E-Book, Deutsch, Band 1, 320 Seiten
Reihe: Das Haus am Deich
Kölpin Das Haus am Deich - Fremde Ufer
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-492-99983-0
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman | Gefühlvoller Nordsee-Roman
E-Book, Deutsch, Band 1, 320 Seiten
Reihe: Das Haus am Deich
ISBN: 978-3-492-99983-0
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Regine Kölpin, geb. 1964 in Oberhausen (Nordrhein-Westfalen). Die Autorin lebt seit ihrer Kindheit in Friesland an der Nordsee. Regine Kölpin schreibt für namhafte Verlage (mit Gitta Edelmann auch unter dem Pseudonym Felicitas Kind) Romane, Geschenkbücher und Kurztexte. Ihre Bücher waren mehrere Wochen auf der SPIEGEL- Bestsellerliste. Regine Kölpin hat einige Auszeichnungen erhalten. Unter anderem den Bronzenen Homer 2020 (mit Gitta Edelmann), den Titel Starke Frau Frieslands 2011, das Stipendium Tatort Töwerland 2010 u.v.m. Sie gehört dem PEN-Zentrum Deutschland und den Autorenvereinigungen Delia(Liebesroman) und Homer (Historischer Roman) an. Mit ihrem Mann Frank Kölpin lebt sie in einem kleinen idyllischen Dorf an der Küste. Dort konzipieren sie gemeinsam Musik- und Bühnenprojekte und genießen ihr Großfamiliendasein mit fünf erwachsenen Kindern und mehreren Enkeln oder lassen sich auf ihren Reisen mit dem Wohnmobil zu Neuem inspirieren. Mehr Infos unter: www.regine-koelpin.de
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 1
Dichter Nebel lag über dem Jadebusen und machte es Ulrich Köhle und Hero Gerken schwer, in Sichtweite der anderen vier Männer zu bleiben, die sich zu ihren Granatfangkörben und Stellnetzen ins Watt aufgemacht hatten. Schon früh am Morgen waren sie von Eckwardersiel links vom großen Priel losgezogen.
Gespenstisch hallten vereinzelte Rufe über die See, die sich langsam zurückzog und das Wattenmeer schon bald freigeben würde. Der Rückweg würde dann etwas leichter werden.
Ulrich schob den Schlickschlitten, auf dem der Granatfangkorb stand, mit gebeugtem Oberkörper durch die hüfthohe, braungraue Nordsee. Auch wenn sie mit der Tide gingen, bot das Wasser großen Widerstand, und jeder Schritt konnte zur Qual werden.
Die Arbeit forderte seine ganze Kraft. Schon bald war die Kleidung von Schweiß durchtränkt, sein Atem ging schwer. Der feuchte Nebel hemmte das Luftholen zusätzlich, man hatte den Eindruck, als setzten sich die winzigen Wassertröpfchen in seiner Lunge fest. Schritt für Schritt stampfte Ulrich vorwärts, Schritt für Schritt ein Kampf mit den Naturgewalten, denen sie etwas Nahrung abtrotzen wollten.
Ulrich war müde. Er schlief trotz der harten Arbeit schlecht und hatte sich auch heute aus dem Bett gequält. Es machte ihm Sorge, dass er mit seiner Frau Margret und der Tochter Frida noch immer auf dem Hof von Hero Gerken lebte und sie noch kein eigenes Zuhause hatten, aber jegliche Versuche, ein eigenes Häuschen oder eine Kate – und sei es auch nur zur Miete – zu finden, waren bislang gescheitert. Wie oft war Ulrich schon bei der Gemeinde gewesen, aber es schien momentan aussichtslos. Und so fristeten sie bereits viel zu lange ihr Dasein auf dem Hof der Gerkens, wo sie nach dem Krieg und nach der Flucht aus Stettin mehr schlecht als recht in einem kleinen Zimmer untergekommen waren. Eine Wahl hatten sie nicht gehabt.
Man hatte ihn, Ulrich, gegen Kriegsende zum Volkssturm verpflichtet, so wie alle Männer zwischen sechzehn und fünfundsechzig Jahren an die Waffen gerufen worden waren. Verteidigung des Heimatbodens hatten sie es genannt. Er und die anderen mit der schwarz-roten Armbinde und der weißen Aufschrift: Volkssturm.
Margret und Frida hatten Stettin derweil mit dem letzten Zug verlassen und waren in einer Odyssee Richtung Westen gefahren, bis sie in Nordenham strandeten. Von dort kamen sie mit der Kleinbahn nach Eckwarden, wo mehrere Bauern mit Pferdegespannen bereitstanden, um die Flüchtlinge aufzunehmen. Und so waren die beiden Frauen auf dem Hof der Gerkens gelandet. Ulrich war nach Kriegsende zu ihnen gekommen, nachdem er irgendwann die Panzerfaust einfach weggeworfen hatte und getürmt war. Er hatte sich als Bauernjunge verkleidet auf einem Milchwagen bis Eckwarden durchgeschlagen.
Gefunden hatte er seine Frau und seine Tochter mithilfe der Pappkarten, die Margret aus Kartons gebastelt und nach Stettin-Stolzenhagen an die alte Adresse geschickt hatte.
Nun musste Ulrich sich aber beeilen, denn obwohl Hero Gerken sonst ein umgänglicher Mann war, konnte er ziemlich grantig werden, wenn seine Helfer nicht spurten. Weil er eine Menge Körbe draußen im Watt hatte, ging ihm neben Ulrich auch Focko Ewert aus Fedderwardersiel zur Hand. Focko war ein kräftiger, rothaariger Mann, wortkarg, wie die Menschen der Region eben waren, und fleißig wie kein anderer. Da er aus einer alteingesessenen Fischerfamilie stammte, fiel ihm die Arbeit leicht, schließlich kannte er zeitlebens nichts anderes.
Bauer Gerken hatte sich heute die Schultertrage gegriffen und kam ebenfalls nur langsam voran, weil auch er bis zum Knöchel im Schlick einsackte. Das Joch der Trage, man nannte es einfach Jöck, hatte einen ausgefrästen Bogen, und an den Seiten hingen dünne Ketten mit Körben.
Die Fischerei war für Hero Gerken wie für viele zwar nur ein Nebenerwerb, den sie zusätzlich zur Landwirtschaft betrieben, aber in diesen Zeiten war man froh über jedes Einkommen.
Ulrich bohrte seine Augen in das undurchdringliche Weiß. Er mochte den Nebel nicht, obwohl er ihn auch aus seiner Heimat kannte. Hier aber, wohin es ihn mit seiner Familie verschlagen hatte, zeigte er ihm den Verlust, die Lähmung. Die Tristesse. Ein Leben ohne Musik, nur geprägt von harter Arbeit und ohne Ziel. Es gab kein gemütliches Zusammensein wie vor dem Krieg. Keine Stunden, in denen ihre Tochter Frida am Klavier saß und ihnen vorspielte, was sie im Konservatorium gelernt hatte. Und dann diese dunklen Gedanken, die ihn seit der Flucht immer mal wieder ohne Vorwarnung überfielen und ummantelten wie Pech, das er einfach nicht abkratzen konnte.
Ulrich kämpfte sich weiter durch die Nordseefluten, bis sie die Granatkörbe, mit denen sie die Garnelen fingen, erreicht hatten.
Diese speziellen Fanggeräte waren gegen den Ebbstrom im Watt waagerecht auf einer Holzstellage angebracht und mit Tauen gegen das Abtreiben gesichert. Es handelte sich um Körbe, die wie lange, runde Trichter gefertigt waren, deren Öffnungen vorn einen Durchmesser von einem Meter hatten. Der vorderste Korb verjüngte sich nach hinten, wo ein weiterer, schmalerer Korb von über einem Meter Länge angesteckt war. Er endete in einer kleinen Öffnung, die mit einem konischen Holzklotz verschlossen wurde.
Sie schoben den Schlitten auf die Rückseite der Körbe, und Ulrich wischte sich den Schweiß von der Stirn. Noch immer herrschte um sie herum diese dichte, undurchdringliche Brühe, die die Weite des Meeres in eine kleine Welt verwandelte. Ulrich konzentrierte sich wieder auf die Arbeit. Je schneller sie waren, desto eher konnten sie zurück an Land.
»Fang einholen!«, befahl Hero Gerken, der bei der Arbeit stets deutlich machte, wer das Sagen hatte. Er war, genau wie die anderen Fischer, in Ölzeug gekleidet, und hüfthohe Stiefel schützten ihn vor der Nässe. Auf dem Kopf trug er eine Schiebermütze.
Ulrich hatte in den letzten zwei Jahren Routine beim Leeren der Fangkörbe bekommen. Die Wattenfischerei war anders als die Binnenfischerei, die er von Stolzenhagen her kannte und an die er sich gern wehmütig erinnerte. Dort hatten sie vom Fischerdorf Glienken aus mit kleinen Holzbooten in der Oder und im Dammschen See Aale gefischt. Im Sommer waren sie vorwiegend in der Nacht mit ihren sieben Meter langen Booten und leichten Schleppnetzen, die sie Zeesen nannten, rausgefahren. Da der Aal empfindlich war, durften sie den Motor nur nutzen, um in die Fanggebiete zu gelangen.
Im Herbst und Frühjahr waren sie tagsüber in die Odergewässer gefahren, hatten dort größere Schleppnetze ausgeworfen und mit dem Strom gezogen. Auch dort musste für das Bewegen der Boote die Muskelkraft der Fischer eingesetzt werden.
Teilweise fuhren sie bis zu fünfundzwanzig Kilometer weit hinaus. Damit sie in der Dunkelheit erkannt wurden, hatten sie kleine Petroleumlampen als Erkennungslichter auf die Boote gesetzt. Kam das erste Eis oder gefror die Oder gar zu, musste der Fischfang eingestellt werden. Damit es keine Schäden an den Booten gab, hatten sie die Rümpfe ständig mit der Eisaxt freigeschlagen.
Da der Fisch auch in Kriegszeiten nie rationiert worden war, hatte er direkt an den Bootsliegeplätzen verkauft werden können. Aber die Frauen fuhren auch mit den Booten nach Stettin zum Fischmarkt, wo die Tiere in der Regel lebendig an den Mann gebracht wurden.
Ulrich seufzte. Hier war eben alles anders, aber in diesen Zeiten durfte man weder nachdenken noch trauern. Es galt zu überleben und die Familie durchzubringen. Alles andere war ein Luxus, den sich keiner leisten konnte.
Er zog nun den Holzklotz mit einem gezielten Griff aus der Öffnung des hinteren Korbes und leerte den Fang in das Behältnis auf dem Schlitten.
Dann ging es weiter. Insgesamt hatte Hero Gerken sechs Granatkörbe aufgestellt.
Ulrich war froh, dass Focko mit ins Watt gegangen war. Er lächelte ihm wortlos zu, und sie arbeiteten Hand in Hand. Er mochte den jungen Mann, der mit seinen zwanzig Jahren etwas älter als Frida war.
»Heute hat es sich gelohnt«, meinte Hero Gerken mit einem Blick zum Schlitten, wo der Behälter schon gut gefüllt war. »Zwei haben wir noch, die bekomme ich auch noch mit.«
Ulrich und Focko halfen ihm, auch diesen Fang einzubringen. Inzwischen war das Wasser so weit abgelaufen, dass es nur noch die Knie umspülte. Ulrich fand das wesentlich angenehmer, der Rückweg war noch weit und beschwerlich genug.
Auch die anderen Fischer hatten ihre Körbe geleert, und die, die zu den Stellnetzen wollten, liefen weiter. Sie mussten nur auf den noch niedrigeren Wasserstand warten, damit der Butt, der sich im Watt eingegraben hatte, aufgesammelt werden konnte.
Ulrich, Focko und Bauer Gerken aber machten kehrt. »Wir gehen zurück!«, rief Hero den anderen Fischern zu.
»Jo!«, hörte Ulrich, dann war wieder nur das Durchpflügen der Stiefel durchs Wasser zu vernehmen. Ganz regelmäßig, Schritt für Schritt ein leichtes Glucksen und Ziehen.
Ulrich konzentrierte sich darauf, den Schlitten mit dem wertvollen Fang sicher über den Schlick zu schieben, und war froh, als er das Festland im Dunst erkennen konnte. Hier war der Nebel nicht ganz so dicht wie eben noch auf See, und man konnte erahnen, dass sich die Sonne gleich durch die Schwaden kämpfen und sie später vertreiben würde.
Am Hafen angekommen, setzte Hero Gerken das Joch ab und lupfte die Schiebermütze. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Das war ja mal ein erfolgreicher Morgen, was?«
Ulrich nickte und begutachtete zusammen mit Focko den Granat. »Ist nur wenig Beifang dabei, und die Garnelen sind recht groß.«
»Jo.« Hero setzte die Mütze wieder auf. »Die werden unsere Frauen schnell los. Dann lass uns mal sehen, dass wir fix zum Hof kommen. Focko muss ja auch nach...