E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Kramer 17 Erkenntnisse über Leander Blum
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7022-4242-8
Verlag: Tyrolia
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Über Street-Art, die erste Liebe und eine ganz besondere Freundschaft
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-7022-4242-8
Verlag: Tyrolia
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zwei Jungs, eine tiefe Freundschaft, eine gemeinsame Liebe zum Sprayen: Als "BLUX" sind sie in der Szene bekannt, wobei niemand genau weiß, wer sich hinter diesem Tag verbirgt.
Daneben ein Mädchen und ein neuer Mitschüler. Er: unnahbar und genau deswegen interessant. Sie: lässt nicht locker und kommt nach und nach dem Grund seiner Verschlossenheit auf die Spur. Siebzehn Erkenntnisse führen zu Leander Blums trauriger wie intensiver Vergangenheit – und plötzlich wird vieles klar …
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
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Gemälde: döner
Mischtechnik auf Karton. 50 × 50 cm Auf geradezu magische Weise werden die banalen Dinge greifbar. Man möchte zubeißen. (Hiltrud Teufel-Bruckbauer, Kunstsammlerin) Wir schaukelten eine lange Weile, sprachen nichts und genossen, jeder für sich, die bittersüßen Nachwirkungen unseres Abenteuers. Die Nacht lag noch vor uns. Keiner erwartete uns – Jonas’ Mutter dachte, wir schliefen bei mir zu Hause, meine Eltern dachten, wir schliefen bei Jonas. Sie vertrauten uns. Wir vertrauten ihnen. Der Mond ging über den Dächern auf und schnitt die Silhouetten der Dächer, Kamine und Satellitenschüsseln aus, fehlten nur noch die buckelige Katze und die Hexe auf einem Besen. „Ich hab tierischen Hunger“, sagte Jonas, stand ohne Vorwarnung auf und ließ mich zu Boden plumpsen. Ich hätte es wissen müssen – diese Gemeinheit hatte er schon als Kind liebend gern praktiziert. Ich rieb mir den Hintern. „Zu Arsim?“ „Unbedingt“, sagte Jonas, legte mir einen Arm um den Hals und wir zogen los. Auf dem Weg zu unserem Lieblingsdöner verflüchtigte sich das Adrenalin und hinterließ einen schalen Nachgeschmack. Wir vermissten unsere Rucksäcke, trauten uns aber nicht, sie zu suchen – vielleicht hatte sie mein Vater inzwischen gefunden und lauerte hinterm Gebüsch auf uns. „Wir waren so nah dran, so verdammt nah“, sagte Jonas niedergeschlagen, nahm seinen Arm von meiner Schulter und vergrub seine Hände fröstelnd in den Taschen. „Verdammt nah dran“, sagte ich, während sich die Melodie eines blöden Songs in meinen Kopf schlich. „Zug ist scheiße“, stellte Jonas fest. „Wir brauchen eine bessere Location.“ „Eine legale Wand?“ „Also echt!“, empörte sich Jonas. „Nur Toys suchen sich legale Wände, billige Mädchenmaler wie die MÖRVs. Nein, nein, ich denke da an was Großes … an was ganz, ganz Großes … an was Verstecktes … an eine Wand …“ Er geriet ins Schwärmen, seine Stimme wurde bedeutungsschwer und er zeichnete ausladende Gesten in die Luft; immer wenn er das machte, kam er mir vor wie so ein Shakespeare-Schauspieler im Burgtheater, King Lear oder so was. „Ich denke an eine große Wand … an eine große, mächtige Wand … an eine Wand, an der wir Stunden, vielleicht sogar Tage verweilen können … an der wir alles aus uns rausholen können und keine Angst haben müssen, jeden Augenblick deinen Vater oder sonst einen Jäger im Genick zu haben. Eine Wand, bei der wir keine Angst haben müssen, dass sie durch unsere Farben gesprengt wird, weil wir die Poren luftdicht verschließen.“ Ich verdrehte die Augen. Manchmal ging mir sein Drang, alles korrekt machen zu wollen und für alles Verantwortung zu übernehmen, echt auf die Nerven. „Und wo genau soll die Wand sein?“ Er hielt mit dem Gefuchtel inne. „Ich habe absolut keine Ahnung!“ Seine Arme sackten nach unten. „Hast du Geld dabei?“ Natürlich hatte ich kein Geld dabei, ging alles für Kannen drauf und Jonas wusste das. Unseren Eltern waren wir ein halbes Jahr Taschengeld schuldig; sie fragten sich ohnehin schon längst, was wir mit dem Geld machten. „Essen kaufen“, sagte Jonas regelmäßig. „Wir haben immer wahnsinnig viel Hunger.“ Seine Mutter glaubte ihm kein Wort; sie wusste, dass er gratis von meiner Mum verköstigt wurde, mit mehr, als er essen konnte. „Ich dachte, du hättest noch was“, sagte ich pro forma. Jonas schüttelte den Kopf. „Was ist mit deiner Großmutter?“ „Alle Sonderzahlungen sind bis auf Weiteres eingestellt“, sagte er. Ich seufzte. „Und wie wär’s, wenn du einfach mal dein Zimmer aufräumen würdest?“ „Sonst noch alles in Ordnung bei dir?“ „Du wickelst doch sonst auch alle um den Finger. Räum dein Zimmer auf und sie füttert dich mit Extramünzen wie einen Goldesel.“ „Ich lass mich doch nicht bestechen“, sagte er beleidigt. In dem Punkt war er stur. Es glich einem Wunder, dass bei Arsim nichts los war. Normalerweise standen sie Schlange bis zur Straße. Wir warfen einen Blick durch die offene Tür. Oh heiliger Döner. Ein verteufelt guter Geruch ließ meinen Magen zappeln wie einen Fisch an der Angel. Arsim schabte am Fleischspieß, entdeckte uns und winkte uns herein. „Ey, du beide! Zweimal die volle Programm zu die speziale Preis? Eine ohne diese Zwiebeln?“ „Arsim“, sagte Jonas. „Mit uns kannst du normal reden.“ „Sorry“, sagte Arsim. Arsim war Kosovo-Albaner und studierte Quantenphysik oder irgend so etwas Wahnsinniges. Sein Studium finanzierte er sich mit verschiedenen Jobs. Den in der Döner-Bude hatte er nur bekommen, weil er dem Besitzer einen unausgereiften Türken-Slang um die Ohren geschmiert hatte. Einmal hatten wir ihn am Telefon belauscht, wie er jemandem in astreinem Deutsch bei einem Computerproblem geholfen hatte. „Also, was ist nun? Einmal mit, einmal ohne Zwiebel?“ Wir machten lange Gesichter. „Wieder mal pleite, was!“ Mein Magen ballte die Fäuste. „Du kriegst die Kohle zurück, ehrlich“, log ich in der Not. Verdammt, ich brauchte echt was zu beißen. „Kohle? Wo willst du die denn plötzlich hernehmen? Ihr seid doch chronisch pleite, und bis ihr ein geregeltes Einkommen habt, vergehen locker noch einmal zehn Jahre.“ „Wieso zehn?“, fragte ich. „In einem Jahr sind wir fertig mit der Schule.“ „Ich wette, ihr kommt auf die wenig lukrative Idee, nach dem Abi noch zu studieren.“ „Wenn’s so weit ist, such ich mir einen Job in ’ner Dönerbude, oder ich geh ins Fernsehen … Frag doch den Inder“, äffte ich den Fernsehspot eines Handybetreibers nach. Arsim brach in wieherndes Gelächter aus. Der Fleischgeruch machte mich fertig. „Was ist mit dir?“, fragte er an Jonas gewandt. Der zuckte nur mit den Achseln, fuhr sich durch die Haare und machte etwas mit seinem Gesicht, das er schon als Kleinkind mit Perfektion beherrscht hatte: Es war, als kramte er die pure Unschuld aus irgendwelchen Vorratskammern. Dann bekam er dieses verlegene Lächeln und sanfte Rehaugen, mit denen er alle hypnotisierte. Plötzlich tat er einem irgendwie leid und man glaubte, ihn ganz fest in die Arme nehmen zu müssen. Jonas, der Engel. Ich beneidete ihn um diese Gabe. Er konnte jeden Scheiß machen und egal, wie hirnrissig er sich dabei aufführte, keiner war ihm länger als drei Sekunden böse. Bei ihm galt die Unschuldsvermutung. Ich, im Gegensatz dazu, war grundsätzlich immer an allem schuld – prophylaktisch sozusagen, man traute mir nicht über den Weg, wie allen dunkelhäutigen Schurken dieser Welt. Mein einziges Glück war, dass ich Jonas zum Freund hatte. Wenn einer die anderen von meiner Unschuld überzeugen konnte, dann er. Ich seufzte. Aus heiterem Himmel fing meine Hand zu zittern an. Vielleicht fehlte mir der Schlaf. Ich steckte meine Hand in die Hosentasche und versuchte das Zittern zu ignorieren, während sich Arsim von seinem Charme verführen ließ. „Jonas, weißt du was, ich schenk dir einen Döner.“ „Und mir?“, fragte ich beleidigt. „Du zahlst … Migrantenpech.“ Er grinste so breit wie ein Wassermelonenschnitz. Arsch. Genervt lehnte ich mich an einen Stehtisch und hatte alle Mühe, das Zittern meiner Hand und die damit einhergehende Angst zu ignorieren. Vielleicht war es auch nur die Sorge um das fehlende Geld. So konnte das nicht weitergehen. Aber als ich die Möglichkeiten durchdachte, verging mir der Hunger – wir hatten keine Zeit, um eine Arbeit anzunehmen, Prospekte oder Zeitungen austragen oder so etwas; wir mussten malen, ohne das Malen bekamen wir Entzugserscheinungen, gingen drauf wie Asthmatiker, die keinen Spray bekamen. Jonas ließ die Ketchup-Flasche laut auf und zu schnappen. „Hör auf“, sagte ich und schlug meine kribbelnde Hand gegen die Tischkante, um sie aufzuwecken. „Nervös?“, fragte Jonas. „Hungrig … ey, I schwör Alta!“ Jonas stellte die Ketchupflasche auf den Tisch. „Steht dir nicht.“ „Was?“ „Dönersprache.“ „Ich mach dich gleich Messer, du.“ Jonas musste lachen. „Das ist echt so was von scheißalt.“ „Funktioniert aber immer noch.“ Arsim stellte uns ein Tablett mit zwei Jahrhundert-Dönern hin. Aus dem Fladenbrot quollen saftiges Fleisch, Salat, Gurken, Weißund Rotkohl und Joghurtsoße, gewürzt mit Knoblauch, Kreuzkümmel und Koriander. Ich war...