E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Komlosy Zeitenwende
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-85371-901-5
Verlag: Promedia
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Corona, Big Data und die kybernetische Zukunft
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-85371-901-5
Verlag: Promedia
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wir befinden uns im Übergang vom industriellen zum kybernetischen Zeitalter. Die Wirtschaftshistorikerin Andrea Komlosy wirft dazu einen Blick zurück, um die Corona-Krise als dynamisierendes Element der Zeitenwende verständlich zu machen. Komlosy ordnet Zyklen der Konjunktur und der globalen Hegemonie sowie Epochen der Menschheitsgeschichte historischen Einschnitten zu – vom Jagen und Sammeln über die Agrarrevolution und die Industriegesellschaft bis zum aktuellen Umbruch, der ins kybernetische Zeitalter führt. Dieser Übergang korrespondiert mit einem neuen Wachstumszyklus der Ökonomie, die durch Digitalisierung, Robotik und Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine geprägt ist. Pharma, Biotech und Nanotechnologie stellen die Leitbranchen des Übergangs dar. Gleichzeitig erleben wir die Erosion der westlichen Vorherrschaft und verstärkte geopolitische Rivalität um die hegemoniale Nachfolge.
Künstliche Intelligenz, Industrie 4.0, New Green Deal, Great Reset und die Messung aller Körperregungen und Gedanken beruhen auf Big Data.
Mit den Corona-Gesetzen wurden Home Office und Online-Handel zur Grundlage des Überlebens. Sie dienten der Verhaltenseinübung in neue Kulturtechniken. Medizinische Überwachung, Bewegungskontrolle und biopolitische Konditionierung verwandeln den Körper in ein Interventionsfeld für Datenextraktion, Optimierung und Kontrolle.
Covid-19 wird an Schrecken verlieren. Die Akzeptanz von Verdatung und Tracking ist jedoch Bestandteil des Alltags geworden. Schließungen und Absonderungen können jederzeit reaktiviert werden, wenn dieser Trend keine antisystemische Gegenbewegung zu entfachen vermag. Eine solche muss Lebensqualität statt Komplexität zum Ziel erheben sowie Selbstbestimmung und demokratische Kontrolle der zukünftigen Entwicklung einfordern.
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EINLEITUNG
Die Turbulenzen, in die die Lockdowns 2020/22 unternehmerische Aktivität, Beschäftigung, Staatsbudgets, Börsen sowie die globalen Güterketten versetzt haben, wurden mehrheitlich als Störung wahrgenommen, als Zwischenfall, den keiner wollen konnte und der den normalen Ablauf des Wirtschaftsgeschehens durcheinanderbrachte. Von vielen wurde Sars-Cov-2 als Bedrohung der Gesundheit erlebt, die die Einschränkung der Kontakte und das Herunterfahren des öffentlichen Lebens rechtfertigte. Manche forderten sogar noch schärfere Maßnahmen dagegen. Andere waren von Anbeginn skeptisch gegenüber einer Panikmache, die Distanzgebote, Lockdowns und Kontaktverfolgung als alternativlos darstellte, obwohl das Infektionsgeschehen die flächendeckenden Einschränkungen für sämtliche Bevölkerungsgruppen nicht rechtfertigte. Manche Maßnahmen-KritikerInnen begriffen die Pandemie als Akt eines großen Planspiels, das die Weichen für einen autoritären Staatskapitalismus bzw. – als andere Seite derselben Medaille – für ein »klimaneutrales« Umbauszenario des Kapitalismus stellte. In diesem Buch wird gegenüber der auf das Ereignis und die handelnden Akteure orientierten Darstellung ein strukturgeschichtlicher Ansatz vorgeschlagen. Weder geriet alles durcheinander noch wird ein großer Plan in die Tat umgesetzt. So außergewöhnlich, bedrohlich oder perspektivisch sich uns das Ereignis darstellt, umso mehr ist es erforderlich, es in langfristige Trends und Zyklen einzuordnen. Die strukturelle Herangehensweise bedeutet keine Geringschätzung von Ereignis und individuellem bzw. kollektivem Handeln. Sie stellt lediglich die Rahmenbedingungen und Gesetzmäßigkeiten in den Vordergrund, die dieses determinieren. Oder wie Karl Marx es in »Der 18. Brumaire des Louis Napoleon« (1852) formulierte: »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen«. Diesen Umständen will ich auf den Grund gehen und sie mit dem Corona-Moment in Verbindung setzen. Corona wurde von vielerlei Seiten als »Zeitenwende« gesehen: Eine Gelegenheit, ein Opportunitätsfenster, eine einmalige Chance, alte Strukturen aufzubrechen und Reformmüdigkeit zu überwinden. PolitikerInnen, TechnikerInnen, VertreterInnen aufstrebender Branchen und ZukunftsforscherInnen überschlugen sich geradezu vor Begeisterung über die Nachfrage- und Wachstumspotenziale, die Corona eröffnete. Aber auch wachstumskritische Kreise applaudierten den Lockdowns, weil sie Perspektiven für einen ökosozialen Umbau eröffneten. Als Begründung für die Zeitenwende wurde im Grunde nicht der Virus, sondern die Folgen des Corona-Managements herangezogen – unabhängig davon, ob diese befürwortet oder abgelehnt wurden. Distanzgebote wirken als Schubkraft für digitale Kommunikation, Online-Handel und Home Office. Das Herunterfahren der wirtschaftlichen Aktivität durch verordnete Schließungen begünstigt den Umbau der Wirtschaft auf neue, aufstrebende Geschäftsfelder (»international«, »digital«, »smart«, »grün«). Der öffentliche Geldhahn federt – vorübergehend – soziale Härten ab und unterstützt langfristig die Restrukturierung der Unternehmenslandschaft nach der Corona-Krise. Dies läutete das Ende des Neoliberalismus zugunsten einer symbiotischen Beziehung von Staat und Kapital ein. Das Tracking des Gesundheitszustandes und die Nachverfolgung der persönlichen Bewegungsmuster dienen als Schubkraft für digitale Überwachung in ebendieser Verbindung staatlicher Interessen (Big Brother) und ökonomischer Verwertung (Big Data und Big Profit). Damit lässt sich das Corona-Regime in einen größeren, längerfristigen Transformationsprozess einordnen, in dem der Virus vor allem als Triebkraft und Katalysator wirkt. Die gesundheitliche Dimension des Virus tritt in den Hintergrund. Corona beschleunigt einen bereits in Gang befindlichen Transformationsprozess, der in diesem Buch als Kybernetische Revolution beschrieben wird. Kurz gefasst bedeutet Kybernetische Revolution den Übergang von standardisierter industrieller Massenproduktion und Massenkonsum hin zu Waren, die just-in-time erzeugt und spezifisch auf einzelne Zielgruppen bzw. Zielpersonen zugeschneidert werden. Diese Zielpersonen bzw. wir alle geben Bedürfnisse und Wünsche über ihr digitales Verhalten bei Internet-Suche, Kommunikation und Spiel preis (Big Data). Im Gegenzug verheißt man ihnen bzw. uns Selbstoptimierung bis hin zur Vervollkommnung des Menschen als unsterbliches Wesen menschlich-künstlicher Intelligenz. Dabei kommt Informations- und Kommunikationstechnologie, Pharma, Medizin- sowie Biotechnik eine Pionierrolle beim Übergang in die kybernetische Zukunft zu. Dieser Übergang wird als »Zeitenwende« menschheitsgeschichtlicher Dimension begriffen. Er regt den Vergleich mit früheren Wendezeiten in der menschlichen Evolution an. Der vorliegende Band »Zeitenwende. Corona, Big Data und die kybernetische Zukunft« besteht aus zwei Abschnitten. Abschnitt 1 behandelt langfristige Entwicklungen der Konjunktur, der Hegemonie und der Evolution von Produktionsprinzipien – gefasst als »lange Wellen« – aus drei verschiedenen, wenn auch miteinander verbundenen Perspektiven: Lange Wellen der Konjunktur oder: Konjunkturzyklen Lange Wellen der Geopolitik oder: Hegemonialzyklen Lange Wellen der menschheitsgeschichtlichen Evolution oder: Evolutionszyklen Konjunkturzyklen sind das dynamische Element im Kapitalismus, sie bestimmen mit ihren charakteristischen Leitsektoren und Leitechnologien seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert die Abfolge von Aufschwung und Abschwung. Sie betten sich in Hegemonialzyklen ein, die durch die Hegemonie einer politischen Macht gekennzeichnet sind: Auf- und Abschwung der Mächte führen zu geopolitischer Rivalität und hegemonialem Wandel. Evolutionszyklen folgen demgegenüber einem viel längerfristigen Rhythmus: bisher durchlief die Menschheit das JägerInnen- und SammlerInnentum, erlebte den Übergang zur staatsbildenden Agrar- und Handwerksgesellschaft sowie von der Agrar- zur Industriegesellschaft in ihren verschiedenen sozioökonomischen und soziopolitischen Ausprägungen. Heute erleben wir den Übergang vom industriellen zum kybernetischen Prinzip, eine Transformation, die sämtliche Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens erneut durchrüttelt. Abschnitt 2 geht der Frage nach, inwiefern das Auftauchen von Sars-Cov-2 und die damit einhergehenden Maßnahmen der Distanzierung, Isolierung und Nachverfolgung die zyklische Erneuerung der Konjunktur, den hegemonialen Wandel und die Herausbildung einer kybernetischen Kultur beschleunigt haben. Es ordnet den aktuellen Corona-Moment in den langfristigen historischen Prozess ein. Zentrale Bereiche der Beschleunigung im kybernetischen Kapitalismus sind der sektorale Umbau auf die digitalen Zukunftsbranchen Medizin, Bio- und Nanotechnologie in Verbindung mit Kommunikations- und Informationstechnologie, Robotik und kognitiver Optimierung. Die Folgen betreffen die Art zu arbeiten, zu konsumieren, zu kommunizieren, sich zu bewegen und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Durch die Distanzregeln haben digitale »Lösungen« einen ungeahnten Durchbruch erlebt, der selbst ZweiflerInnen in seinen Bann zog. Wir geben mit jedem Click Verhalten, Erfahrung und Körper als Geschäftsfeld der (Selbst-)Optimierung und als Datenlieferant preis und bieten der kybernetischen Zukunft die benötigten digitalen Einfallstore. Einzelne Kapitel widmen sich dem Cyberoptimismus und der Hoffnung auf die technologische Machbarkeit sowohl in ihren autoritären als auch in ihren emanzipatorischen Ausprägungen. Die Frage der Unvermeidlichkeit bzw. der Gestaltbarkeit der zyklischen Erneuerung und der Abfolge der evolutionären Entwicklung wird zwischen den Zeilen immer wieder gestellt, aber letztlich der Einschätzung der Lesenden überlassen. Vielmehr sollen die Akteure und Interessen benannt werden, für die Wachstum, Beschleunigung und Neustart in eine »schöne neue Welt« entscheidende Voraussetzungen darstellen. Die beiden Abschnitte unterscheiden sich in ihrer Machart. Abschnitt 1 »Lange Wellen« stellt ein wissenschaftliches Einordnungskonzept für den historischen Wandel vor und diskutiert es im Lichte von Forschungskontroversen. Es basiert vor allem auf Sekundärliteratur. Wer die Geschichte lieber überspringen will, kann direkt in Abschnitt 2 »Der Corona-Moment im historischen Prozess« einsteigen. Hier werden die verschiedenen Bereiche zusammengeführt, die von der Seuche, der Seuchenbekämpfung sowie der Gelegenheit bestimmt wurden, im Angesicht der Pandemie neue Verhaltens-, Kommunikations- und Konsumweisen einzuführen. Die Auseinandersetzung mit den »langen Wellen« greift zentrale Debatten über die Zukunft des Kapitalismus zwischen Kollaps und Erneuerungsfähigkeit, über geopolitische Kräfteverhältnisse und Perspektiven der Menschheitsentwicklung auf. Wenn das kapitalistische Weltsystem noch bis vor Kurzem an seinen Krisen und Widersprüchen zu zerbrechen schien, verpasst ihm der Corona-Moment eine Möglichkeit zum Wiederaufbau. Der Neoliberalismus hat einem Corona-Keynesianismus Platz gemacht, ohne dabei soziale und regionale Ungleichheit sowie den Druck auf Löhne und Sozialleistungen aufzugeben. Dabei verschieben sich die geopolitischen Kräfteverhältnisse weg von den westlichen Industriestaaten...