E-Book, Deutsch, 324 Seiten
Reihe: narr STUDIENBÜCHER
Koch / Riehl Migrationslinguistik
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-8233-0397-8
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Einführung
E-Book, Deutsch, 324 Seiten
Reihe: narr STUDIENBÜCHER
ISBN: 978-3-8233-0397-8
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zuwanderung ist eines der wichtigsten Themen unserer Zeit und mit ihr wächst auch die Bedeutung der Migrationslinguistik. Sie nimmt als innovatives und interdisziplinäres Forschungsfeld sprachliche Aspekte der Migration in den Blick. Dieser Band bietet eine kompakte Einführung in das Thema. Er beleuchtet verschiedene Formen von Migration (v.a. Arbeits-, Bildungs- und Fluchtmigration) und diskutiert unterschiedliche Spracherwerbsszenarien sowie den Erhalt und Verlust von Mehrsprachigkeit im Migrationskontext. Darüber hinaus thematisiert er den Einfluss von Migration auf Sprachsysteme, indem er erläutert, wie sich Sprachen in multilingualen Gesellschaften oder bei mehrsprachigen Individuen wechselseitig beeinflussen. Weiter behandelt er den Zusammenhang von Sprache und Identität und Fragen zur Bildungsgerechtigkeit im Kontext von Migration. Dabei nimmt er auch die aktuellen Herausforderungen für das deutsche Bildungssystem in den Blick. Die 14 Kapitel schließen jeweils mit Übungen und Aufgaben, deren Lösungen online zur Verfügung stehen.
Dr. Nikolas Koch ist Akademischer Rat a. Z. am Institut für Deutsch als Fremdsprache an der LMU München. Prof. Dr. Claudia Maria Riehl ist Inhaberin des Lehrstuhls für Germanistische Linguistik mit Schwerpunkt Deutsch als Fremdsprache und Leiterin des Instituts für Deutsch als Fremdsprache an der LMU München.
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1 Einleitung
1.1 Bedeutung der Migrationslinguistik in Deutschland
(1) P15: Also ich bin in iran geboren ich werde in/ (.) am fünfzehnten oktober zwölf ich kann/ also ich war mal auch sieben jahre in türkei ich kann: türkisch sprechen (.) ich kann iranisch sprechen ich kann deutsch sprechen (.) und englisch bin ich noch nicht so perfekt aber lern noch in der schule (-) (Holzer demn.) Wie dieses Beispiel eines minderjährigen unbegleiteten Flüchtlings zeigt, kann Migration zu vielfältigen Sprachkontakten führen. Das Mädchen, das zum Zeitpunkt des Interviews seit drei Jahren in Deutschland lebte, stammt ursprünglich aus dem Iran und ist in der Nähe von Teheran geboren. Ihre Eltern gehören der Minderheit der Hazaragi an und sind deshalb aufgrund von Diskriminierung und Verfolgung aus Afghanistan in den Iran geflohen. Als das Mädchen drei Jahre alt war, migrierte die Familie weiter aus dem Iran in die Türkei. Dort ist das Mädchen mit den Sprachen Farsi, das ihre Eltern seit der Geburt mit ihr gesprochen haben, sowie Türkisch, der Umgebungssprache, aufgewachsen. Im Alter von zehn Jahren kam das Mädchen schließlich nach Deutschland. Hier lernt sie seit drei Jahren Deutsch und zusätzlich noch Englisch in der Schule. Das Beispiel zeigt den direkten Zusammenhang von Sprache und Migration auf. Mit der Zuwanderung einerseits und der weiter zunehmenden Mobilität in globalisierten Gesellschaften andererseits wächst auch die Bedeutung der Migrationslinguistik, die als innovatives Forschungsfeld sprachliche Aspekte der Migration interdisziplinär betrachtet. Hierzu zählen eine Reihe von Fragen, die sich mit Sprachwandelprozessen, Spracherwerbsformen, Spracherhalt und Sprachverlust sowie sprachsystematischen Aspekten auseinandersetzen. Des Weiteren werden auch soziolinguistische Perspektiven und der Zusammenhang von Sprache, Integration, Identität und sprachlicher Bildung in den Blick genommen. Die Erkenntnisse hieraus sind bedeutsam für eine moderne Integrations- und Sprachpolitik und haben damit eine unmittelbare Relevanz für politisches Handeln (vgl. Stehl 2011). Damit verbinden individuelle, gesellschaftliche, institutionelle sowie politische Handlungsfelder die Begriffe ‚Mehrsprachigkeit‘ und ‚Migration‘. Im Fokus dieser Einführung stehen die sprachlichen Auswirkungen von Migrationsbewegungen in die Bundesrepublik Deutschland und somit Immigrationsprozesse sowie Binnenmigration in größeren räumlichen Zusammenhängen wie der Europäischen Union. Dabei bildet das Deutsche den Ausgangspunkt der Untersuchung, das jedoch in einem mehrsprachigen Kontext mit unterschiedlichen Herkunftssprachen gesehen wird. Die Immigration in die Bundesrepublik Deutschland und deren soziale, wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen sind bereits in einer Reihe von Arbeiten beschrieben worden (z.B. Bade 2017; Herbert 2001; Oltmer 2017). Die Auswirkungen auf die deutsche Sprache sind jüngst in einer umfangreichen, diachron angelegten Untersuchung von Hünlich (2022) thematisiert worden. Nach Hünlich (2022) ist der Beginn der systematischen Untersuchung des Zusammenhangs von Migration und Sprache in Deutschland mit dem sog. ‚Gastarbeiterdeutsch‘ verknüpft. Im Zuge des Wiederaufbaus und eines beginnenden Wirtschaftsaufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg warben eine Reihe westeuropäischer Länder, darunter Deutschland, Arbeitsmigranten vor allem aus Südeuropa an (s. Kasten zur Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte). Als Auslöser dieser Migrationsbewegung gelten somit ökonomische Gesichtspunkte. In Deutschland wird diese erste Phase der sog. ‚Gastarbeitermigration‘ in den Zeitraum der 1950er Jahre bis ins Jahr 1974 eingeordnet (eine ausführliche Darstellung hierzu findet sich bei Herbert 2001: 202–345). Der Großteil der ausländischen Arbeiter kam zunächst aus den romanischsprachigen Ländern. Dies änderte sich im Laufe der Zeit, bis Anfang der 1980er Jahre mehr als die Hälfte der Gastarbeiter aus der Türkei, Griechenland und dem damaligen Jugoslawien stammte (vgl. ebd.). Die meisten dieser Menschen kamen aus ländlichen Regionen und waren meist nicht oder nur sehr gering qualifiziert. Mit der Bezeichnung als ‚Gastarbeiter‘ war zunächst auch ein Fremdverständnis der einheimischen Bevölkerung verbunden, allerdings ebenso ein Selbstverständnis der Migrantinnen und Migranten. Die geteilte Erwartungshaltung lag darin, dass der Aufenthalt in Deutschland nicht auf Dauer angelegt sei. Allerdings traf dies auf die Wenigsten zu, da viele Gastarbeiter bereits in den 1970er Jahren ihre Familien nachholen konnten und schon die nächste Generation hier geboren wurde. Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte in Deutschland Um die steigende Nachfrage nach Arbeitskräften in der Nachkriegszeit bedienen zu können, schloss Deutschland mit einer Reihe von Staaten Anwerbeverträge ab (vgl. Knortz 2008: 20): 1955 mit Italien 1960 mit Spanien und Griechenland 1961 mit der Türkei 1963 mit Marokko 1964 mit Portugal 1965 mit Tunesien 1968 mit Jugoslawien Dass Politik und Gesellschaft die Dimension dieser Entscheidung zunächst nicht bewusst war, wird durch den aus den 1960er Jahren stammenden berühmt gewordenen Satz von Max Frisch offenkundig: „Man hat Arbeitskräfte gerufen, doch es kommen Menschen.“ (Vorwort zu Alexander J. Seiler: Siamo italiani – Die Italiener. Gespräche mit italienischen Arbeitern in der Schweiz. Zürich: EVZ 1965). Insbesondere infolge der sich abschwächenden wirtschaftlichen Lage, die einen Höhepunkt in der Ölkrise von 1973 fand, sowie einem zunehmenden Unbehagen der deutschstämmigen Bevölkerung gegenüber den ausländischen Gastarbeitern, kam es zu einem Anwerbestopp (vgl. Herbert 2001: 224). Allerdings nahm der Ausländeranteil dennoch weiter zu. Familiennachzug und Kettenmigration führten dazu, dass Anfang der 1980er Jahre ca. 4,5 Millionen nicht-?deutschstämmige Menschen in der Bundesrepublik lebten, zu denen auch bereits sog. Aussiedlerfamilien aus Polen zählten (vgl. Hünlich 2022: 48, 117). Die Bedeutung von Sprache und sprachlicher Bildung im Zusammenhang mit Migration wurde bereits in den 1970er Jahren erkannt. So wurde 1974 vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, der Bundesanstalt für Arbeit, dem Deutschen Volkshochschul-?Verband und verschiedenen Trägern der freien Wohlfahrtspflege der Sprachverband Deutsch für ausländische Arbeitnehmer e.V. gegründet, der als Zusammenschluss von 450 größeren und kleineren Institutionen Angebote zum Erlernen der deutschen Sprache bereitstellte (vgl. Reich 2010a). Ab 2003 wurden die Aufgaben vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, heute dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), übernommen. Der Trend eines steigenden Ausländeranteils nahm auch in den 1990er Jahren weiter zu. Insbesondere migrierten dabei Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion, also aus Russland und den GUS-?Staaten, in die Bundesrepublik. Die Aussiedlermigration führte dazu, dass sich eine immer größer werdende russischsprachige Minderheit etablierte und die slawischen Sprachen generell an Bedeutung gewannen. Der Zeitraum ab den 1990er Jahren wird in der soziologischen Migrationsforschung häufig mit dem Begriff der ‚Superdiversität‘ beschrieben (vgl. Vertovec 2007). Das Ende des Kalten Krieges, die Öffnung der Binnengrenzen innerhalb Europas sowie die Jugoslawienkriege führten zu komplexen Migrationsprozessen, vor allem in urbane Einwandererviertel (vgl. Hünlich 2022: 7). Weiterhin wurden Anfang der 1990er Jahre rund eine halbe Million Asylanträge gestellt, und fünf Millionen Spätaussiedlerinnen und -aussiedler zogen in die Bundesrepublik Deutschland (vgl. Berend 2014). Darunter versteht man Zuwanderer und Zuwanderinnen mit deutscher Familiengeschichte, deren Vorfahren zu verschiedenen Zeitpunkten im 18. und 19. Jh. in das ehemalige Russische Zarenreich bzw. die Sowjetunion emigriert sind oder die in den ehemals deutschen Ostgebieten beheimatet waren. Diese Migrantengruppen sind deutscher Abstammung und haben zumindest teilweise noch eine Varietät der deutschen Sprache erlernt und/oder sind mit der deutschen Kultur aufgewachsen. Da sie aber in ihrem Alltag mit der umgebenden Staatssprache konfrontiert sind, wie z.B. Russisch oder Polnisch, ist diese Sprache in der Regel die dominante Sprache und die einzige, die auch in der Schriftlichkeit erworben wurde. So unterschiedlich wie die Gründe zur Migration waren, so verschieden waren die Gruppen hinsichtlich ihrer Herkunft und auch im Hinblick auf ihren Rechtsstatus. Obwohl also Mehrsprachigkeit und Migration in dieser Zeit von besonderer gesellschaftlicher Bedeutung waren, spiegelte sich dies nicht in einem steigenden sprachwissenschaftlichen Interesse wider (vgl. Hünlich 2022: 7). Dies änderte sich mit Beginn des neuen Jahrtausends. Mit einer Zunahme an Publikationen nahm auch das Themenspektrum an Untersuchungen zu. So wandte man sich beispielsweise den sprachlichen Veränderungen der Jugendsprache türkischstämmiger Jugendlicher zu oder dem Zweitspracherwerb von Menschen mit...