Krämer Tod im Lokschuppen
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-8271-9642-2
Verlag: CW Niemeyer
Format: PDF
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Ein Westerwald-Krimi
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Reihe: Westerwald-Krimi
ISBN: 978-3-8271-9642-2
Verlag: CW Niemeyer
Format: PDF
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Micha Krämer wurde 1970 in Kausen im Westerwald geboren. 1989 zog es ihn nach Betzdorf, wo er es ganze 15 Jahre aushielt, bevor das Heimweh ihn zurück nach Kausen führte. 2009 veröffentlichte der gelernte Elektroniker kurz nacheinander die beiden Kinderbücher Willi und das Grab des Drachentöters und Willi und das verborgene Volk. Der regionale Erfolg der beiden Bücher, die er eigentlich nur für seine eigenen beiden Kinder schrieb, war überwältigend und kam für ihn selbst total überraschend. Einmal Blut geleckt musste im Jahre 2010 nun ein richtiges Buch her. Im Juni erschien sein erster Roman für Erwachsene und zum Ende des Jahres 2010 sein erster Kriminalroman, der die Geschichte der jungen Kommissarin Nina Moretti erzählt. Neben seiner Familie, dem Beruf und dem Schreiben gehört die Musik zu einer seiner großen Leidenschaften. Mehr über Micha Krämer auf www.micha-kraemer.de
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Kapitel 2
Montag, 6. Dezember 2010, 8:55 Uhr Betzdorf / Friedrichstraße
„Schicken Wagen haben Sie“, meinte Nina, als sie wenige Minuten später, in Thiels schwarzem 3er-BMW sitzend, vom Parkplatz hinter dem Polizeirevier fuhren und sich in den fließenden Verkehr einordneten.
„Sie aber auch“, antwortete der Oberkommissar und grinste nun breit.
Nina wäre am liebsten vor Scham in dem Ledersitz versunken. So ein verfluchter Mist. Warum nur musste sie denn heute Morgen ausgerechnet den Wagen ihres neuen Kollegen so dreist überholen?
Sie kramte ihr Handy aus der Jackentasche und sah auf das Display. Die Uhr des Telefons zeigte bereits kurz vor neun. Keine neuen Nachrichten, keine Anrufe in Abwesenheit. Sie schaltete das Telefon von stumm auf Vibration, aktivierte die Tastensperre und steckte es zurück in ihre Jacke.
„Sie stammen von hier, Frau Moretti?“, fragte Thiel nun vollkommen ernst.
„Ja.“
Nina nickte.
„Bin eine gebürtige Betzdorferin.“
Thiel sah starr nach vorne auf den Verkehr.
„Dann kennen Sie das alte Bahngelände und den Lokschuppen?“
Wieder nickte sie. Welcher Jugendliche aus diesem Kaff kannte das verlassene Gelände nicht? Der Lokschuppen und das angrenzende Bahnbetriebswerk waren einst die Seele der aufstrebenden Kleinstadt gewesen. Betzdorf und seine Bewohner hatten fast ein Jahrhundert von der Eisen bahn und dem Aufschwung, der mit ihr kam, gelebt. Bevor die Eisenbahn durch das Siegtal gebaut worden war, hatte es hier nur einige kleinere Bauernhöfe gegeben. Doch auf dem Zenit, in den 1980er-Jahren, war das Aus gekommen. Die Bahn gab den Standort Betzdorf endgültig auf. Zwar gab es noch einen Bahnhof, an dem die Züge hielten, um dann in Richtung Köln oder Siegen weiterzufahren. Aber Lokomotiven wurden hier schon lange nicht mehr repariert. Die Werkstätten und Hallen wurden geräumt und sich selbst überlassen. Nach und nach holte sich die Natur nun alles wieder. Bäume wuchsen aus Mauernischen, Wände stürzten ein und wurden sogleich von Gestrüpp und Dornen überwuchert.
In ihrer Jugend war Nina oft mit Freunden am Lokschuppen gewesen, nach der Schule oder am Wochenende. Einsame, vergessene Orte, wie Fabrikhallen oder eben dieses alte Bahnbetriebswerk, übten auf Kinder und Jugendliche eine magische Anziehungskraft aus. Dort hatte sie ihre erste Zigarette geraucht und das erste Mal Alkohol in größeren Mengen getrunken. Mal war es teurer Whisky gewesen, den Lara aus der Hausbar ihres Vaters geklaut hatte. Mal war es billiger Rotwein oder Sekt aus irgendeiner anderen illegalen Quelle gewesen. Getrunken und geraucht hatten sie das, was gerade da war. Besoffen oder beschwipst, mit der Kippe in der Hand, fühlte man sich doch auch gleich ein Stück erwachsener.
Heute wusste sie, wie dämlich das damals gewesen war. Und auch viele der Jugendlichen, die heute, zwanzig Jahre nach ihr, an solchen Plätzen abhingen, würden irgendwann begreifen, wie dumm ihr Verhalten gewesen war. Dass Alkohol und Zigaretten einen auch nicht erwachsener machten. Andere wiederum, eine Minderheit, würden es nie verstehen. Sie würden ein Leben lang so weitermachen. Sich ihr Hirn wegsaufen, vielleicht irgendwann auf Drogen umsteigen, auf der Straße landen. Schlägereien, Diebstähle, sich prostituieren, das volle Programm.
In den Jahren als Polizistin in Köln war sie über viele dieser Existenzen gestolpert. Menschen, die die schwerste Phase im Leben, die Pubertät, einfach nicht schadlos überwunden hatten.
Besonders schmerzlich war es für Nina gewesen, vor einigen Tagen einen ihrer Freunde aus eben diesen alten Tagen vor einem Supermarkt in der Innenstadt zu treffen. Wie vor zwanzig Jahren hatte er dort mit Halbwüchsigen abgehangen. Sein Gesicht war verlebt und grau gewesen. In der Hand eine Flasche billigen Wodka aus eben diesem Supermarkt, in der anderen Hand eine selbst gedrehte Zigarette. Und obwohl er erst Anfang bis Mitte dreißig war, sah er aus, als wäre er bereits im Rentenalter. Irgendwann einmal hatte sie bei einem Klassentreffen gehört, er sei wieder einmal im Knast. Umso verwunderter war sie gewesen, ihn hier zu treffen, mit einer Schar Jugendlicher, die ihn wohl als eine Art Helden verehrten, einen Rebellen, der es all den Spießern in dieser Welt gezeigt hatte. Ein wahrlich schlechtes Vorbild. Irgendwann würden sie wie der zu einer Leiche gerufen werden, genau wie heute, und dann …?
Der Wagen stoppte am Ende der Moltkestraße hinter zwei Streifenwagen, die rechts an der Abbiegung zum Bahngelände standen. An einem der Wagen lehnte ein Uniformierter und telefonierte. Nina und Thiel stiegen aus und gingen auf den Beamten zu, der gerade sein Telefon in der Jackentasche verschwinden ließ.
„Morgen Jürgen“, meinte Thiel und schüttelte die Hand des Uniformierten, den sie auf um die vierzig schätzte.
„Ach, Morgen Hans Peter“, grüßte der zurück und sah mit fragendem Blick zu Nina.
„Darf ich vorstellen?“, ergriff Thiel das Wort. „Unsere neue Kollegin, Frau Moretti.“
Der Polizist lächelte sie an und reichte ihr ebenfalls zur Begrüßung die Hand.
„Sehr angenehm, Frau Moretti, Polizeihauptmeister Jürgen Wacker. Habe schon viel von Ihnen gehört.“
Nina staunte. Sie war noch nicht einmal eine Stunde im Dienst und der Kollege von der Schutzpolizei hatte bereits ‚viel von ihr gehört‘.
„Ich hoffe nur Gutes“, antwortete sie freundlich.
„Selbstverständlich, nur Gutes.“
Nina lächelte. Der Mann hatte soeben den Sieben-Sekunden-Sympathietest bestanden.
„Okay, Jürgen, was haben wir?“, unterbrach Thiel das Geplänkel.
Der Uniformierte räusperte sich.
„Also, wir haben einen unbekannten Toten im hinteren Bereich des Lokschuppens. Alter, Geschlecht, Hautfarbe, Todesursache und so weiter, alles unbekannt. Wurde heute Morgen gegen kurz vor acht von einem Spaziergänger gefunden.“
„Warum alles unbekannt?“, hakte Nina nach. „Sie sagten doch gerade: einen Toten. Das klingt nach einem Mann.“
Der Beamte nickte, während er Thiel folgte, der bereits die ersten Meter auf der schmalen, zugeschneiten Straße in Richtung des Bahngeländes ging. Sie folgte den beiden und ärgerte sich in diesem Moment maßlos über sich selbst, dass sie am Morgen das Haus in Halbschuhen, genauer gesagt, mit einem Paar Freizeitturnschuhen der Marke mit den drei Streifen verlassen hatte.
Sie spürte bereits, wie der knöcheltiefe Schnee sich den Weg in das Innere ihrer Schuhe suchte.
„Der oder die Tote trägt einen Herrenanzug“, antwortete der Beamte stockend. „Aber ich denke, Sie sollten sich lieber selbst ein Bild machen.“
Sie stapften weiter durch den Schnee. Bis zu dem alten Gebäude waren es gut und gern dreihundert Meter. Die Straße war nicht geräumt. Wozu auch? Hierher verirrten sich nur sehr selten Menschen.
Nina besah sich die Fußspuren vor ihnen in dem frischen, fast unberührten Pulverschnee. Vor Kurzem erst mussten hier vier Personen entlanggegangen sein. Alle in die gleiche Richtung nach unten zum Lokschuppen. In der letzten Nacht hatte es nur wenig Neuschnee gegeben. Das meiste der weißen Pracht war in der Nacht zum Sonntag sowie über den ganzen Sonntag verteilt gefallen, das wusste sie. Heute war Montag.
„Wie viele Personen sind unten?“, fragte sie den Polizeihauptmeister.
„Drei Kollegen und der Spaziergänger. Als wir eben ankamen, gab es nur die Spuren des Spaziergängers.“
Nina sah Wacker an und lächelte.
„Danke, das wäre meine nächste Frage gewesen.“
Nina wusste, dass es nur diesen einen befahrbaren Zugang zum Lokschuppen gab. Außer über diesen Weg konnte man nur noch über die Gleise dorthin gelangen.
„Verfluchte Scheiße“, schimpfte Thiel und blieb vor einer Schranke stehen.
Die Fußspuren führten durch eine Schneewehe rechts an dieser vorbei.
Erst jetzt bemerkte Nina, dass auch ihr neuer Kollege sich bei der Wahl des Schuhwerkes am Morgen ein wenig vergriffen hatte. Wie sie trug auch Thiel nur Halbschuhe, die bei jedem Schritt im Schnee verschwanden.
„Jürgen, geh zurück zum Wagen und ruf’ die Jungs vom städtischen Bauhof an. Die sollen sofort mit schwerem Gerät kommen und die verfluchte Zufahrt räumen. Schließlich müssen wir unseren Kunden da unten ja irgendwie von hier fortbringen.“ Wacker drehte sich auf dem Absatz um und ging schnellen Schrittes, soweit dies der Schnee zuließ, zurück.
„Und die sollen den Schlüssel für diese beschissene Schranke mitbringen“, brüllte Thiel ihm noch hinterher, bevor er durch die Schneewehe neben der Schranke stapfte.
Je näher sie dem verfallenen Gebäude kamen, umso mehr wuchs die Anspannung in Nina. Sie kannte das Gefühl. Es war immer das Gleiche. Seit ihrem ersten Fall kam es immer und immer wieder. Dort unten, irgendwo zwischen den halb verfallenen Mauern, erwartete sie ein toter Mensch.
Früher hatte sie noch geglaubt, dass man sich irgendwann an den Tod gewöhnte. Schließlich war er der ständige Begleiter eines Polizisten im Kriminaldienst bei der Mordkommission. In den ersten Monaten in Köln hatte sie noch die Leichen gezählt, zu denen sie und die Kollegen gerufen wurden. Doch irgendwann hatte sie damit abgeschlossen und aufgehört zu zählen. So ließ es sich auch besser vergessen. Und vergessen musste man die Toten. Man durfte sie nicht ständig mit sich herumschleppen. Sie hatte sich angewöhnt, sie als eine Sache zu betrachten. Wie hatte Thiel eben so treffend gesagt: „Unseren Kunden da unten“. Auch eine Art der Sichtweise. Leider funktionierte es nicht immer. Einige ihrer „Kunden“ verfolgten sie nach Hause und sogar nachts riefen...




