Krcmárová / Krcmárová | MONSTROSA | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 312 Seiten

Krcmárová / Krcmárová MONSTROSA


1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-218-01409-0
Verlag: Kremayr & Scheriau
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 312 Seiten

ISBN: 978-3-218-01409-0
Verlag: Kremayr & Scheriau
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



"Das Monster bin ich." Schauerroman meets Body Horror: Eine Opernsängerin nimmt im Kampf mit fragwürdigen Idealmaßen und ihren eigenen Dämonen monströse Züge an – mit ungeahnten Folgen.
Isabella Vlcek, eine übergewichtige, essgestörte Opernsängerin ohne Engagements, sucht in einer psychiatrischen Klinik Heilung für sich und ihre Stimme. Als sie auf eine Clique eng verschworener Mitpatient:innen trifft, die sie ablehnen und seltsame Rituale abhalten, brechen alte Traumata auf. Von Albträumen gequält, muss Isa mitansehen, wie ihr Körper sich verwandelt. Während sie mit ihrem neuen, monströsen Selbst kämpft, beginnt auch beim Rest der Gruppe die Verwandlung …

Rhea Krcmárová schafft eine packende Reflexion über die Entfremdung vom eigenen Körper und den Preis virtueller Schönheitsnormen.

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AKT 1
1. Szene
»Würden Sie sich bitte auf die Waage stellen, Frau Vlcek?«, sagt die Krankenschwester. Ich versuche, unter ihrer professionellen Freundlichkeit etwas herauszuhören, einen Hauch Vorbehalt vielleicht, oder ein kleines bisschen Verachtung, kann aber nichts entdecken, so sehr ich mich auch anstrenge. Die Schwester weist mit ihrer Hand, auf der erste zarte Altersflecken blühen, auf die Waage, das weiße Metallungetüm, das in der Ecke des Untersuchungszimmers lauert. Das Unding, das meine Wirklichkeit und meinen Wert bestimmen wird. »Ist das wirklich notwendig?«, frage ich. Die Schwester nickt. »Wir brauchen die Daten für unsere Patientenakte.« »Dann werde ich wohl draufhüpfen. Oder vielleicht lieber nicht.« Die Schwester schmunzelt, ist wohl froh darüber, dass ich die Situation anscheinend mit Humor nehme. Bei den Aufnahmegesprächen hat sie vermutlich genug Dramen erlebt, gegen die sich die gesamte Operngeschichte trocken wie eine Steuererklärung anhört. Es ist nicht Frau Professor Pirchner, die mich in Empfang genommen hat, es hätte mich auch überrascht, wenn die Abteilungsleiterin höchstpersönlich am Sonntagnachmittag ihren Dienst versehen würde. Stattdessen sitzt eine zierliche ostasiatische Krankenschwester, die sich mir als »Oberschwester Corazon, das Herz der Essstörungsabteilung« vorgestellt hat, im trockenfleischbraunen Leder-Bürostuhl hinter einem Achtzigerjahre-Schreibtisch. Die Schwester nimmt meine Akte in die Hand und schenkt mir einen Blick, in dem mehr Verständnis liegt, als ich mir erwartet, als ich mir erhofft habe. »Ich kann die Zahl aufschreiben, ohne sie Ihnen zu sagen, wenn Sie möchten.« »Würden Sie mich für eine Primadonna von Callas-Ausmaßen halten, wenn ich Sie darum bitte? Also Callas in der Prä-Bandwurm-Ära?« Was wird sie sonst noch in die neu angelegte Akte schreiben? Patientin verhält sich unkooperativ? Verweigert sich der Wirklichkeit? Die Schwester lächelt. »Es wäre nicht das erste Mal, Frau Vlcek.« Schwester Corazon scheint Mitte, Ende fünfzig zu sein. Wie lange schlägt sie sich schon mit Menschen wie mir herum? »Wissen Sie ungefähr, wie viel Sie wiegen?« »Ich bin mir, ehrlich gesagt, nicht so sicher.« Über 100 Kilo werden es sein, vielleicht 110 oder mehr. »Haben Sie keine Waage zu Hause?« Ich schüttle den Kopf, obwohl das nicht ganz der Wahrheit entspricht. Meine so zierlichen wie figurbewussten Mitbewohnerinnen, Cellistin Sophie und Tänzerin Susa, haben natürlich je eine Waage in ihren Zimmern, und um ganz sicherzugehen, dass sie sich ausreichend kasteien, steht noch eine Waage an prominenter Stelle im Badezimmer. Nachdem ich vor knapp drei Jahren in die WG eingezogen war, hatte ich mich einige Male auf die Waage gewagt. Da ich danach aus lauter Entsetzen über die steigenden Zahlen Opferfeste an den Kloschüsseldämon veranstaltet hatte, hatte ich seit mehr als einem Jahr keinen Fuß mehr auf so ein Gerät gestellt. »Ich weiß, dass es für unsere Patientinnen und Patienten nicht immer einfach ist, sich ihrem tatsächlichen Gewicht zu stellen«, sagt Schwester Corazon. »Auch für die ganz, nun, schlanken. Aber auf die Waage zu steigen, kann der erste Schritt in Richtung Besserung sein.« Oder der erste Schritt dorthin, wo die Ungeheuer lauern. Für einen Moment bin ich nicht mehr 32, sondern knapp zwölf, sitze nicht im Klinikum Gertraudshöhe im Wienerwald, sondern mit meinen Eltern in einem Ambulatorium in Wien-Donaustadt. Wir warten vor einem Untersuchungszimmer der Krankenkasse, die mein erstes Diätcamp zahlen soll. Durch die offene Türe sehen wir den Arzt, der mit einer Schwester spricht. Ist der aber hager, flüstert meine Mutter. Hager. Irgendwie mag ich das Wort. Ich muss mich bis auf die Unterhose ausziehen, mich messen und wiegen lassen. Der Arzt sieht mich kaum an, als er die Haut auf meinem Bauch und Rücken zwischen zwei Fingern einklemmt, als er sein kaltes Stethoskop auf mein Kinderherz drückt. Er nennt eine Zahl, an seiner Stimme merke ich, dass sie nicht gut ist. Was, wenn sie noch rauswächst?, fragt meine Mutter. Das ist ihr letzter Versuch, mich in Schutz zu nehmen. Nehmen Mädchen denn nicht zu, wenn sie ihre Tage bekommen? Jetzt sieht der Arzt mich an. Kann auch ein Blick hager sein? Wann hattest du denn zum ersten Mal deine Tage?, fragt er. Na, du musst jetzt aber nicht rot werden! Vor zwei Monaten, sagt meine Mutter. Siehst du, sagt der Arzt, dann brauchst du diese Speckröllchen ja nicht mehr. Ich sehe an meinem Bauch und meinen Hüften hinunter. Speckröllchen. Die gute Nachricht ist, noch ist sie nicht einmal zwölf, höre ich den Arzt sagen, noch kann man das Allerschlimmste verhindern. Was ist dieses … Schlimmste denn? Jetzt flüstert meine Mutter. Fortgeschrittene Fettleibigkeit. Wollen Sie, dass das Kind mit zwanzig Diabetes hat?, fragt der Arzt. Dass es mit vierzig an einem Herzinfarkt krepiert? Wollen Sie, dass das Kind endet wie …? Am Heimweg hängt Schuldbewusstsein in Mutter- und Vaterblicken. »Dann sehen wir doch mal.« Schwester Corazons Stimme bringt mich von Wien-Donaustadt wieder ins Klinikum im Wienerwald. Ich lege meinen Mantel auf den Stuhl, ziehe meine schwarzen Stiefel aus, die warmen, die ich sonst nur am Friedhof trage, und die ich für gesundheitsfördernde und Kalorien verbrennende Winterspaziergänge mitgenommen habe. Unter der »hautfarbenen« Strumpfhose, die drei Nuancen zu dunkel ist, schimmern die weinrot lackierten Nägel meiner sorgsam pedikürten Zehen. Zögernd setze ich einen Fuß auf das Metallpodest der Waage, lasse mein Gewicht sinken, höre ein Knarzen, ein Ächzen. Verlagere langsam, vorsichtig mein Gewicht, die Waage protestiert weiter. »Zumindest ist die Waage nicht türkis. Ich bin ja dankbar für kleine Dinge«, sage ich, der Ton meiner Stimme nahezu heiter. »Spielt die Farbe eine Rolle?« Die Schwester klingt leicht verwirrt, während sie den Regler der Waage händisch einstellt. »Nein … oder doch?« Ich wende meinen Kopf ab, als Schwester Corazon die Gewichtseinstellungen adjustiert und die Zahlen dann in meine Akte schreibt. Wieder versuche ich, aus ihrem Gesicht etwas herauszulesen, aber das freundliche Lächeln der Schwester bleibt professionell. »Danke. Sie können sich die Schuhe anziehen und wieder setzen, Frau Vlcek.« Das Telefon läutet, unerwartet laut in der Stille des Untersuchungsraums. Die Schwester hebt ab, sagt einige Male Ja, und einmal Jetzt gleich. Dann dreht sie sich zu mir. »Entschuldigen Sie bitte, ich muss kurz nach oben. Gleich bin ich wieder da, ja?« »Natürlich.« Die Schwester nickt mir zu, verlässt den Raum. Ich beuge mich über die Akte. Einhundertachtzehn Kilo bei einem Meter achtundsechzig … BMI über 40 … krankhaft fettleibig … Sechs Kilo mehr als beim letzten Wiegen vor einem Jahr. Bei der Untersuchung vor zwanzig Jahren habe ich zumindest das Wort »krankhaft« nicht gehört. Während ich meinen zweiten Stiefel schnüre, gellt ein Schreien durch das Klinikgebäude, dringt in meine Muskeln, zwingt mich zu einem schnellen, harten Einatmen. War das ein Mensch, der geschrien hat, oder habe ich mich verhört, das Hochpfeifen des Windes mit einer gequälten Stimme verwechselt? Mein Blick fällt aus dem Fenster in den Hof, auf andere Backstein-Pavillons und die kleine Kirche in der Mitte der Anlage. Das Klinikum Gertraudshöhe, »die Gerti«, steht auf einer Anhöhe mitten im Wienerwald, einige Kilometer außerhalb der Hauptstadt. Mag sein, dass man in den 1890ern an die therapeutische Wirkung von frischer Luft und Vogelgesang geglaubt hat. Vielleicht haben die Erbauer aber einfach nur eine Möglichkeit gesucht, psychisch angeschlagene Menschen dekorativ hinter Bäumen zu verstecken, und – wenn man den Gerüchten im Internet Glauben schenken mag – die irdischen Hüllen mancher verlorenen Seelen auch diskret unter besagten Bäumen zu beerdigen, zumindest in den Anfangsjahren der Institution. In Wien und Umgebung sagte man früher über jemanden, der den Verstand verloren hatte: Den hat sich die Gerti geholt, der kommt nimmer mehr heim. Wenn ich mich nicht irre, gibt es darüber auch ein Wienerlied. In der Mitte des Klinikgebäudes lauert ein neugotisches Kirchlein, und es hätte mich geradezu überrascht, würden an den Enden der Dachrinnen keine Wasserspeierungeheuer prangen. Die braun gefleckten Backsteinbauten – neun Pavillons, ein Verwaltungsgebäude, das Portiershaus mit Kiosk (und laut Wikipedia auch eine kleine frei stehende Leichenhalle, versteckt unter Bäumen hinter Pavillon F) erinnern mich an die Kulissen einer Hänsel-und-Gretel-Inszenierung am Konservatorium, in der ich als Gretel mitgesungen hatte. Dieses eine Mal hatte ich die...


Rhea Krcmárová (Krtsch-mar-scho-wa) wurde in Prag geboren und wuchs in Wien und Umland auf. Sie studierte Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst Wien und wurde mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet. Rhea Krcmárová schreibt Prosa, Theatertexte, Libretti, Essays und Gedichte (u.a. auf Instagram), und experimentiert mit transmedialer Kunst, Textkunst und Buchkunst. Bei Kremayr & Scheriau erschienen: "Böhmen ist der Ozean" (Erzählungen).



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