E-Book, Deutsch, 276 Seiten
Kluge Aus dem Bauhaus der Natur
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8353-8845-1
Verlag: Wallstein Erfolgstitel - Belletristik und Sachbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Republik der Tiere in uns. Eine Materialsammlung zu Zuständen zwischen Evolution und Moderne
E-Book, Deutsch, 276 Seiten
ISBN: 978-3-8353-8845-1
Verlag: Wallstein Erfolgstitel - Belletristik und Sachbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Alexander Kluge versammelt ein reiches Material an Geschichten, Bildern und Gesprächen mit Wissenschaftlern zum Thema: »Worauf kann ich mich in meinen Gefühlen verlassen?« Seine Antwort: »Auf das, was uns mit den ältesten Zeiten und den Tieren verbindet: dass wir so alt sind wie die Evolution.«
Wir bilden uns ein, als Menschen keine Maschinen und auch keine Tiere zu sein. Doch eigentlich stecken wir bis zum Hals in der Evolution, das heißt im Reich der Tiere, aus dem wir kommen. Wir ragen in die Moderne, ins Reich der Vernunft, nur mit Teilen unserer Eigenschaften hinein. Andere Teile in uns, wie die Verdauung oder die Haut, das Gleichgewicht und der Rhythmus, bleiben autonom, vom Willen nur wenig beeinflussbar. Der Atem etwa ist ein eigensinniges Tier. Er zwingt den Selbstmörder, der sich im Brunnen ertränken will, im letzten Augenblick zum Auftauchen. Die »Republik der Tiere in uns« ist eben klüger als der Kopf.
Der kategorische Imperativ von Immanuel Kant fordert: Handle so, dass dein Handeln Maxime einer allgemeinen Gesetzgebung sein könnte. Theodor W. Adorno hält das für Hochstapelei und entgegnet: »Handle so, dass man von dir sagen kann, du seist ein gutes Tier gewesen.« Und Kluges These lautet: In uns steckt so manches Tierisches! Gleichzeitig reden wir Menschen sehr freimütig über Tiere – doch sollten wir uns stets fragen, was die Tiere über uns erzählen würden, wenn sie es könnten ... Es geht dem Erzähler um »Bodenhaftung für uns Menschen in zerrissener Zeit«.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
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»Vividness« = Lebendigkeit
Abb. 1: Asiatischer Bär mit Kind auf seinem Rücken,
im Hintergrund Lichter aus dem Hafen von Amsterdam Abb. 2: Frühe Menschen auf Höhlenmalerei Was ist »menschlich«?
Wir bilden uns ein, als Menschen keine Maschinen und auch keine Tiere zu sein. Auch keine Pilze und Bazillen. Tatsächlich, glaube ich, sind wir amphibische Lebewesen. Mehr als bis zur Brust stecken wir in der Evolution, das heißt im Reich der Tiere, aus dem wir kommen. Das bedeutet nicht, dass wir einem Wolf oder Schaf ähnlich wären. Die Wurzeln liegen tiefer und weitaus länger zurück. In uns aber verwalten wir Tiere. Der Atem ist zum Beispiel ein eigensinniges Tier. Er zwingt den Selbstmörder, der sich im Brunnen ertränken will, im letzten Augenblick zum Auftauchen. Das behaupte nicht ich, sondern die Physiologen. Der Atem ist klüger als der Kopf. Die Haut, unser flächenmäßig ausgedehntestes Organ, ist ein weiteres Tier. Sigmund Freud behauptet gegenüber Albert Einstein im Jahre 1932, meinem Geburtsjahr, in seinem Aufsatz Warum Krieg?, dass die Moralität keine Hilfe gegen den Dämon Krieg darstellt, wohl aber die Haut, die auf das Elend des Stellungskriegs im Ersten Weltkrieg mit Allergien reagiert, sodass der Soldat keine Uniform mehr auf die Haut stülpen kann. Die Haut ist klüger als der Kopf. Ich könnte diese »Republik der Tiere in uns«, die alle gemeinsam das ausmachen, was wir Mensch nennen, um eine ganze Herde »innerer Tiere« erweitern. Mein Lieblingstier wäre das Ohr. Es ist entstanden aus dem Unterkiefer einer Wüstenschlange. Mit diesem Unterkiefer, an den Wüstenboden gelegt, hört diese Schlange, ob die Beute kommt. Dann wandert in der longue durée der Evolution dieser Knochen einige Millionen Jahre, bis er in uns Menschen, stark verkleinert, im Ohr als Mittelohrknöchelchen angekommen ist. Dort regiert dieses Genie über so Verschiedenes wie die Sprache, die Musik, das Gleichgewicht und die Zwischentöne, mit denen wir im Verhältnis zu anderen Menschen unsere emotionalen Entscheidungen treffen. Wie hochmütig ist es, wenn wir angesichts dieser Tiere sagen: Wir Menschen gehören nicht zum Tierreich. Theodor W. Adorno wendet sich in dieser Sache gegen den kategorischen Imperativ Immanuel Kants: Jeder Mensch solle sich so verhalten, als wäre er ein allgemeiner Gesetzgeber. Dies enthalte eine Überschätzung, ja eine zivilisatorische Hochstapelei. Ich möchte ergänzen: So wie es einem nicht berechtigten Allmachtsgefühl des Menschen entspricht, wenn im Winterzirkus in Paris 1793 Artisten unter der Decke der dortigen Kuppel eines festen Gebäudes an Trapezen so tun, als könnten sie fliegen. In solchen Fällen sansculottischer Übertreibung gilt es, sich an der Bodenhaftung zu orientieren. Dort, wo die Retter, das Zirkuspersonal und die Füße gravitativ schwerer Tiere wie der Elefanten ihre Basis haben. Adornos Metapher vom guten Tier in uns
An prominenter Stelle in seiner Negativen Dialektik schreibt Adorno: Im Einzelnen bleibt an Moralischem nicht mehr übrig als […] so zu leben, dass man glauben darf, ein gutes Tier gewesen zu sein. Der Satz steht am Ende des Kapitels Freiheit. Zur Metakritik der praktischen Vernunft. Er bezieht sich kritisch auf Immanuel Kants Begriffe der Freiheit, des Willens und des »intelligiblen Charakters«, einer von Kant behaupteten Struktur aller Willenskräfte, die in den Menschen die Lust an der Vernunft erzeuge. Wobei Immanuel Kant nicht von Lust oder Motiv spricht – vielmehr geht es um eine Art Grundwasser, das in den Menschen rebellisch und unaufhaltsam dem für das Gemeinwesen verträglichen, somit republikanischen und vernünftigen Zustand entgegenfließt. Die Ableitung dieses intelligiblen Charakters ist bei Kant nicht dargelegt. Es heißt bei ihm: Also werden wir nicht den Grund, woher das moralische Gesetz in sich eine Triebfeder abgebe, sondern was, so fern es eine solche ist, sie im Gemüthe wirkt (besser zu sagen, wirken muss), apriori anzuzeigen haben. (Kritik der praktischen Vernunft, Seite 72) Wir Menschen aber sind mit einem Teil unserer Körper (und vermutlich auch unseres Geistes bzw. besser unserer Geister) immer zugleich in der Evolution verwurzelt. Wir ragen in die organisierte Moderne, ins Reich der Vernunft, in eine allseitige republikanische Verfassung, nur mit Teilen unserer Eigenschaften hinein. Andere Teile in uns, wie die Verdauung, ja der Atem, die Haut oder der Herzschlag, das Gleichgewicht und der Rhythmus, bleiben autonom, vom Willen relativ unabhängig, weder ganz unbewusst noch ganz bewusst. Insofern würden wir einem Lebewesen, das zur Hälfte ein Wassertier wäre und zur anderen Hälfte ein Mensch, oder einem Lebewesen wie dem Kentauren durchaus gleichen. Zwar wäre das eine Metapher. Es wäre aber zugleich eine Realmetapher, so wie es den Tatsachen entspricht, dass wir zwei Hirnhälften besitzen, wesentliche Organe von uns paarweise existieren. Und so bestehen wir auch in den Zeiten unserer Herkunft aus lebendigen Teilen, die eher miteinander koexistieren als wirklich eine Einheit zu bilden. Es gibt in der Kritischen Theorie das Dialektische Bild und es gibt die Dialektik der Identität in uns Menschen. Wir gehören zum Tierreich und wir gehören zum Menschenreich. Das Herz hat einen Verstand. Die menschliche Haut hat eine eigene Intelligenz, sie unterscheidet sich von der Arbeit im Kopf. Auch wenn all dies miteinander verbunden und voneinander abgeleitet ist, lässt es sich unterscheiden. Die Ohren besitzen andere Unterscheidungsvermögen als die Augen. Die Fingerspitzen sind, wenn es um den rechten Sitz einer Schraube geht, dem Denken überlegen. Wenn ich auf dem Fahrrad das Gleichgewicht halte, würde ich, falls ich jetzt die einzelnen Elemente, auf denen dieses Gleichgewicht beruht, reflektiere, stürzen. So ist die Charaktereigenschaft Intelligenz auf verschiedene Zentren in unserem Körper und Geist verteilt. Ein vielstimmiger Chor. Der »bestirnte Himmel über mir« und das »moralische Gesetz in mir« sind, nachdem ein Krieg ausgebrochen ist, allein nicht in der Lage, Gesetzlichkeit und Vernunft wiederherzustellen. Andererseits sind viele Teile unserer Intelligenz und »Eignung zum Gesetzgeber« Derivate einer ursprünglichen Feinstruktur unserer Körper und subjektiven Geister, die aus unserer evolutionären Vorgeschichte stammt. Nach Auffassung von Münchner Astrobiologen geht diese Feinstruktur auf die Anfänge des Kosmos zurück. Wanderung des Unterkiefers einer Vorfahrin unter den Schlangen bis ins Ohr des Menschen
Der Mathematiker und Biologe berichtet: Die Wüstenschlange braucht, um ein Jahr zu überleben, mindestens ein Beutetier. Das muss sie erjagen, auch wenn es nachts daherkommt und sie es nicht sieht. Sie muss es hören. Die Hörgenauigkeit des Unterkiefers gehört zur »Klugheit der Schlangen«. Die Schlange »hört« mit ihrem Unterkiefer. Der liegt fest auf dem Sandboden. Die Trippelschritte des Beutetiers sind nach Rhythmus und Bodenerschütterung deutlich zu verfolgen. Die Schlange lauert. Dieser Hörkiefer unserer Vorfahrin hat sich im Laufe der Evolution enorm verkleinert und ist in das menschliche Ohr gewandert: Er ist zum Gehörknöchelchen geworden. Es befindet sich im Mittelohr und regiert dort jenes Stück der Intelligenz, das über Unterscheidungsvermögen verfügt, über so verschiedene Sensationen wie Sprache, Musik und das Gleichgewicht. Dies ist die Klugheit der Schlangen, von der die Bibel spricht. Der Arzt Chiron, ein Kentaur, lebt mit halbem Leib (und integriert) als Tier. Er ist ein Halbbruder des Zeus, somit ein Unsterblicher. Er ist der beste Arzt der Antike. Außerdem Trainer der Intelligenz von Jason und der Mehrzahl der Helden Homers. Das ist etwas anderes, als bloß Logiker zu sein. Er ist fähig, Bildung zu transferieren und, wie gesagt, Wunden zu heilen. Das ragt aus dem Pferdeleib heraus und wurzelt doch in ihm. Abb. 3: Der Gott Apoll übergibt seinen Sohn Aeskulap
dem Kentauren Chiron zur Ausbildung in der Heilkunst. »Das Lebendige verbirgt sich gern«
Abb. 4 Abb. 5 Sechs Elemente der Vividness
Vividness: Lebendigkeit, Anschaulichkeit, Plastizität, Lebhaftigkeit, Bildhaftigkeit, Leuchtkraft ist eine Ressource wie Klima und Außenwelt. 1. Vividness ist der Sitz der FREIHEIT in uns. Die Lebendigkeit gehört sich selbst und wird ihrer...