E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Kramer Ida Butterblum und die Tür nach Anderswo
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-401-81049-2
Verlag: Arena Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein warmherziges, zeitloses Kinderbuch ab 9 Jahren über Geheimnisse und darüber, was ein Zuhause bedeutet
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-401-81049-2
Verlag: Arena Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein zeitlos schönes Buch für alle ab 9, die Geheimnisse lieben! Ida liebt Geheimnisse jeder Art. Niemand kennt die alte Holzmanufaktur besser als sie, wo sie mit ihrem Papa, Nicht-wirklich-Tanten und Eigentlich-keinen-Großonkeln wohnt. Dabei ist natürlich ihre zahme Krähe Holly stets an ihrer Seite. Als eines Tages ein rätselhafter Schlüssel vom uralten Walnussbaum im Hof fällt, probiert ihn Ida in jedem Schlüsselloch aus, bis sie plötzlich vor einer geheimen Tür steht. Klopfklopf!, ertönt es von der anderen Seite und ein Junge mit blauen Haaren stolpert in Idas Leben. Sein Name ist Storm und ganz offensichtlich erzählt er nicht die Wahrheit darüber, wo er herkommt. Doch während Ida versucht, Storms Geheimnis zu ergründen, ahnt sie nicht, dass sie eigentlich ihrem eigenen Geheimnis auf der Spur ist. Herrlich bildreich und fantasievoll erzählt von der vielfach ausgezeichneten österreichischen Schriftstellerin Irmgard Kramer. Für alle ab 9 Jahren zum Selberlesen und Zusammenlesen! Mit ganzseitigen, farbigen Illustrationen von Florentine Prechtel. Ebenfalls von Irmgard Kramer im Arena Verlag erschienen: Wisperwasser. Es ist unser Geheimnis
Irmgard Kramer, 1969 geboren, arbeitete zunächst als Lehrerin, bevor sie sich als Schriftstellerin selbstständig machte. Durch ihre Kinderbücher ist sie einem breiten Lesepublikum bekannt und verzaubert kleine und große Leser*innen mit ihren abenteuerlichen und humorvollen Büchern. Irmgard Kramer lebt in Wien und im Bregenzerwald und hat den Kopf stets voller kunterbunter Geschichten. Foto: © Darko Todorovic
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Kapitel 1
Die Krähe und der Junge
Eine Krähe flog frühmorgens über die Stadt. Die Krähe hieß Holly. Der Sommerwind griff unter ihr Gefieder und trug sie fort aus ihrem Nussbaum, in dem sie wohnte. Holly flog weit. Sie flog über die Zuckerfabrik, über die Kirchtürme der Altstadt und den Friedhof. Sie flog über die Hochhäuser der Neustadt bis zu den Hügeln, wo reiche Leute mit verwöhnten Katzen in großen Villen lebten. In der Platanen-Allee, vor einer besonders prachtvollen Villa, saßen vier Jugendliche auf einer Bank und schauten auf ihre Handys. Holly flog über ihre Köpfe und landete auf einem schmiedeeisernen Tor. Die Überwachungskameras zu beiden Seiten des Tors bewegten sich wie Augen in ihre Richtung. Holly putzte sich das Gefieder. Da drangen plötzlich laute Stimmen aus der Villa. Holly flog auf einen Fenstersims und äugte hinein. Eine Stimme gehörte einem Jungen. Die andere Stimme gehörte einem Mann. Die Sonne spiegelte sich im Fenster. Holly trippelte auf dem Sims hin und her. Unter einem Kronleuchter standen sich der Junge und der Mann an den Enden eines Tisches feindselig gegenüber. Der Junge hatte blaues Haar. Der Mann trug einen Goldring am Finger. Sie schrien sich an. Vor allem der Junge schrie. Die Zimmertür öffnete sich. Zwei andere Männer kamen herein. Ihre Muskeln passten kaum unter ihre Anzüge. Jeder trug einen Knopf im Ohr. Breitbeinig stellten sie sich links und rechts der Tür auf. Der Junge rannte auf sie zu und wollte zwischen ihnen hindurch. Hände griffen nach ihm. Ellenbogen wurden ausgefahren. Es gab ein großes Durcheinander. Der Junge ging in die Knie und presste sich beide Handflächen auf ein Auge. Herr Goldring beugte sich über ihn, um sich das Auge anzusehen. Der Junge stieß ihn weg, sprang auf und sauste um den Tisch. Einmal. Zweimal. Alle rannten ihm hinterher. Beim dritten Mal schlug der Junge einen Haken und sprintete durch die Tür, die Muskelmänner dicht auf den Fersen. Herr Goldring blieb, wo er war, und brüllte ihnen etwas nach. Holly flatterte in den Affenschwanzbaum des parkähnlichen Gartens. Von dort hatte sie die beste Sicht auf die Haustür, die in diesem Moment aufflog. Der Junge stürmte heraus. Er hatte eine Verletzung rund um ein Auge. Während er die Marmortreppe hinunterrannte, setzte er eine dunkle Sonnenbrille auf, zog eine Wollmütze auf den Kopf und ließ sein blaues Haar darunter verschwinden. Am Ende der Treppe, wo ein Löwe aus Stein stand, bog er scharf ums Hauseck. Er sprang über ein Rosenbeet, ehe er im Sprint am Pool vorbei den Garten mit den Baumriesen durchquerte. Herr Goldring beobachtete alles vom Fenster aus. Die Muskelmänner stürmten dem Jungen hinterher. Gleichzeitig kam Leben in die Jugendlichen vor dem Tor. Sie standen von der Bank auf und rannten die Allee hinab, am Zaun entlang, außen um den Garten herum und filmten die Verfolgungsjagd. Der Junge mit den blauen Haaren zwängte sich durch eine Hecke, kletterte über die Metallspitzen des Zauns. Überwachungskameras surrten aus allen Richtungen. Der Junge landete auf dem Asphalt und spurtete weiter. Holly flatterte auf und glitt auf leisen Flügeln hinterher. Nach wenigen Metern sprang der Junge über einen heruntergefallenen Ast in eine Regenlache, die nach dem Gewitter von letzter Nacht übrig geblieben war. Das Wasser spritzte über seine Knie bis zu den Oberschenkeln. Ohne sich nach seinen Verfolgern umzusehen, wischte sich der Junge Laub von den Jeans. Im Rennen zog er sein Handy aus der Hosentasche. Als er über eine Brücke kam, schleuderte er es in den Bach. »Dort ist er!«, schallte es durch die Allee. Jetzt warf der Junge doch einen Blick über seine Schulter. Die Muskelmänner waren immer noch hinter ihm her. Die Jugendlichen ebenfalls, sie filmten ihn. Hollys Herz klopfte. Die Platanenallee ließ er hinter sich. Bei Rot flitzte er über die Kreuzung. Glück gehabt. Der Junge bog rechts ab und links, noch einmal rechts und noch mal links, während er sich fiebrig umschaute, wahrscheinlich nach einem Versteck. Holly kannte das beste Versteck der Welt. Ein Versteck, wo man den Jungen niemals finden würde. Ein Versteck, das ihn an den sichersten Ort der Welt bringen würde. Holly hatte schon vielen Kindern in Not den richtigen Weg gewiesen. In einem Bogen flog sie tiefer, bis sie neben dem Jungen war. Er erschrak. Aber nur kurz. Im Rennen streckte er seine Hand nach ihr aus. Holly zwickte seinen kleinen Finger, flog voraus und flatterte nach links in eine Wohnsiedlung. Der Junge folgte ihr. Leider folgten ihnen auch die Muskelmänner und die Jugendlichen. Im Zickzack flatterte Holly durch Vorgärten. Sie lotste den Jungen in die Neustadt voller Menschen, Hochhäuser und Verkehr. Innerhalb weniger Jahre war dieses Viertel aus dem Boden gestampft worden. Hier glitzerte alles. Manche Fenster funkelten wie Diamantsplitter im Licht der Sonne, die konnte Holly gut sehen. Andere hingegen lagen im Schatten und waren so sauber geputzt, dass sie höllisch aufpassen musste, nicht dagegenzuknallen. Holly lenkte den Jungen an Glastempeln vorbei, die über Wege miteinander verbunden waren. Er wurde langsamer. Die Muskelmänner holten auf. Nur wenige Meter dahinter folgten die Jugendlichen, ihre Handys auf den Jungen und auf die Krähe gerichtet. Holly und der Junge umrundeten einen gigantischen Turm aus Stahlknoten, der sich wie eine Rakete auf der Abschussrampe aus dem Boden erhob. Der Junge wich einem Typen auf einem Scooter aus und rannte vor der U-Bahn-Station im Zickzack zwischen den Menschen hindurch, die wie Ameisen aus dem Inneren der Erde kamen und kopflos in alle Richtungen eilten. Er schaffte sich freie Bahn und schloss zu Holly auf, die auf einer eingetopften Palme wartete und ein lautes »KRÄH« ausstieß. Schweiß lief ihm unter der Mütze hervor. Die Männer waren fast da, trampelten quer über den Platz. Nein, nein, nein. Holly pickte Steinchen aus dem Pflanzenkübel, flog hoch und warf sie auf die Verfolger. Verwirrt blickten die Männer nach oben und rieben sich die Köpfe. »KRÄH.« Sie hatte dem Jungen ein paar Meter Vorsprung verschafft. Leider kamen da die Jugendlichen von rechts. Holly ließ es noch einmal Steinchen regnen. Der Junge lachte. Holly flog an der schattigen Wand eines Wohnblocks entlang. Sie setzte sich auf eine Ampel, die den Verkehr auf einer vierspurigen Straße regelte. Auf der gegenüberliegenden Seite standen zwei Hochhäuser. Dazwischen eingeklemmt war die Villa Marie, die gar nicht mehr zum Rest der in den Himmel wachsenden Neustadt passte. Die Villa stand hier schon zweihundert Jahre. Alles drum herum war neu. Holly konnte sich noch an die alte Frau erinnern, die zuletzt hier gewohnt hatte. Seit sie tot war – und das war schon eine Ewigkeit her –, kümmerte sich keiner mehr um das Gemäuer. Die Fenster waren zerschlagen, das Dach undicht und der Kamin abgebrochen. Der wilde Garten auf der Rückseite eroberte das Haus zurück. Wurzeln krochen unter die Türen und sprengten sie heraus. Efeu überwucherte die rückwärtige Wand des Hauses. Der Junge sprang über kaputte Steinstufen zur Haustür. Auf einem Warnschild stand: »Einsturzgefahr! Betreten verboten!« Er wollte durch eine Scheibe neben der Tür ins Innere schauen, aber sie war schmutzig. Er wischte im Kreis und spähte durch das Loch hinein. Holly ließ sich sachte auf seiner Schulter nieder. »Hier hast du mich also hingeführt«, murmelte er. »Wusstest du, dass ich als kleines Kind oft hier war? Und jetzt … du liebe Güte, schau dir das an. Ist das ein Skelett mit Hut?« Die Krähe sah nur einen Hut auf einem Garderobenständer. Auf einmal kroch ein unangenehmer Geruch in ihre Nase. Pfui Teufel, den kannte sie nur zu gut. Das war der Hund aus der Nachbarschaft, der ständig ausbüxte. Mephisto kam laut kläffend von links und suchte Ärger. Er war muskelbepackt und hatte eine platte Schnauze. Unterdessen hatten die Männer und die Jugendlichen eine Lücke im Verkehr genutzt und eilten auf den Jungen zu. Holly stieß einen Schrei aus. Der Junge fuhr herum und sah seine Verfolger. Panik stand ihm ins Gesicht geschrieben. Abwechselnd schaute er zur Tür, auf seine Verfolger und zu Mephisto. Endlich warf er sich mit all seiner Kraft gegen die Tür. KRACH. Das Schloss brach. Er hechtete hinein und knallte – RUMS – von innen die Tür wieder zu. Holly flog auf den Fenstersims und sah, wie er mit dem Garderobenständer die Tür abriegelte. Vergeblich rüttelten die Männer am Griff. Die Jugendlichen suchten einen anderen Weg hinein. Noch war der Junge nicht am Ziel. Holly musste ihm das letzte Stück des Weges weisen. Sie flog um die Villa Marie herum in den wilden Garten, fand ein zerbrochenes Fenster und flatterte in das finstere Gemäuer. Tauben stoben auf. Ratten sausten davon. Ansonsten war es so still, als hätte jemand den Lärm der Stadt abgeschaltet. Holly hörte nur den...