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E-Book, Deutsch, 700 Seiten

Köhler Nayers Weg zum Sacromonte

E-Book, Deutsch, 700 Seiten

ISBN: 978-3-7526-7977-9
Verlag: Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Erhard Taverna in der Schweizerischen Ärztezeitung: Dr. med. Nayer, von Beruf Kardiologe, muss gehen. Der Chef und die Spitalleitung haben ihm eine Auszeit aufgezwungen. Der Zwangsurlaub soll dem drohenden Burnout zuvorkommen. Es ist Nacht. Der unersetzliche Nayer räumt sein Pult und verliert sich im Jahrmarktgetümmel des nahen Stadtparks. Nayer schleppt sich zu eine Autobahnbrücke, stürzt sich in die Dunkelheit und überlebt. Damit beginnt ein Roadmovie zu Fuss nach Süden. Denn zufällig hat er auf dem Weg zur Brücke von einer Pilgerfahrt zum Sacromonte gelesen. Was das auch immer sei, es soll ihm den erhofften Frieden bringen. Seine Reise ist gefahrvoll, lächerlich und voller Wunder, seltsame Menschen begegnen ihm, immer wieder bleibt Nayer hängen, übt alle möglichen Berufe aus, lernt Frauen kennen, ist Strassenkünstler, Hilfskoch und Sterbepfleger. Sacromonte könnte überall sein, in einem Kloster, in einer Gefängniszelle, auf einem Campingplatz. Mehrmals überlebt er nur knapp. Nayer wird zu einem ausdauernden Landstreicher, übersteht mehr Abenteuer, als er sich das je vorstellen konnte. Er landet bei Ökoterroristen, unterschreibt Scheidungspapiere und wird mit Hilfe einer verschworenen Computergemeinschaft unverhofft reich. Am Ende erreicht er seinen Sacromonte, ganz anders, als er sich das vorgestellt hat.
Nayers verborgene Umwege sollen uns der Ungewissheit aussetzen, sprich der Routine entsagen helfen, bevor es zu spät ist. Schelmenroman, Entwicklungsgeschichte oder Rollenspiel. Glück ist ohne Risiko nicht zu haben. Eine Flucht mit vielen Stationen. Andreas Köhler hat Nayers Erweckung witzig, wortreich, fantasievoll und äusserst unterhaltend umgesetzt.
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Verzweiflung
Nayer liest die erstellten Berichte durch, lässt sich da und dort die entsprechenden Tomogramme nochmals auf dem Bildschirm anzeigen, braucht jedoch nichts zu korrigieren, auch nichts hinzuzufügen. Er hat – wie gewöhnlich – nichts übersehen. Dann schiebt er alle Dateien und Unterlagen zum Versenden in den Arbeitskorb der Sekretärin. Nayers Korb ist leer. Nichts, was noch zu tun geblieben wäre. Nayer kann gehen. Er rollt seinen Bürostuhl zurück, dreht ab und schaut zum Fenster hinaus. Längst schon ist es in den Ästen der schweren Kiefer dunkel geworden, und Nayer sieht nicht viel mehr als die Spiegelungen der Neonlampen und des Bildschirms. Und sich. Ein Schatten, dessen Umrisse sich unbestimmt vom Aktenschrank hinter ihm abhebt und nichts weiter erkennen lässt als das Blitzen des Kunststoff-Schildes auf der Brust mit Nayers Namen und Funktion. Alles ist erledigt. Nayer kann gehen. Er zögert. Er kann gehen? Er muss gehen. Man hat so entschieden. Sie haben entschieden. Malowitz. Der Chef. Der Chef und die Spitalleitung. Obwohl sie auf Nayer angewiesen sind. Und obwohl sie bis jetzt für ihn keine Vertretung gefunden haben. Und so leicht auch keine finden werden. Nayer weiss, dass ihm nichts anderes übrig bleibt, als – den PC herunterzufahren, aufzustehen, sich umzuziehen, und zu gehen. Den Urlaub anzutreten. Den Grossurlaub. All die Wochen, die sich in den letzten Jahren zusammengeläppert haben, all die Ferientage, die Wochenend- und Bereitschaftsdienste, und zusätzlich die vier Wochen Jubiläumsgratifikation. Die keinesfalls ausbezahlt würden. Man hatte Nayer von allen Seiten her genötigt, diese Wochen, diese Monate nicht weiter hinauszuschieben, sondern einzuziehen, jetzt einzuziehen. Richtig auszuspannen, sich eine schöne Zeit zu machen. Er solle sich vor Ablauf dieser Aus-Zeit, wie sie es nannten, keinesfalls zeigen. Und nicht zuletzt: Er solle sich durch und durch erholen. Man wolle kein Burn-out riskieren. Natürlich fragte man ihn, kaum hatte er zugesagt – notgedrungen zugesagt – nach seinen Plänen. Nicht nur das. Jeder gab Ratschläge. Was er – beneidenswerter Glückspilz mit so viel Ferien – alles tun könnte. Eine Weltreise! Nayer bräuchte sich nicht einmal zu beeilen. Er könnte die Reise an den schönsten Orten unterbrechen, an den Highlights, an den sonnigsten Stränden, in den besten Hotels. Könnte in die Mongolei fahren, nach Hongkong, Hawaii, Feuerland. Kultur könne er besichtigen: Machu Pichu, den Taj Mahal, Abu Simbel, Polynesien; er könnte in Alaska trekken oder in den Regenwäldern des Amazonas. Eine Reise mit Elvira unternehmen, seiner Frau. Oder wenigstens eine Wellnesskur antreten. Nayer äusserte sich nicht dazu. Er brauchte keine Auskunft zu geben. Wenn man ihn schon losschicken will, braucht er nicht noch Pläne herbeizubringen. Man hat ihn zum Urlaub genötigt. Zum Planen konnte man ihn nicht auch noch zwingen. Er weigerte sich, irgendwelche Reisebüros mit lächerlichen Südseepalmtöpfen beim Eingang aufzusuchen. Prospekte zu studieren. Kurorte im Internet nachzuschlagen. Nayer braucht nicht zu kuren. Und Wellness ist für die Spitalpatienten. Nicht für ihn. Nayer braucht sich nicht in läppische Trimm-Dich-Programme einbinden zu lassen. Nayer zögert. Nicht auszuschliessen ist: eine Falle. Ganz einfach. Nayer würde lang, sehr lang abwesend sein, genügend lang für Malowitz, um in der Zwischenzeit die Klinik zu reorganisieren. Ein Leichtes, ihn unterdessen auf die Seite oder auf einen Aussenposten zu schieben. Wenn es Malowitz zupass kam, dann … Gerade Nayers Tüchtigkeit, Nayers Kompetenz, Nayers Unersetzbarkeit in der Klinik könnte ihm zum Verhängnis werden. Nayer kennt Malowitz. Malowitz hasst Unersetzliche. Aspiriert einer darauf, unersetzbar zu sein, wird er ersetzt. Auch nach fünf oder zehn oder zwanzig Jahren. Darauf basiert – unter anderem – Malowitz’ Klinikführung. Nayer steht auf, schliesst seinen Schreibtisch ab, zieht den weissen Spitalkittel aus und holt sich den Mantel aus dem Kasten. Es ist soweit. Er kann gehen. Im gedämpft erleuchteten Flur ist niemand zu sehen. Ausser Nayer ist keiner mehr da. Er wendet sich zum Lift und fährt zum Ausgang hinunter. Er kann nach Hause gehen. Mit dem Bus. Allerdings würde dort auch niemand sein. Elvira ist an einer Tagung. Die bis übers Wochenende dauert. Weiterbildung für ihre neue Stellung. Die beiden Töchter sind ohnehin weg. Die eine in einem Sprachpraktikum. Die andere an der Uni. Und in ihrer WG. Nayer ist allein. Vor dem Klinikgebäude bleibt er unschlüssig stehen, beschliesst dann, einige Schritte zu gehen; die Luft ist lau. Er kann den Mantel wieder aufknöpfen. Nayer verlässt das Spitalareal, geht am Busdepot, an der Turnhalle, am Volksbad vorbei, kommt zum Stadtpark und hört Lärm. Musik. Lichter blinken durch die Bäume. Jahrmarkt. Natürlich, es ist Jahrmarktzeit. Nayer biegt bei der Backsteinstele ab. Nayer hat Zeit. Bunte Lichter zittern über die Hauswände. Musik scheppert. Frauen kreischen auf den elektrischen Scooter vor Angst und Vergnügen. Nayer steht bereits zwischen den ersten Marktständen. Eine Menge von Menschen treibt sich zwischen Buden und Bahnen, zwischen Riesenrad und Karussell herum. Links lachen ein paar alte Männer und klopfen Sprüche, essen Bratwürste und Magenbrot, trinken Bier. Rechts stehen Halbwüchsige Schlange vor einem Videoflugsimulator; einer raucht verstohlen eine Zigarette. Nayer ist seit Jahren nicht auf dem Jahrmarkt gewesen. Seit … Seit Jahrzehnten. Er zieht seine Brieftasche hervor, ersteht sich eine Bratwurst und nimmt sich ein Stück Brot aus dem Korb. Er hat seit dem Mittag nichts gegessen. Unschlüssig steht er mit der Wurst und dem Brot zwischen den Buden, erblickt schräg gegenüber eine Theke, geht darauf zu und lässt sich ein Bier ausschenken. Neue Kunden drängen heran. Nayer schiebt den Plastikbecher seitwärts und drückt sich an den Rand der Theke. Gerade genug Platz ist da für seinen Becher. Junge Männer prosten sich laut und rau zu; das Bier schwappt über. Ein Spritzer trifft Nayer. Er beobachtet die Männer, die sich anrempeln und gleichzeitig nach Mädchen Ausschau halten. Diese ziehen in Gruppen vorbei, tragen rosa Frühlingskleider, kurze Röckchen, Lackschuhe mit hohen Absätzen; an ihren Schultern hängen grün und gelb glänzende Plastiktaschen. Nayer trinkt. Das Bier – schmeckt nach nichts. Er leert den Becher und lässt sich wieder einschenken. Vor dem schwarzen Himmel leuchtet und flimmert es in allen Farben. Hinten boxen Männer um die Wette gegen einen Lederball, der bei jedem Schlag hochkracht und die Maschine zum Zittern bringt. Die Männer füttern den Apparat mit Geld, spucken in die Hände und auf den Boden und schlagen wieder zu. Wham! Nochmals. Wham! Jedes Mal rotiert der rote Zeiger über eine Skala. Keiner beachtet ihn; der Kenner misst die Wucht mit dem Gehör. Die Männer, in beschriftete Jacken gekleidet und mit Ketten gegürtet, vergnügen sich, und die Mädchen stolzieren vorbei. Stolzieren, herausgeputzt, mit bemalten Gesichtern, roten Lippen und Kämmen in den Haaren, mit blauen und grünen Augenlidern, mit schwarzen Wimpern und mit Kreolen an den Ohren, mit lackierten Nägeln. Sie leuchten, diese Mädchen, leuchten für die Männer, für die jungen Männer, die sie aus den Augenwinkeln verfolgen, dabei die Fäuste ballen und auf das Leder schlagen. Nayer trinkt wieder von seinem Bier, leert den zweiten Becher. Nichts. Das Bier schmeckt nach nichts. Nayer kaut an der Wurst. Auch sie schmeckt nach nichts. Nach absolut nichts. Wie das Bier. Nichts. Das Brot bringt er kaum hinunter, obwohl es weder trocken noch fade ist. Das Brot ist nicht fade. Nayer ist fade. Nayer trinkt aus und lässt sich erneut einschenken. Er leert den nächsten Becher. Wieder nichts. Nichts schmeckt. Alles schmeckt nach nichts. Alles ist leer. Nayer bestellt noch ein Bier. Auch das wird nicht schmecken. Er kann auch eine zweite geschmacklose Wurst essen. Oder Zuckerwatte kaufen – falls er sich nicht schämt, mit Zuckerwatte herumzulaufen. Was überflüssig wäre, vollkommen überflüssig, denn keiner beachtet ihn – Nayer selbst ist überflüssig. Er hat hier nichts zu tun. Mit niemandem etwas zu tun. Nayer kommt auch nicht in Frage. Weder bei den Mädchen, noch bei den jungen Männern. Er kann sein Bier trinken. Er kann es stehen lassen. Es kommt nicht darauf an. Nayer bestellt noch ein Bier, obwohl in fröstelt. Nayer hat hier nichts zu suchen. Er könnte nach Hause gehen – aber auch dort hat er nichts zu suchen. Das Zuhause ist genau so leer. Und die Zeit, die auf ihn zukommt, die freie Zeit, der Urlaub, die Aus-Zeit, wie die anderen sie genannt haben, ist ebenso leer. Er kann nach Hause gehen, er kann irgendwohin gehen, überall würde es gleich sein. Leer. Geschmacklos. Nayer trinkt an seinem Bier. – Natürlich ist es nicht geschmacklos. Es schmeckt nach Bier. Nach nichts weiterem. Nur nach Bier. Und das Bier hat keine weitere Bedeutung – für ihn. Nicht so für die andern. Für...


Köhler, Andreas
Andreas Köhler ist Psychiater, Psychotherapeut und Schriftsteller und hält Lesungen in der DenkBar beim Kloster St. Gallen. Er arbeitet als Facharzt FMH in eigener Praxis in St. Gallen, ist verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Söhnen. Er hielt öffentliche Vorlesungen an der Universität St. Gallen und war Präsident der St. Galler Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie. Er verbrachte seine Jugend in den Tälern der Limmat, der Jona und der Eulach, studierte Medizin an der Universität Zürich und der Freien Universität Berlin. Er schloss sein Studium mit einer Dissertation zum Thema «Religiöser Wahn und Religiosität» ab und bildete sich an der St. Galler Schule für Gestaltung weiter. Sein seelenkundliches und literarisches Interesse gilt der geistigen Fähigkeit des Menschen, seine soziale Welt mittels Geschichten zu durchdringen und zu gestalten.


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