Kray Diamanten Eddie
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-627-02209-9
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 704 Seiten
Reihe: Debütromane in der FVA
ISBN: 978-3-627-02209-9
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sabine Kray wurde 1984 in Göttingen geboren. Nach dem Studium der Amerikanistik stand sie vor der Entscheidung, entweder eine Promotion zu verfolgen oder endlich die Wahrheit über ihren Großvater zu erfahren. Nach Monaten, zwischen den Besuchen auf Ämtern, in Archiven und den Gesprächen mit Zeitzeugen, darunter Günter Netzer, entstand die Geschichte eines außer- gewöhnlichen Menschen und zugleich ein Bericht über das dramatische Schicksal eines Zwangsarbeiters im Zweiten Weltkrieg. Sabine Kray lebt in Berlin, wo sie als Autorin und Übersetzerin arbeitet und sich als Mentorin für junge Mädchen mit Migrationshintergrund bei der Bürgerstiftung Neukölln engagiert. 'Diamanten Eddie' ist ihr Debüt.
Autoren/Hrsg.
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September 1939, Zamo??
Edward öffnete die Tür nur einen Spalt breit, doch sofort kam die Katze hereingeschossen und begann um seine Beine zu streichen. Langsam ging er in die Hocke, um sie zu berühren. Das Tier musste irgendwo einen trockenen Winkel gefunden haben, denn sie war nicht nass geworden. Jetzt stieg sie mit beiden Pfoten auf sein Knie, suchte seine Hände und rieb ihren Kopf an seinen bloßen Unterarmen.
Matt senkte er den Kopf, ließ sie mit ihrem weichen Fell durch sein Gesicht streichen und lauschte ihrem Schnurren. Alle hatten Angst. Sogar der Vater. Die Angst war überall. Sie drang durch die feinen Löcher des Radios ins Haus, schlich durch die Räume, und sie schlief in ihren Betten. Doch niemand sprach darüber, wie es weitergehen würde, wenn die deutschen Truppen Zamo?? erreichten. Und wenn Anna und W?adys?aw über den älteren Bruder Tadeusz sprachen, der das Land an der ukrainischen Grenze verteidigen sollte, dann schickten sie die Kinder hinaus.
Mit der Katze auf dem Arm kehrte Edward zurück ins Wohnzimmer, wo jetzt wieder die Stimme des Nachrichtensprechers durch den Raum rollte und ihnen mitteilte, dass weder England noch Frankreich ihr Versprechen in die Tat umsetzen wollten, Polen im Kampf gegen das Deutsche Reich zu unterstützen. W?adys?aws Miene verdüsterte sich.
Resigniert schüttelte Anna den Kopf: »Bald stehen sie schon in Lublin! Was wird nur aus uns, wenn sie hierher kommen?« Sofort rutschte Boles?aw von seinem Stuhl und schlang die dünnen Arme mit großer Energie von hinten um ihre Mitte. Als wäre ihr Schmerz eine magnetische Spannung, zog es den Neunjährigen stets zur Mutter, wenn sie traurig war.
Im Gesicht seines Vaters erkannte Edward Mitleid und Ungeduld. Er suchte ihren Blick hinter den weißen Händen: »Wenn die Intervention nicht morgen kommt, dann wird sie in den nächsten Tagen kommen. Sie werden schon ihre Gründe haben, damit noch zu warten!« Anna hob den Kopf, und von einem Moment auf den anderen waren ihre Augen wild und rastlos: »Glaubst du das wirklich, W?adys?aw? Glaubst du daran?«
Einen Moment lang lehnte er sich zurück und sah auf seine Hände, dann beugte er sich wieder über den Tisch und neigte den Kopf, um ihre Augen zu erreichen: »Wir haben die Russen überstanden damals, wir werden auch das hier überstehen!« Langsam schüttelte sie den Kopf, und wie an fast jedem dieser letzten Abende rannen Tränen ihre runden Wangen hinunter. Erschrocken ergriff Genowefa, ihre älteste Tochter, ihre Hände und drückte sie fest, während Edward die Katze auf den Boden setzte. Auch er ging nun zu seiner Mutter. Unbeholfen legte er seine Hand auf ihren Rücken. Wusste nicht, was er sagen sollte. Keiner von ihnen rührte sich bis die Sendung vorbei war, dann brachte Anna Boles?aw ins Bett.
Edward hätte gern mit seinem Vater gesprochen. Über Tadeusz, über die Bomben, von denen sie im Radio sprachen, doch der sonst so beredte Mann schwieg so nachdrücklich, dass Edward es nicht wagte, ihn aus seinen Gedanken zu reißen.
»Edward«, flüsterte Boles?aw, »bist du das?« Der Junge schob den Kopf über den Bettrand und spähte nach unten. Im Lichtstreifen, der durch die halbgeöffnete Tür hereinfiel, stand Edward: »Ja, ich bin es. Warum schläfst du nicht, Kleiner?« »Weil ich nicht klein bin. Ich bin schon neun! Und wenn alle anderen noch wach sind … Warum sollte ich schlafen?« Edward zog sich das Hemd über den Kopf und lachte: »Da hast du natürlich recht, Indianer!«, sagte er, während er sich die Hose auszog. »Aber jetzt gehen sogar die Erwachsenen ins Bett!« Sorgfältig legte er seine Kleidung auf den Stuhl an dem flachen Schreibtisch aus Buchenholz.
Den Schreibtisch hatte sein älterer Bruder gebaut. ›Den starken Tadeusz‹ hatten sie ihn schon in der Schule genannt. Er hatte immer zum Zirkus gewollt, aber der Vater hatte auf einer echten Ausbildung bestanden. So war er bei einem Tischler in die Lehre gegangen. Der Schreibtisch mit der blankpolierten Platte war sein Gesellenstück. Das Tischlern lag ihm, mit seinen siebenundzwanzig Jahren führte er bereits eine eigene Werkstatt. Doch bei aller Leidenschaft für seine Arbeit schlummerte noch der Zirkusjunge in ihm. Wann immer sich eine Gelegenheit ergab, zeigte er seinen Brüdern und jedem anderen, der zuschauen wollte, wie kräftig er war, ersann stets neue Kraftproben und akrobatische Kunststücke. Für seinen neusten Trick umwickelte er seine Hand mit einem Fetzen Stoff, setzte einen der langen Tischlernägel auf ein Brett, holte tief Luft und beförderte den Nagel mit der Faust bis zum Anschlag in das Holz.
Zwei Wochen war es nun her, dass Tadeusz zum Militär eingezogen worden war. Edward dachte an den ersten Brief von ihm, von der ukrainischen Grenze, daran, wie er und Boles?aw gelacht hatten, als der Vater den Brief vorgelesen hatte: »Wir marschieren und warten, wir schieben Wache und putzen unsere Gewehre. So vergehen die Tage und die Russen schnüren noch immer ihre Stiefel.« Tadeusz fiel dauernd etwas ein, worüber er lachen konnte. In seinem Brief hatte er auch vom frühen Aufstehen berichtet, von den Kaninchen in den nebelverhangenen Wiesen am Morgen, und davon, dass keiner, nicht einmal die Offiziere, wusste, wie es weitergehen würde.
Seufzend zog Edward sich das Nachthemd über den Kopf und legte sich in die untere Etage des Bettes. Der Bruder, in dessen Werkstatt er seit einigen Monaten an den Nachmittagen geholfen hatte, fehlte ihm sehr, und wahrscheinlich hätte er geweint, wenn nicht Boles?aw wieder zu ihm heruntergeschaut hätte. »Edek«, flüsterte der Kleine, »warum malen sich die Indianer die Gesichter bunt?« Edward schüttelte die Gedanken an Tadeusz ab. »Das machen sie immer dann, wenn sie gegen den Feind kämpfen gehen. Um ihn zu erschrecken«, antwortete er und zog sich die Decke bis zum Kinn herauf. »Aber wer würde sich denn vor ein bisschen Farbe im Gesicht erschrecken?«, setzte Boles?aw nach. »Das weiß ich auch nicht, aber sie tun’s eben. So steht es jedenfalls in den Büchern.« »Mmmmm!«, murrte Boles?aw. »Also ich glaub das erst, wenn ich’s sehe!«
***
»Edward und Pjotr, wenn ich euch noch einmal flüstern höre, hole ich einen von euch hier nach vorne zu mir!« Die Lehrerin der 9B kämpfte gegen die Unruhe an diesem Tag, zu viel Aufregung gab es zu Hause. Die ersten Briefe der großen Brüder hatten in den letzten Tagen die Stadt erreicht, und die Familien verbrachten ihre Abende vor dem Radio. Jene, die keines besaßen, klopften bei den Nachbarn an, unter den Kindern gab es kein anderes Gesprächsthema mehr. Frau Bieranowska mied jedes Gespräch über den Krieg, forderte, wie immer, Konzentration und Disziplin. Kaum einer der Schüler vermochte still zu sitzen, die Minuten tropften mit unerträglicher Langsamkeit von der Uhr über der Tür des Klassenzimmers, bis endlich die letzte Glocke ertönte und sie nach Hause laufen konnten.
Am Nachmittag ging Anna, in jeder Hand einen kleinen Sack mit Lebensmitteln, zu Tadeusz’ Frau Marianna, die mit ihrem Sohn Wies?aw einige hundert Meter entfernt in der Wary?skiego lebte. Genowefa und Boles?aw begleiteten sie, Edward und W?adys?aw mussten noch eine Lieferung Kohlen in den Keller bringen.
Die Arbeit war fast getan, ihre Hände und Arme schon ganz schwarz vom Kohlenstaub, als dumpfer Motorenlärm sie innehalten ließ. Sie hoben die Köpfe und sahen zum Horizont. Sieben Flugzeuge kamen in einer gleichmäßigen Formation über den graublauen Himmel direkt auf sie zu. Zunächst flogen sie hoch, ihr Brummen blieb dumpf, bis sie ihre Nasen senkten und in einem sanften Schwung auf eine tiefere Flugebene glitten. Schlagartig schwoll der Lärm an, wühlte sich tief in ihre Ohren. »Mein Gott!«, rief W?adys?aw, und für einen Moment starrten sie beide stumm vor Entsetzen auf die dunklen Maschinen, die mit einem Mal so nah waren. Wie eingefroren standen sie, dann ergriff W?adys?aw seinen Sohn am Arm und zerrte ihn die Treppe herunter in den Kohlenkeller.
Gemeinsam hockten sie am Fuß der kleinen Treppe. »Warum fliegen die so tief?«, rief Edward dem Vater über den Lärm hinweg zu. Statt ihm zu antworten, schloss der große Mann die Augen und bekreuzigte sich. Zwei Detonationen ließen die Wände des Kellers knirschen, Edward drängte sich dicht an den Vater, der zusammenzuckte wie ein Kind, als ihr tonnenschweres Echo einen Atemzug später die Kellertreppe herunterstürzte.
Und dann endlich schloss er Edward fest in seine Arme. Viel zu fest. Eine ganze Minute lang saßen sie so. Die Flugzeuge donnerten erneut über das Haus hinweg und hinterließen einen beißenden Gestank in der Luft, die durch die Kellertür hereinschwebte. W?adys?aws Hände zitterten.
Noch bevor das Motorengeräusch ganz verschwunden war, stürmte Edward die Treppe herauf, wäre beinahe gestolpert über eine der Schaufeln, die sie hatten fallen lassen. »Wo hat das eingeschlagen?« W?adys?aws Blick irrte durch die stinkende Luft, die sich auf die Stadt gelegt hatte, fand keinen Anhaltspunkt, blieb schließlich an Edward haften, der bereits in der Hofeinfahrt stand.
Rauch schien in einigen hundert Metern Entfernung über den Häusern zu schweben. »Das ist doch auf der Wary?skiego!«, rief der Vater, der ihm gefolgt war, ballte die Faust um die linke Brusttasche seiner schmutzigen Arbeitskluft und blieb einige Sekunden lang mitten auf der Straße stehen.
Dann stürmten sie los. Vorbei an den Schreien und den aufgerissenen Augen, den Menschen, die links und rechts aus ihren Häusern stürzten. Manche liefen, wie Edward und sein Vater, dem Feuer entgegen. Andere standen reglos auf der Straße. Starrten nur. Edward ließ sie alle hinter...