anstand zu bestehen. Fünfzig Jahre, ein halbes Jahrhundert. Wäre er wer in den Augen seiner Mitbürger,dann würdeheute jemandim Lokalanzeiger gebührend darauf aufmerksam machen, daß der Maler und Bildhauer Georg Ottmar, ein Sohn unserer Stadt und allseits geschätzter Mitbürger, heute fünfzig Jahre alt geworden sei. Sein bedeutendes Schaffen undsoweiterundsofort.

Ein Sohn unserer Stadt, sagte er, ein geschätzter Mitbürger, alles nur Phrasen. Tatsächlich bin ich ihnen nur eine einzige Peinlichkeit. Maler und Bildhauer, diese Trottel! Aber was begriffen die schon von einem Künstler, der vor zwanzig Jahren – vor zwanzig Jahren, meine Damen und Herren! – das Wagnis unternommen hatte, die Künste zu verschmelzen in einem einzigen Ausdruckswillen: Architektur, Skulptur und Malerei, das war der Anfang, den er noch immer nicht ganz hinter sich gelassen hatte, aber einzubringen waren ja noch Dichtung, Musik und Tanz; und am Ende galt es ein Kommunikationssystem zu entwickeln, das die Verständigung und die Umsetzung aller Werte in eine einzige Form, einen Verwandlungsprozeß durch alle Gestaltungen hindurch, erlaubte.

Was wußten davon die Pfahlbürger in Lehnstätt?

Nichts.

Na also.

Und da erwartest du ernstlich eine Würdigung zum Fünfzigsten im Lokalblättchen?

Ich erwarte gar nichts.

Natürlich erwartest du das insgeheim, aber sie tun dir nicht den Gefallen, Ottmar, sie tun es nicht ums Verrecken und werden es nicht tun.

Sie werden es nicht?

Mein Lieber, sie werden dein Genie schon immer begriffen haben, wenn es ihnen einer nach hundert Jahren sagt, möglichst ein Professor. Aber bist du sicher, daß es dein Werk überhaupt noch geben wird in hundert Jahren? Du mußt den entscheidenden Sprung schaffen, noch bei Lebzeiten, den großen Durchbruch. Schaffst du ihn nicht, was wird dann sein? Du hast weder Frau noch Kinder, deine Erben sind Vettern zweiten Grades, stumpfsinnige Kleinhöker. Hast du es nicht geschafft, deine Zeitgenossen zu Lebzeiten zu überzeugen, so verfällt deine Hinterlassenschaft der Verwandtentrivialität, und die wird alles verschleudern oder verderben lassen.

Aber ich könnte meinen Nachlaß doch einem Museum vermachen? Ein Geschenk von großer Kostbarkeit .

Georg, du fünfzigjähriger Knabe, wach auf! Vor dem Spiegel sind wir unter uns: Was du geschaffen hast, akzeptieren die Museen nicht, jedenfalls heute noch nicht. Wann hätte sich je ein Museumsdirektor für deine Werke interessiert? Und dann die Galeristen: Hast du die billigen Bemerkungen von Henke schon vergessen?

Sprich nicht davon.

Nein, ich will dich heute an deinem Ehrentag nicht daran erinnern. Aber wir kommen darauf zurück, Alter, du hast es immer noch nicht verdaut, und deswegen müssen wir es eines Tages doch noch gründlich durcharbeiten, das Problem Henke. Bedenke: Du hast keinen Bundesgenossen; keine Gruppe, keine Sezession stützt dich, du stehst für dich allein, und ich erinnere dich: Du hast es nie anders gewollt. Du hast doch gewußt, daß du nirgendwo dazu gehörst und daß dich niemand haben will, nicht den Künstler Ottmar, nicht den Menschen Ottmar, und wenn du an dein Verhältnis zu den Frauen denkst, so war der Mann Georg Ottmar am wenigsten gefragt.

Willst du mir jetzt lauter Zweifel einjagen?

Nein, das will ich nicht, Spiegelbruder, aber begreif: Dein Genie, von dem wir doch beide überzeugt sind, ich und du, ist noch ein gutgehütetes Geheimnis. Schrei nicht gleich los! Wir beide kennen es, und vielleicht ahnt es ein wenig unser gemeinsamer Freund Johannes Kuhlmann, den du hoffentlich zu heute Abend eingeladen hast.

Keine Sorge, Johannes kommt in jedem Fall, der braucht keine Einladung. Schließlich war er seit je mein getreuer Johannes. Aber du weißt, Spiegelherz, wer ich bin: Zweifel sind nicht erlaubt. Zweifel wären tödlich.

Gewiß, das können sie werden .

Aber es gibt keine Zweifel. Es gibt nur den infamen Stumpfsinn, genannt Lehnstätt. Ich habe diese Stadt längst überwunden, seit wann schaffe ich für Lehnstätt? Seit wann wäre es mir wichtig, was diese Pfahlbürger von mir denken?

Gewiß schaffst du nicht für Lehnstätt, aber du lebst hier, wer kennt dich denn überhaupt außerhalb dieses Nestes? Wer bitte? Wo sind denn die großen Journale, die über dich schreiben? Wo bleiben sie?

Was interessiert mich das Außerhalb? Hier lebe ich, hier schaffe ich, hier habe ich mir ein Haus gebaut, hier hunderte von Bildern und Skulpturen vollendet, ich, der Schöpfer des modernen Gesamtkunstwerkes.

Ist ja richtig, aber wer kennt dich in Berlin, in München, in Wien, in Paris, in London?

Ach was, ich bin nun Fünfzig – eigentlich fange ich überhaupt jetzt erst richtig an. Eine Kugel müßte ich mir in den Kopf jagen, wäre ich nicht das Genie der Zukunft und wüßte ich´s nicht. Wozu dieses Leben aus Entbehrungen und Verzichten, wüchse nicht aus diesem Boden das große kommende Werk. Ich kenne doch meine Aufgabe, ich weiß sie zu meistern. Denk doch an Richard Wagner, wie lang er gebraucht hat. Denk an Stendhal: Der schrieb überhaupt erst für den Leser der Zukunft. For the happy few. Was scherten den die Zeitgenossen.Welcher Zeitgenosse hat denn wirklich Stendhal begriffen? Nur Geduld! Hier vollzieht sich ein großes Werk in der Stille und steht eines Tages da vor den Menschen – und sie haben es nicht gewußt, nicht erkannt, nicht begriffen! Aber nie würden sie es begreifen, jedenfalls nicht dieses vermaledeite Gezwerge in der Gnomenburg Lehnstätt, hier am allerwenigsten. Nein, glaube mir, nichts wird umsonst sein von dem, was ich geschaffen habe und erst recht das, was ich noch schaffen werde, nichts davon wird verloren sein oder verloren gehen. Und was in Lehnstätt verkannt bleibt, warum sollte das nicht blühen in Berlin, Wien, Paris und London? Haben wir nicht Beispiele aus der Geschichte übergenug? Nein,...



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