Koemeda | Die fehlenden Sprossen in meiner Leiter | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 280 Seiten

Koemeda Die fehlenden Sprossen in meiner Leiter

Eine familiäre Spurensuche
2. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7597-9852-7
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine familiäre Spurensuche

E-Book, Deutsch, 280 Seiten

ISBN: 978-3-7597-9852-7
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Spuren hinterlassen oder nicht? Was soll bleiben von einem Menschenleben? Es gibt Geschichten, die variantenreich - gerne - erzählt werden. Über andere schweigt man sich aus. Lädt einer Schuld auf sich, der siebzehnjährig im Januar 1940 einem Gestellungsbefehl Folge leistet? Haben die Zusammenstöße zwischen einer heranwachsenden Tochter und ihrer Mutter mit solchen Vorgeschichten zu tun? Was wissen wir wirklich über das Leben unserer Eltern, von denen wir glaubten, dass sie uns die Nächsten sind? Der Autorin ist ein sensibel erzähltes Erhellungsbuch über das Leben ihrer Eltern gelungen. Eine Würdigung. Ein Denkmal aus Sprache.

Margit Koemeda wurde als Österreicherin in Nürnberg geboren und ist dort aufgewachsen. Ein Jahr lang lebte sie in den USA. Seit vielen Jahren wohnt und arbeitet sie in der Schweiz - am Bodensee. Sie ist Psychotherapeutin, als Ausbildnerin und berufspolitisch tätig. Verheiratet, Mutter von zwei erwachsenen Töchtern. Margit Koemeda hat drei Romane, zwei Erzählbände, Theatertexte, außerdem mehrere psychologisch-psychotherapeutische Fachbeiträge und Bücher publiziert.

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Neben Mutters Bett im Pflegeheim hing ein Portrait von Vater. Mein Schwager hatte fotografiert und in der linken unteren Bildecke ein schwarzes Band zum Zeichen der Trauer angebracht. Vaters Tod hatte einen Krater in Mutters Leben gerissen. Beide Eltern stammten aus Graz in Österreich. Der berufliche Weg des Vaters führte das frisch vermählte Paar Anfang der fünfziger Jahre in die Bundesrepublik Deutschland. Vater hatte in Graz Elektrotechnik studiert und sich als Diplom-Ingenieur auf ein Stellenangebot des Nürnberger Maschinen- und Apparatewerks (NMA) der Siemens-Schuckert AG beworben. Man hatte großdeutsch gedacht in seiner Familie. Österreich erschien ihm rückständig und nach seiner Schrumpfung infolge des Ersten Weltkrieges unbedeutend. Er bewunderte die deutsche Klarheit, Zielstrebigkeit und Effizienz. Bei der Wohnungssuche, berichtet unsere Mutter, seien sie noch über die Trümmer der im Krieg zerbombten Häuser gestiegen. Immer noch fehlten Straßenbezeichnungen. Anders als in Österreich standen sie hier nicht auf jedem Hausnummernschild, sondern nur an Straßenkreuzungen. Viele waren im Krieg verschwunden. Ich erinnere mich, dass in meiner Kindheit in der Umgebung unserer Neubausiedlung immer wieder Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden wurden, die entschärft werden mussten. Wir Anwohner wurden aufgefordert, unsere Wohnungen nicht zu verlassen und die Fenster geschlossen zu halten. Abgesehen davon wusste ich als nachgeborenes Kind wenig vom Krieg. Vater redete so gut wie nicht von dieser Vergangenheit. Nur unsere Mutter (Jahrgang 1927) erzählte manchmal von ihrer Flucht aus Graz vor den Russen – zusammen mit ihrer Cousine – auf Fahrrädern in Richtung Erzgebirge zu ihren mütterlichen Verwandten – dumm aus heutiger Sicht. Damals folgten sie wohl ihrem Instinkt – zurück zu den Wurzeln. Mehrmals mussten sie von ihren Rädern springen und sich vor Tieffliegern in Straßengräben verstecken. Den Russen begegneten sie im Erzgebirge auch, dort erst recht. Mutter erzählte von Ernteeinsätzen während des Krieges mit äußerst mangelhaftem Schuhwerk, von Hunger und Luftschutzkellern und von der Kunst ihrer Mutter, immer irgendwo doch noch etwas zum essen aufzutreiben. Vom Verschwinden einer jüdischen Mitschülerin aus ihrer Klasse, ganz zu Beginn der vierziger Jahre. Niemand habe darüber geredet. Auch sie selbst habe sich damals keine Gedanken über dieses Verschwinden gemacht. Als die Russen gegen Kriegsende nach Graz kamen, hätten sie den Einheimischen Taschen- und Armbanduhren abgenommen. Sie hätten Betten aufgeschlitzt und die Federn aus den Fenstern geschüttelt, wie kleine Kinder in Bücher gekritzelt, Notenhefte von Pulten und Klavieren gerissen, hätten diese zerfetzt und die Papierschnitzel auf die Straßen schneien lassen. Vom Bombenalarm erzählte Mutter manchmal und wie alle Hausbewohner in den Luftschutzkeller gerannt seien. Vater erzählte selten vom Krieg. Wir wussten nur, dass er in Frankreich, in Russland und später in Italien gewesen war und dass man ihm, obwohl er noch blutjung war, früh und überall rasch Verantwortung übertragen hatte. Irgendwann einmal hörte ich ihn die bittere Kälte in Russland erwähnen, sprach er von den im Winter gefrorenen Exkrementen an Wegrändern und hinter den Häusern. Und dass er sich gefragt habe, wie das im Frühling und Sommer auszuhalten sein würde. Bizarre Bilder und Vorstellungen. Bei meiner Schwester und mir kam an, dass wir froh und dankbar sein mussten, weil wir in einem zivilisierten Land lebten. Vater erzählte von beschlagnahmten Pferden und wie er einmal einen Spähtrupp zu befehligen hatte, bei dem fast lautlos der Mann links und der rechts von ihm von Kugeln getroffen wurden und zu Boden fielen. Mehr erzählte er nicht, vielleicht weil wir Kinder kaum reagierten. Weil wir es uns wahrscheinlich nicht vorstellen konnten. Oder weil wir erstarrt waren bei seiner Erzählung, weil er vermutlich selbst immer noch unter Schock stand und nicht mehr berichten konnte als die nüchternen Fakten. Links und rechts je einer. Drei minus zwei gleich eins. Er. Meine Schwester erinnert sich daran, bei Vater, ohne genau zu wissen wodurch, immer wieder auf emotionale Tretminen gestiegen zu sein, dass sie ihn zur Weißglut oder zum Explodieren bringen konnte. Auch erinnert sie sich, dass er uns Kindern verboten hatte, seine linke Schreibtischschublade zu öffnen. Meine Schwester wäre sehr neugierig gewesen, aber wir hielten uns an Vaters Verbot. Sie habe eine Pistole oder eine Liebesgeschichte darin vermutet. Bei der Räumung des Elternhauses fanden wir jedoch nichts dergleichen. Als unsere Eltern im Jahr 2016 eiserne Hochzeit feierten, kam ein Journalist zu ihnen in die Einfamilienhaussiedlung in einem Vorort von Nürnberg. Vater war es wichtig, dass in seiner Biografie die Kriegsteilnahme erwähnt würde, sechs seiner »besten Jugendjahre« lang. Da wurde ich aufmerksam. Vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben. Unglaublich. Während ich mich zwischen meinem achtzehnten und dreiundzwanzigsten Lebensjahr meinem Studium, meiner Berufswahl und sozialen Erfahrungen widmen konnte, war er in diesem Alter im Krieg gewesen. Welterfahrungen auch, soziale Lektionen sicher, aber immer in der Gefahr, Leib und Leben zu verlieren. Bedrohung, Angst, Überlebenskampf. Meine Schwester und ich hatten Vater schon in den Jahren zuvor gebeten, seine Lebenserinnerungen aufzuschreiben. Was er tatsächlich tat. Nur kam es nie zu einem Gespräch darüber. Es ergab sich nicht. Wir fanden keine Zeit. Vielleicht war es die unerlöste Gefühlswelt, die ich hinter diesem Abschnitt im Leben meines Vaters ahnte, der ich mich nicht gewachsen fühlte und der ich mich nicht aussetzen wollte. Mit einem zeitlichen Abstand von dreißig Jahren nehme ich mir nun seinen Lebensbericht vor und lese über Ereignisse, die mehr als achtzig Jahre zurückliegen. Es beginnt in Graz in einer Wohnung im vierten Stock, Technikerstraße 13 – im großen Zimmer (Sparbersbachstraßenseite) An meinem Schreibtisch stehend hörte ich am Morgen des 1. September 1939 die Nachricht vom Beginn des Krieges gegen Polen. Obwohl durch die Propaganda alles vorbereitet war, fühlte ich tief die Bedeutung der Stunde. Die Geschichte vom Angriff Polens auf den Sender Gleiwitz kam mir äußerst merkwürdig vor, aber die geschickte Abfassung der weiteren Nachrichten ließ dies bald vergessen. Erwartungsgemäß erklärten Frankreich am 3.1. um 11:00 Uhr und Großbritannien um 17:00 Uhr an Deutschland den Krieg. Die Erfolge der Deutschen Wehrmacht in Polen hörten wir zwar nicht ungern, aber in der Erinnerung kommt mir diese Zeit vor wie durch eine Lähmung verdunkelt. »… fühlte ich tief die Bedeutung der Stunde.« Hier würde, glaube ich, jeder heutige Lektor den Rotstift ansetzen. Das kann man so nicht schreiben. Welche Gedanken gingen dir durch den Kopf?, würde er den Autor vielleicht fragen. Was genau fühltest du? Beschreibe deine Körperempfindungen. Versuche, dich exakt zu erinnern und dich wieder hinein zu versetzen in diesen Zustand damals. Aber das geht ja nun nicht mehr. Wir müssen diese wenig aufschlussreiche, dafür schwülstige – vor über achtzig Jahren vielleicht passende – Redewendung leider stehen lassen. Ich begann damit, auf Google Maps die Orte zu suchen, die mein Vater in seinen Aufzeichnungen namentlich erwähnt: Graz, Obertraubling, Bechhofen, Crailsheim, Kremsmautern, Göttweig, Berlin, Mourmélon, Médréac, Berlin, Alexandrowo, Halle, Großborn, Antwerpen, Smolensk. Manche Orte sind hunderte von Kilometern, andere mindestens zwei Tagesreisen voneinander entfernt, zum Beispiel mit dem Pkw nach Bolschoj und Maly Bakajevo. Ich finde Bakajevo in der Ukraine, jenseits des Dnepr, der ins Schwarze Meer fließt, unweit des Kremtschiku-Stausees, es gibt keine Satellitenbilder, Welisch, Wien, Warschau, Bialystok, Smolensk, Wizebsk, Rudnja, Demidovo, Iwanowo. Von Bakajewo nach Smolensk sind es 831 Kilometer, mit dem Auto 10.5 Stunden; es wird auf unbefestigte Straßen und – heutzutage – auf einen Grenzübertritt hingewiesen. Ein rotes Stecknadelsymbol zeigt auf den eingegebenen Ort. Ich tippe »minus«, »minus«, »minus«, um ihn im größeren Kontext zu sehen. Wie weit von Graz, wie weit von Wien, Paris, Moskau? Ein Siebzehnjähriger, den seine Mutter zum Zug begleitet. Dort trennen sie sich. Mehr schreibt er nicht. Erwähnt nur noch, dass zum Glück ein guter Freund mit ihm eingerückt sei. Der Siebzehnjährige wird davon ausgegangen sein, dass er gesund zurückkehren werde. Und seine Mutter? Welche Gedanken sind ihr wohl durch den Kopf gegangen? Was wird sie empfunden haben in diesen letzten Augenblicken vor dem Abschied? Aufbruch ins Leben. In die Welt. Der Junge folgt fremden Befehlen, zuerst hier- dann dahin. Und er fragt wahrscheinlich nicht, welcher Plan dahintersteckt. Beim Lesen der verschiedenen Ortsnamen und der Verschickung der Soldaten in immer andere Himmelsrichtungen wird mir schwindlig. Hat man...



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