E-Book, Deutsch, Band 2108, 200 Seiten
Kleudgen Lovecrafts Schriften des Grauens 08: XULHU und andere Erzählungen kosmischen Grauens
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-95719-428-2
Verlag: Blitz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, Band 2108, 200 Seiten
Reihe: Lovecrafts Schriften des Grauens
ISBN: 978-3-95719-428-2
Verlag: Blitz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ich stieß auf die Weltkarte in einem Reiseführer aus den 1970er-Jahren, und mir war auf Anhieb bewusst, dass sie dort nicht hineingehörte. Vermutlich hätte ich sie nicht weiter beachtet, wäre da nicht diese Notiz am Rand gewesen. Und da, wo die Umrisse des afrikanischen Kontinents zu erkennen waren, stand ein weiteres rätselhaftes Wort: XULHU. Tobias Reckermann, Ian Delacroix, René Feldvoß, Rainer Zuch, Serhiy Krykun und Jörg Kleudgen entführen die Leser dieser Anthologie an verschiedene Orte kosmischen Grauens. Die Printausgabe umfasst 190 Buchseiten.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Xulhu von Tobias Reckermann
... and African outposts report ominous mutterings. HPL The Call of Cthulhu
Tiefe Trommeln, Laute des Urwalds, nahendes Grauen ... Ich habe Momente der Klarheit erlebt. Daran erinnere ich mich, und das ist schlimmer, als sie einfach vergessen zu haben. Denn woran ich mich nicht erinnern kann, ist, welche Erkenntnisse mir in ihnen zuteilwurden. Und so bin ich wissentlich beraubt. Es ist wie mit Träumen, die im Augenblick des Erwachens noch präsent sind und schon mit dem nächsten Gedanken verfliegen. So vergeht jede Offenbarung höheren Seins, und was bleibt, ist ein Gefühl der Sehnsucht. Mit diesen Momenten vergeht alles, was ich im Leben erstrebe, denn so viel glaube ich zu wissen, dass ich in ihnen frei bin. Frei, und doch kann ich nicht einmal sagen, wovon. Nun will ich versuchen, mich mit Methoden des luziden Träumens zu erinnern. Es heißt, man vergisst nicht wirklich. Auch wenn man keinen Zugriff auf sie hat, sind die Erinnerungen doch vorhanden, als Spuren, denen man folgen kann, als ein Muster, das sich nachzeichnen und damit wieder hervorheben lässt, auch wenn sein Abdruck im Gehirn noch so flüchtig gewesen sein mag. Die Offenbarungen, von denen ich spreche, müssen tiefe Spuren hinterlassen haben. Sie wieder hervorzuholen, stelle ich mir wie das bewusste Hinübergleiten in einen Traum vor. Die Techniken zu erlernen, kostet viel Zeit und Disziplin, sie erscheinen mir aber doch sinnvoller als etwa der Gebrauch bewusstseinserweiternder Drogen, der mit der Gefahr einer Psychose einhergeht. Außerdem ist es im Rausch nicht anders, der Zustand lässt sich zwar bewusst herbeiführen, was einem darin aufgeht, entgleitet einem aber doch im Nachhinein. Wieder nüchtern, erscheinen einem diese Erkenntnisse zumeist erschreckend glanzlos und dumm. Worauf ich aus bin, möchte ich als eine Art Hyperbewusstsein beschreiben, dessen leuchtende Spitzen sich nicht in die matten Ebenen eines Alltagsbewusstseins überführen lassen. Dies ist wiederum Träumen ähnlich, denn selten, wenn überhaupt, gelingt es, das Traumerleben im Wachsein lebendig zu halten. Ich achte auf Zeichen. Zuerst die mit der Realität, wie wir sie begreifen, unvereinbare Veränderlichkeit der Dinge. Ein Gegenstand kann im Traum seine Form, seine Eigenschaften, ja, seine Bedeutung verändern und schließlich sogar ein völlig anderer Gegenstand werden. Ebenso kann ein Wesen, beispielsweise ein Mensch, zu einem anderen werden. Wir selbst können von einer Entität in eine andere hinübergleiten, somit unsere Perspektive wechseln und die Ebene unserer Einflussnahme auf den Traum selbst. So sind wir im einen Moment Beobachter, im nächsten Handelnder. Und mit uns verändert sich das Geschehen, die Umgebung, vielleicht auch gänzlich der Zusammenhang dieser Elemente, sodass wir wie von einem Traum in einen nächsten und einen wieder nächsten eintauchen. Sind wir im Traum in der Lage, uns des Träumens bewusst zu werden, so sollten wir – und ich habe mir das zur Angewohnheit gemacht – auch im Wachsein uns des Wachseins vergewissern. Die Festigkeit des Wirklichen, nicht Traumhaften, besitzt in meinen Augen eine Intensität, die ich nur als unerbittlich bezeichnen kann. Diese Härte, der Widerstand gegen alles geistige Wirken, lässt sich nur mittels Sprache überwinden, wenn auch dieses Werkzeug ein höchst unpräzises und zudem das Wahre nur nachahmendes ist. In Form eines Tagebuchs hält man so viel von Träumen fest – und von Momenten der Klarheit auch –, wie man mit Sprache dem Rinnen des Vergessens zu entreißen vermag. Die Methoden luziden Träumens vermögen schließlich, einem zumindest ein Absenken jener Schwelle zu erlauben, die zwischen den so verschiedenen Zuständen des Bewusstseins liegt. Es ist nicht mehr länger der Sturz über eine Klippe hin vom Wachsein zum Traum und umgekehrt. Gleichermaßen sollte mir nach Jahren der Übung endlich ein sanfter Übergang von Momenten der Klarheit hin zum bloßen Wachsein vergönnt sein. Ich habe Momente der Klarheit erlebt und ihre Erinnerung ist als Spur in mein Gedächtnis noch eingegraben. Ich begebe mich jetzt auf eine geistige Reise, in der Hoffnung, solch eine Spur wieder ans Licht zu bringen.
Der Anfang meiner Fährte liegt offen dar: Ich bin zwanzig Jahre jünger, also achtundzwanzig, auf der Suche nach Wissen, nach Erleuchtung, nach Freiheit, und setze den ersten Fuß in ein Land in Zentralafrika. Studiert habe ich Archäologie und Ethnologie mit einer Spezialisierung auf frühe Menschheitsgeschichte und schamanistische Praktiken. Ich trinke Kuri mit Stammesleuten der Gbaya und besuche ein Dorf traditionell lebender M’Baka, vertiefe meine Ubangi-Kenntnisse, bevor ich in den Urwald des Kongo-Beckens aufbreche. Nach der urbanen Bedrängnis der alten Hauptstadt der Ubangi-Schari-Provinz Französisch-Äquatorialafrikas verspreche ich mir, was mein klischeebeladener Verstand mit der Freiheit der Wildnis bezeichnet, und was, wie mir bald aufgeht, ein Trugbild ist. Ich fühle mich alles andere als frei, wo das Grün des Dschungels wie eine Flut auf mich einstürmt, und ich allerorts Augen wähne, die mich aus verborgenen Winkeln beobachten. Wo hinter jedem Baumriesen und in jeden Baumes mächtigen Ästen, dem unendlichen Blattwerk böses Trachten lauernd liegen mag in der Gestalt der Raubtiere, der Insekten, der Giftpflanzen. Vielleicht auch von Menschen – obwohl auch dies wieder Klischees sind, die ich nicht zu überwinden vermag. Ich verfolge auf meiner Reise ein besonderes Ziel. Meine Absicht ist, ein Volk aufzusuchen, das in der Kulturanthropologie als Aneoi oder Muette bekannt ist und dieser Wissenschaft ein scheinbar unlösbares Rätsel aufgibt. Für die Gbaya sind sie Dua, was dem Glauben Ausdruck gibt, diese Menschen seien von einer substanziellen Form böser Hexerei erfüllt, besessen vielleicht oder, da der Begriff auf sie kollektiv wie eine Stammesbezeichnung angewendet wird, sogar selbst eine menschenförmige Verkörperung eben dieser mystischen Substanz, des Dua, das sich ihrer Vorstellung nach bei bösen Menschen und Tieren im Magen finden lässt. Es sind Fälle belegt, in denen Gbaya-Schamanen Bäuche lebendiger Wesen, auch die eigener Stammesmitglieder, aufschneiden, um das Dua hervorzuholen, dem sie die Verantwortung für das schlechte Tun des Betreffenden zuschreiben. Der böse Einfluss kann auf diese Weise gebannt, der Schaden am Körper mittels schamanischer Kräfte geheilt werden. Es sind auch Fälle bekannt, in denen Aneoi im Ritus die Bäuche aufgeschlitzt und deren Innereien danach verbrannt wurden. Seit der Entdeckung des Volksstamms ist die Anzahl der Aneoi geschrumpft, man schätzt sie auf nunmehr wenige Hundert. Ihre Dörfer liegen tief im Urwald verborgen. Sie halten sich von allen anderen Stämmen fern. Wer Forschung an einem Volk mit magischem Weltbild betreibt, muss selbst ein Verständnis für Magie aufbringen. Es bringt uns nicht weiter, wenn wir nur aus der Ferne und durch die Zerrlinse unserer eigenen Logik beobachten. Um zu Erkenntnissen über den Sinn kultureller Praktiken wie denen der schamanischen Riten zu gelangen, müssen wir teilnehmende Beobachter werden, uns also in und mit dem Gegenstand unserer Forschung bewegen. Ich habe es darauf abgesehen, selbst eine Rolle im sozialen Gefüge der Aneoi einzunehmen, und mich darauf intensiv vorbereitet. Jean Mirelle, mein Führer auf dieser Reise, ist Archäologe des Institut d’art et d’archéologie an der Sorbonne. In einem tarnscheckigen Wolf fahren wir über umbra- und ockerfarbene Pisten, über die zuerst der Himmel schwer herabhängt und dann die Blattkronen der Urwaldriesen. Mirelle befindet sich seit drei Jahren in dem Gebiet und berichtet vom Krieg im Kongo, den er unfreiwillig miterlebt hat. Mein Französisch ist nicht sehr gut, aber ich verstehe, dass er nachhaltig davon betroffen ist. Seine Arbeit an Ausgrabungsstätten aus der Eisenzeit hat in den beiden vergangenen Jahren sehr darunter gelitten. Wir überqueren die Grenze rechts des Flusses. Mirelle kennt den wachhabenden Offizier und handelt mit ihm aus, dass uns ein Jeep mit drei Soldaten durch die noch unsichere Grenzregion eskortiert. Afrikas Pol der Unzugänglichkeit befindet sich mehr als tausend Kilometer weit östlich, aber hier umfängt mich das Gefühl, von allem, jedem Ausweg über das Meer, von jeder Zivilisation unendlich entfernt zu sein. Ich beziehe mein Lager mit der Ausrüstung für Monate ohne Versorgung durch die Außenwelt. Nur Mirelle und zwei seiner Kollegen wissen, wo genau ich mich aufhalte, und werden über Funk mit mir Kontakt halten, mich in Abständen von mehreren Wochen besuchen. Allein breche ich zu meiner ersten Begegnung mit den Aneoi auf, fühle mich dabei wie einer der frühen Forscher in diesem Land, Franzosen, die hier im Dschungel den Grundstein für ihre Wissenschaft gelegt haben. Den Urwaldvölkern erschienen sie wie Wesen aus der Geisterwelt. An einem Nachmittag erreiche ich mein Ziel, ein Dorf an der Westflanke eines Berges, und beobachte lange, bis ich ersten Kontakt aufnehme. Was die Aneoi als besonders unter allen Stämmen der Wälder, letztlich unter allen Völkern weltweit, hervorhebt, ist, dass sie keine Sprache benutzen, auch keine Zeichensprache, dass sie, wie alle ungläubige Forschung an ihnen letztlich ergeben hat, untereinander überhaupt keine Form der Kommunikation pflegen. Ihr Sozialgefüge scheint vollkommen ohne eine solche auszukommen, so als folgten sie alle...