Koller | Fluchtpunkte | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 126 Seiten

Koller Fluchtpunkte

Kurzgeschichten
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-943412-52-9
Verlag: Edition Subkultur
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Kurzgeschichten

E-Book, Deutsch, 126 Seiten

ISBN: 978-3-943412-52-9
Verlag: Edition Subkultur
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Berlin, Paris, Istanbul, Atlantis. Hierhin flüchten sich die Protagonisten aus Mena Kollers Kurzgeschichten. Sie fliehen vor ihrer Vergangenheit oder vor den eigenen Gefühlen. Sie entschwinden in einer anderen Realität oder in ihren Illusionen. Und manchen bleibt nur eine kurze Zeit des befreiten Aufatmens, bevor die Wirklichkeit sie wieder einholt. Mena Koller charakterisiert ihre Figuren und deren Beziehungen untereinander in einer berührenden Tiefe. Durch eine bildhafte Sprache gibt sie den Szenerien, Orten und Begegnungen eine faszinierende Metaebene. Berlin, Paris, Istanbul, Atlantis. Und irgendwo dazwischen verbirgt sich die vage Hoffnung auf ein selbstbestimmtes Leben.

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Berlin
Draußen vor dem Küchenfenster schallt türkische Popmusik durch den Innenhof, der so schmal und hoch ist, dass die bis zum Anschlag hochgedrehten Boxen ein verzerrtes, dröhnendes Inferno auslösen. Das hundertfach verstärkte Echo, das vom schmutzigen Estrich vor den Erdgeschosswohnungen bis zum satellitenschüsselbewehrten fünften Stock mit der gleichen Lautstärke in alle offenen Fenster schlägt, macht es unmöglich, herauszufinden, wo der Besitzer der Anlage wohnt. Paul hat dem Inferno den Rücken zugewandt und steht auf dem Balkon zur Straße raus. Der Lärm verfolgt ihn durch den schmalen Flur seiner winzigen Wohnung bis in sein Schlafzimmer, er hat vergessen, die Tür zu schließen. Viel hätte es ohnehin nicht gebracht. Mit den Unterarmen auf das metallene Balkongeländer gestützt, blinzelt er in die Abendsonne. Das Eisen ist auch durch den Stoff seines Pullovers kalt auf der Haut, es ist November, aber in der letzten Wärme der späten Sonne riecht es noch nach Herbst. Auf dem halbmeterbreiten Betonboden des Balkons sieht man den langgezogenen Schatten einer Birke, die auf dem Grünstreifen zwischen Bürgersteig und Straße wächst und sein Stockwerk überragt. Alle paar Minuten löst sich ein welkes, gelbes Blatt von ihren beinahe kahlen Zweigen und segelt langsam, sich drehend, zu Boden. Die Schatten der Blätter schaukeln horizontal auf dem Boden zu ihm herüber. Unten auf der Straße vor seinem Wohnblock fahren gelegentlich Autos vorbei. Der Feierabendverkehr hat noch nicht eingesetzt. Die Straße ist vierspurig und führt genau gen Westen, eine lange Bresche quer durch den Stadtteil. Von dort, wo er steht, sieht man, wie die Fahrer zusätzlich zur heruntergeklappten Sonnenblende ihre Hand oder ihren Arm heben, weil die schräg einfallenden Strahlen sie so blenden, dass sie beinahe nichts mehr sehen. Paul kennt dieses Gefühl. Dieses Gefühl, in einem Auto zu fahren und von der Sonne geblendet zu werden; das gleißende, warme Licht, das den Kopf füllt und das Blut rauschen lässt, Geräusche und Bewegung verschluckt. Für ihn ist es unauflöslich verbunden mit scharfem Schmerz und unendlicher Geborgenheit, beides gleichzeitig, vermischt bis zur Unkenntlichkeit. Wind kommt auf, plötzlich ist es kalt. Ein ganzer Wirbel trockener, verkrumpelter Blätter rattert leise durch die dünnen Birkenzweige. Paul fühlt, wie die Gänsehaut an seinen rundlichen Armen emporschießt und schüttelt die weiten Pulloverärmel über seine Hände, doch als er sich vorbeugt, um entlang der Ausfallstraße freien Blick nach Westen zu haben, sieht er, dass die Sonne sowieso im Begriff ist, unterzugehen, also flüchtet er in sein Zimmer und schließt die Balkontür. Unschlüssig steht er mitten im Raum und malt mit seinen Socken ein paar kleine Kreise in den Staub auf dem Boden, den man nur im röntgenartigen Licht der Abendsonne sehen kann. Durch die Bewegung flirren die Staubpartikel in der Luft, weiter links noch erleuchtet von der Sonne, rechts verschluckt vom beinah blauen Schatten. Paul schaut auf und betrachtet seinen Schreibtisch. Auf dem Bildschirm seines Laptops ist das Postfach geöffnet, und sein Blick tastet die Liste ungelesener Mails ab. Die Liste wird mit jedem Tag länger, und bald wird sie ins Unsichtbare jenseits des unteren Bildschirmrands weiterkriechen. Das Meiste davon sind Verteileremails der Bibliothek, verschiedener Seminare und Arbeitsgruppen. Er überlegt, wie viele Vorlesungen er inzwischen wohl verpasst hat. Zu viele, denkt er. Mehr, als er insgesamt besucht hat, er ist seit Wochen nicht mehr in der Uni gewesen. Am Anfang dachte er, das Schlimmste wäre dieses Gefühl von nicht mehr gut zu machendem Versäumnis, bis er einen undefinierten Punkt überschritten hatte und auf einmal nichts mehr fühlte, keine Reue, keine Gewissensbisse, keine Scham, und das empfindet Paul als weitaus unheimlicher, weil es ihm völlig unbekannt ist. Er starrt in die Teetasse, die er vor fünf Minuten auf der Pressholzplatte abgestellt hat. Der Teebeutel blutet immer noch langsam, aber stetig ins heiße Wasser aus, in graubraunen, duftenden, sich immer weiter verdunkelnden Wolken. Paul steht für ein paar Momente völlig reglos im Zimmer, und die untergehende Sonne sendet einen letzten rotgelben, sehr schmalen Streifen durch den Raum, gerade breit genug, um Pauls Augen zu füllen mit einem blendenden, warmen Gleißen, und er wagt nicht, sich zu rühren, bis das Licht von seinem Gesicht abgerückt und übergangslos nach draußen in die blaue Kälte verschwunden ist. Dann bewegt er leicht den Kopf, wie um eine Erinnerung abzuschütteln, und schaut wieder auf seinen Laptop. Auf der linken Seite des Bildschirms bietet Google ihm eine Reihe von nützlichen Kommunikationstools an. Sie sind unsichtbar, steht da. Darunter kann man einen Button anklicken, auf dem steht: Sichtbar werden. Er weiß noch, wie es war, als er hier ankam, in Berlin, frühmorgens nach einer Nacht im Zug. Nur einen Rucksack hatte er dabei, der Rest würde später kommen, sein Vater wollte mit dem Umzugswagen hochfahren; es war sehr früh am Morgen und ungewöhnlich kalt für September. Berlin streckte sich seltsam bewegungslos und schwer unter einem goldviolett überhauchten Frosthimmel aus, und das konturlose Licht der Morgensonne flutete über die Dächer und Glasfassaden, als er aus dem Bahnhofsgebäude auf den windigen Vorplatz trat. Während der Zugfahrt, immer wenn er wieder aus seinem schienenrauschenden, zu Kopf steigenden Schlaf aufgefahren war und sich zu seltsam und zu allein gefühlt hatte, um ein Buch zu lesen oder Musik zu hören, dann hatte er aus dem Fenster geblickt und seine Augen waren den halberkannten Schemen nachgesprungen, die hinter der nachtblinden Spiegelung seines Gesichts in der Scheibe irgendwo draußen in der Dunkelheit vorbeigezogen waren. Dabei hatte er an Berlin gedacht, an das, was ihn erwarten würde, und die Stadt war ein unübersichtliches Chaos an Geschichten, Bildern, Liedertexten und Filmausschnitten in seinem Kopf gewesen, die unzähligen Anekdoten von Bekannten und Freunden, die Hymnen, die auf Berlin gesungen, und die Straßen, die in Büchern verewigt worden waren, und über allem dieses unausgesprochene Berlin, Berlin, das schon jedem Ursprung entkommen war, seine eigene Bedeutung abgekapselt hatte von jeder Erklärung; und in jeder Vorstellung nachgeklungen war, die er sich versuchsweise von dieser Stadt gemacht hatte, Berlin, Berlin, die mythische Essenz der Hommagen aller Klassenfahrtteilnehmer, Künstler, Musiker, Schauspieler und Kleinstadtpunks, Berlin, Berlin. Am Ende hatte er beinahe Angst gehabt, sich ein Bild zu machen, und voller Trotz beschlossen, überhaupt nichts zu erwarten. Denn wo sollte sein Platz sein in diesem Moloch an Vorstellungen, er hatte keinerlei Bedürfnis gehabt, die Stadt für sich zu erobern, die ihm in seinen Gedanken abweisend und feindselig erschienen war, er hatte nur ankommen wollen, irgendwo. Nicht mehr. Und dann, als er so früh am Morgen aus der Bahnhofshalle trat, als der Vorplatz vom Schmelz der aufgehenden Sonne überhaucht war, die ihm so tröstlich-vertraut und heimlich in den Augen leuchtete, da dachte er plötzlich nicht mehr an die Geschichten, an all die Erwartungen und seine Angst, er hatte auf einmal die Stimme seiner Großmutter im Ohr, die geseufzt hatte, als er ihr erzählt hatte, wo er bald studieren würde. Ach, Berlin, seufzte sie, da war ich so lang nicht mehr, so lang ... eine junge Frau war ich damals noch, mein Gott, und es war das erste Mal, dass ich in die Oper gegangen bin, jaja, aber das war ‘45, im Herbst, und alles war kaputt, mein Gott ... meine Schuhe hab ich mir ruiniert damals, als wir über die Trümmerfelder zum Admiralspalast gestiegen sind, und überall waren ganze Häuser verschwunden, diese riesigen Löcher in den Straßen, alles war kaputt, das war so schrecklich, mein Junge, und das Aufräumen, das hat lange gedauert, so lang ... manchmal frag ich mich, wie es wohl jetzt aussieht, in Berlin, ich bin seitdem nicht mehr dort gewesen, nicht wahr, seit dem Abend in der Oper ... Daran dachte er, an seine Großmutter, die das erste Mal in die Oper ging, als alles so kaputt war, und er erinnerte sich, wie ihre Stimme geklungen hatte, so schwer und alt, und weit fort, er sah sich auf dem unwirklichen Bahnhofsvorplatz um und schaute auf den Bundestag, auch dieser Anblick unwirklich, wie ein Abziehbild aus der Tagesschau, aber da waren keine Löcher, keine Schlundlöcher im weitausgreifenden Raum um ihn herum, es war grau und leer und hässlich im Schmelz der Morgensonne und irgendwo hier wollte er ankommen. Mehr nicht. Und jetzt ist der Himmel vor dem Fenster graublau und lichtleer, und Paul ist müde; nicht körperlich, er hat wieder einen ganzen Tag untätig in seiner Wohnung verbracht, aber sein Kopf ist schwer und angefüllt mit zu vielen halbgedachten Gedanken. Er lässt die Vorhänge offen, und bald dringt das mattgelbe Schimmern der Straßenlaternen zu ihm herauf, vermischt mit dem stetigen Reifenrauschen der Rushhour. Der Tee ist kalt geworden auf dem Schreibtisch. Er hat es wieder nicht über sich bringen können, die zarten Schlieren der unterschiedlich dunkel getönten Teeschwaden zu zerstören, also hat er die Tasse nicht angerührt. Immer noch mit Socken, Jogginghose und Pullover bekleidet, kriecht Paul in sein ungemachtes Bett und zieht die Decke bis ans Kinn. Aus alter Gewohnheit zählt er die Länge seiner Atemzüge, eins zwei drei vier...



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