E-Book, Deutsch, 168 Seiten
Koemeda Klippenflieger
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7504-6667-8
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erzählungen
E-Book, Deutsch, 168 Seiten
ISBN: 978-3-7504-6667-8
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
»Klippenflieger« ist eine Sammlung von Erzählungen über Menschen, die auf der Suche nach Verstehen, Sinn oder Liebe mehr oder weniger ausdauernd unwirtliche Felslandschaften umkreisen. Hinreißend das Dahinsegeln auf Illusionen und Hoffnungen. Manchmal taucht einer unvermittelt ins Wasser, andere lassen sich auf den Riffen nieder, um gebannt in die Tiefe zu starren, wieder andere werden von den Klippen angezogen und zerschellen daran. Flüchtige Verliebtheiten geben nur vorübergehend Halt, dazwischen Luftlöcher und die beständige Furcht, von inneren Dämonen oder den Gespenstern der Vergangenheit eingeholt zu werden.
Margit Koemeda, als Österreicherin in Nürnberg geboren. Studium der Psychologie, Soziologie und Literaturwissenschaft in Konstanz und Zürich. Seit 1979 lebt und arbeitet sie als Psychotherapeutin, Autorin und Lehrbeauftragte in Zürich und Ermatingen. Sie hat bisher drei Romane und einen Band mit Erzählungen veröffentlicht. Verfasserin von Bühnentexten sowie von wissenschaftlichen Beiträgen. Autorin und Herausgeberin mehrerer Fachbücher. Mitglied von femscript und PEN-Schweiz.
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NACHSITZEN
Ich schloss die Tür und beeilte mich, das Haus zu verlassen. Ich war nicht bei mir. Meine Schritte lenkten mich zur U-Bahn-Station. Eine dunkle Fensterfront sog meinen Blick fest. Ich sah einen Mann, der sich langsamer als die übrigen Passanten bewegte. Von seinen Schultern hing ein schwerer dunkelgrauer Mantel. Sein Haar war füllig und leicht gewellt. ›Weich‹, dachte ich. Die Ampel schaltete auf Grün, und ich überquerte die Straße. Der Mann kam immer näher. Widerwillig erkannte ich mein eigenes Spiegelbild in ihm. Es stimmte: Mein Mantel war zu lang. Dass er außerdem nicht gut saß, genierte mich. Man sah, dass ich nicht zu den Geschäftsleuten gehörte, die mich zielstrebig überholten und an mir vorbei dem Bahnhof zuströmten. Selbstsicher trugen sie ihre Laptop-Taschen. Ich sah verbraucht aus, fand ich, und sträubte mich dagegen, aus der abgeschirmten Welt meiner Berufstätigkeit aufzutauchen. Der späte Nachmittag hier draußen in der Stadt war mir zu grell, die Geräusche zu laut. Wie immer am Ende eines langen Arbeitstages fühlte ich mich schmutzig. Schmutzig wie diese überfüllten Züge. Einmal mehr bedauerte ich, dass meine Frau und ich so weit außerhalb der Stadt lebten. Die S-Bahn, die mich zum Hauptbahnhof bringen sollte, kam mit einem leisen Quietschen zum Stehen. Ich musste nur meinen Arm ausstrecken, um den Türöffner zu bedienen. Froh, mich nicht weiter bewegen zu müssen, fiel mir Herr Schatzmann ein, der seine Schuldgefühle bei mir abgeladen hatte; Schuldgefühle, weil er nicht aufhören konnte, seine Frau zu betrügen. Die Studentin Tina hatte eine Menge verweinter Taschentücher in meinem Behandlungszimmer liegen lassen. Frau Haffler war nicht zu bremsen gewesen. Aus purer Schwäche hatte ich ihren Redeschwall einfach über mich ergehen lassen. Fräulein Felber war in ihrer Sitzung zornig auf ihre Schwester geworden; wahrscheinlich das einzige Erfolgserlebnis, das ich an diesem Tag verbuchen konnte. Dann kam mir Larissa in den Sinn und die finstere Miene, mit der sie das Sprechzimmer betreten hatte. Unsere förmliche Begrüßung. Die Sitzung begann mit einem langen Schweigen. Nach einer Weile fragte ich, was in ihr vorgehe. »Ärger«, sagte sie. »Was ärgert Sie?«, fragte ich. »Ihre Behandlung hilft mir nicht!« Das traf einen wunden Punkt. Ich hielt mich in der Tat für keinen besonders begabten Vertreter meiner Zunft. Aber das durfte ich natürlich nicht zugeben. Deshalb ermahnte ich Larissa, auch winzige Veränderungen zu beachten und kleine Fortschritte zu würdigen. Hellhäutig saß sie mir gegenüber, mit langen rötlichblonden Wimpern. Sie schien mich nicht zu beachten. »Ich muss raus hier«, murmelte sie. Als ihre Mutter mit ihr schwanger war … Diese ganze Geschichte fiel mir nun wieder ein. Raus aus dem Mutterleib? »Ist es so schlimm?«, fragte ich. Sie nickte. Aber ich dachte auch an unsere Gespräche über ihre Selbstmordgedanken. Raus aus dem eigenen Körper? Ich hasste meine Hilflosigkeit in solchen Situationen. Gerne hätte ich sie fest umarmt, um sie daran zu hindern, sich etwas anzutun: Tun Sie es nicht! Tun Sie das auf keinen Fall! Ein Suizid nach drei Jahren Behandlung würde meinem Ruf schaden! Andererseits verstand ich sie auch. Denn: Man begreift doch, dass jemand, der sich nicht wohl fühlt in seiner Haut, irgendwann einmal genug hat. »Meistens rede ich zu viel«, fuhr sie fort. »In meinem Kopf geht es zu wie bei einer Raubtierfütterung. Und ich kann dieses Gedankenjagen nicht zur Ruhe bringen.« Ich schwieg. Dann holte Larissa tief Luft und breitete ihre Arme aus. Rothaarig und prall saß sie da. ›Ein barocker Putto‹, dachte ich. Die Sommersprossen aber durchaus irdisch, versprenkelt auf Nase und Wangen. Während wir weiter schwiegen, wurde Larissas Körper ganz hell, fast durchsichtig. »Ich steige«, sagte sie. »Mein Kopf wird kleiner, der Unterkörper leichter, der Druck im Hals lässt nach.« Sie breitete die Arme noch weiter aus. Dann atmete sie hörbar und langsam aus, drehte ihre Handflächen nach unten und führte sie sanft auf die Armlehnen zurück. Sie schien selbst nicht zu verstehen, was sie tat. Sie wiederholte die Bewegung. »Ich umschließe hier etwas, berühre es mit … mit meinen Schwingungen … Schwingen? … Vielleicht trägt mich die Luft.« Die Morgensonne fiel schräg durch das Fenster und tauchte Larissa in goldenes Licht. Ihre Stimme war leise geworden. Ich wollte nicht stören. Larissa hielt die Augen geschlossen. Ihre Arme bewegten sich gleichmäßig, deuteten nun aber die kräftigen Flügelbewegungen nurmehr an. Wortlos. Dann sagte sie: »Ich bin ganz erfüllt … von dieser … Wärme. Ich möchte Menschen berühren. Sie weisen mich jedoch ab.« Larissa wehrte sich nicht, als ich ihr das Ende unserer Stunde ankündigte und sie einlud, auf die Erde zurückzukehren. Wir verabschiedeten uns. Ich war gerührt, einen Engel zu Gast gehabt zu haben. Nachdem sie die Praxis verlassen hatte, fragte ich mich, ob ich auf einen ihrer ungezählten Fluchtversuche herein gefallen war? Hatte ich mir nicht vorgenommen, ihrer Enttäuschung und ihrem Ärger auf der Spur zu bleiben? In diesem Augenblick fuhr die S-Bahn in die Untertunnelung des Hauptbahnhofs ein. Ich stand auf, schüttelte meinen Mantel etwas zurecht und ging zur Tür, um auszusteigen. Das Menschengewühl war hier noch dichter und bunter als an der Station, wo ich eingestiegen war. Dunkelhäutige Frauen in bunten Kleidern mit Kindern und Männern schoben schwer beladene Gepäckwagen vor sich her. Ich versuchte, mich auf die Abfahrtszeit meines Zuges zu konzentrieren und mir meinen Weg mitten durch die hin und her eilenden, gestikulierenden, einander unverständliche Dinge zurufenden Menschen zu bahnen. ›Was ist Larissas Problem?‹, fragte ich mich, sobald ich in meinem neuen Zug wieder einen Sitzplatz ergattert hatte. Es war beschämend, dass ich nach all unseren Gesprächen diese Frau einfach nicht verstand. Jetzt fiel mir ein, dass sie erwähnt hatte, sie sei ein ungeplantes und höchstens halb erwünschtes Kind gewesen. »Meine Mutter«, hatte sie einmal erzählt, »war eben nicht sicher, ob sie mich haben wollte oder nicht. Sie war noch sehr jung, als sie meinen Vater kennen lernte. In einer sternklaren Nacht hätten sich die beiden im Schlosshof auf einer Holzbank unter der wuchtigen Kastanie geküsst und geliebt, bis ich bei ihnen war. Aber dann … meine Mutter hatte gerade die Schauspielschule abgeschlossen. Was also? Ich, das kleine Fischchen in ihrem Bauch, wurde gejagt zwischen Ja und Nein; gespalten zwischen Fort für immer, ausspülen, weg! und Komm, ich will dich, bleib, wachse! Sprengsätze für meine ephemere Existenz. Gehetzt, manchmal traurig schwamm ich den Wänden meiner Gefangenschaft entlang. Rastlos flimmernd schlugen meine zarten Flossen. Unerträglich dieser Zwiespalt. Irgendwann brach die Verbindung zu meiner Mutter ab. Da wurde es still im Aquarium, totenstill und leer. Ich versuchte zu sterben.« Larissa schien sich an eine vorgeburtliche Zeit zu erinnern. Sie hatte mit großen Pausen zwischen den einzelnen Wörtern und einer merkwürdig verwaschenen Stimme gesprochen. Mein Hirn spielte es mir jetzt noch einmal im Zeitraffer vor. »Plötzlich spürte ich draußen«, fuhr sie fort, »helfende Hände wedeln, die mir Mut machen wollten, für später. Durchhalten! riefen sie mir zu. Ich litt also weiter. Wenn ich mich verliebe, glaube ich, nach solchen Händen zu greifen. Aber etwas mache ich dabei wohl falsch. Wozu immer wieder diese unsinnige Hoffnung?« Larissa hatte versonnen und wie in Trance erzählt. Unbewegt. Ohne Gefühle. Ich spürte Zorn in mir aufkommen. Empörung. ›Warum‹, fragte ich mich, ›dieser Leichtsinn der Liebe?‹ »Was fühlen Sie jetzt?«, hatte ich sie gefragt. »Verloren«, sagte sie. ›Schlechte Karten von Geburt an‹, schoss es mir durch den Kopf. ›Na ja‹, dachte ich weiter und zuckte unwillkürlich die Schultern. Unter solchen Umständen entwickelt sich kein starker Überlebenswille. Sollte unsereins etwas daran ändern können? Und die wedelnden Hände? Waren meine dabei? Vertröstungen auf später? Leere Versprechungen? Was gebe ich ihr? Fünfzig Minuten pro Woche!‹ Der Zug glitt nun in einem langen Bogen aus der Stadt. Die Schienen führten gleichmäßig aufwärts. Wir segelten an sechsten und siebten Stockwerken von Bürohäusern vorbei, durchschnitten einen Spielplatz und eine kleine Parkanlage, überflogen eine Straße, dann die Limmat. Später senkte sich die Trasse wieder. Wir wurden zwischen steile Betonwände gezwungen, die bunt besprayt waren. Nach etwa zehn Minuten fuhr der Zug in den Untergrund des Flughafens...