Kreslehner | Wer wir geworden sind | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Kreslehner Wer wir geworden sind

Roman
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7117-5535-3
Verlag: Picus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-7117-5535-3
Verlag: Picus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Zu Beginn des 20.?Jahrhunderts lebt Juli gemeinsam mit ihrem Mann August auf dem Berg am Unterhof. Dass auch nach mehreren Ehejahren noch immer kein Nachwuchs da ist, betrübt sie zutiefst. Voller Neid blickt sie auf die Nachbarn am Oberhof, wo bereits drei Kinder herumtoben. Erst nach dem Krieg, den August wie durch ein Wunder überlebt, bringt Juli im November 1919 eine gesunde Tochter zur Welt: Anna wächst zu einem fröhlichen Mädchen heran und verliebt sich später in Karl, den Erben vom Oberhof. Bald heiraten die beiden, denn Anna ist schwanger und Karl hat seinen Einberufungsbefehl erhalten - drei Tage nach der Hochzeit muss er an die Front. Ob sie sich je wiedersehen werden? Kurz vor der Jahrtausendwende entdeckt Joanna, Annas Tochter, im Haus ihrer Mutter außerhalb von New York das Foto eines kleinen Jungen. Sie ist gleichzeitig fasziniert und beunruhigt, steckt es ein und nimmt es mit nach Hause. Über Wochen hinweg beschäftigt Joanna dieses Bild, bis sie schließlich ihre Mutter zur Rede stellt. Und ihre Mutter beginnt endlich zu erzählen ...

Gabi Kreslehner, 1965 in Linz geboren, lebt mit ihrer Familie in Ottensheim an der Donau in Oberösterreich. Sie arbeitet als Autorin, Lehrerin und Theaterpädagogin. 2009 erschien ihr erster Roman für Jugendliche, »Charlottes Traum«, für den sie zahlreiche Preise und Auszeichnungen erhielt und der auch verfilmt wurde. Im Picus Verlag erschien 2010 »In meinem Spanienland«. Für ihr Werk erhielt sie mehrere Preise und Stipendien.
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2


Die Kerze flackerte und zischte, bevor sie erlosch. Ächzend und mühevoll drehte sich Juli Pfaller im Bett von einer Seite zur anderen. Sorgenvoll dachte sie daran, dass es jederzeit schneien konnte und sie dann eingesperrt waren hier oben auf dem Berg. Wer würde ihr dann helfen, das Kind auf die Welt zu bringen, wenn die Hebamme nicht durchkam?

Dieses Kind. Juli musste lächeln und legte die Hände auf ihren Bauch. Es war wie ein großes Geschenk, wie ein Wunder. Der Krieg war zu Ende gegangen, August war heimgekommen und sie wurde schwanger, als wäre es das Selbstverständlichste, das einer Frau geschehen konnte, und mit Staunen und Bangen hatte Juli sich dieser Schwangerschaft hingegeben, zögerlich am Anfang und ständig in Sorge. Aber das Frühjahr ging herum und das Kind war immer noch da, auch im Frühsommer machte es keine Anstalten zu gehen, und als im August die große Hitze kam, beschloss Juli, endlich an das Glück eines Kindes in ihrem Bauch glauben zu dürfen.

Eines Tages nach getaner Arbeit nahm sie August an der Hand und ging mit ihm den Hügel hinunter bis zu der Stelle, wo der Wald sich lichtete und den Blick ins Tal und auf den Fluss öffnete.

»Zimmerst du mir eine Bank zusammen, August?«, fragte Juli ihren Mann und legte die Hand auf ihren Bauch. Das Kind strampelte und trat von innen dagegen und Juli musste lächeln. »Und stellst du sie mir hierher?«

Sie nahm seine Hand und legte sie an das Strampeln des Kindes. Erschrocken fuhr er zurück, aber sie hielt ihn fest. »Danke, August, für deine Geduld!«

Er nickte und lächelte und liebte sie in diesem Augenblick wie seinen besondersten Besitz.

Am nächsten Morgen ging er nach der Stallarbeit in den Schuppen, suchte Holz zusammen und zimmerte eine Bank, die sich sehen lassen konnte. Ein paar Tage später schon war sie aufgestellt. Im Rücken die knorrige Rinde und den machtvollen Schutz eines Baumes, den Blick frei auf den Fluss und das Tal, verbrachte August nun mit seiner Frau so manchen milden Sommer- und Frühherbstabend, nur dem Augenblick hingegeben und diesem besonderen Frieden, der sich einstellte, wenn man sich hinsetzte und hinunter ins Tal und in die Weite schaute.

Nun näherten sie sich dem Ende der Schwangerschaft, Juli und das Kind, die Hebamme hatte gemeint, mit etwas Glück würde es ein weihnachtliches Wunder werden, ein Christkind, aber das Kind in Julis Bauch dachte nicht daran, sich an derlei Berechnungen zu halten, es wollte ein vorweihnachtliches Wunder werden und drängte mit aller Kraft auf die Welt, als wüsste es, dass es nach den Schrecken des Krieges dieses neue Leben brauchte. Es wollte kommen. Jetzt. Und zeigte es seiner Mutter deutlich.

Der Schmerz traf Juli mit großer Vehemenz. Sie hielt den Atem an, spürte in sich hinein, hörte das Schnarchen des Mannes neben sich und hoffte, das Kind, das sich da plötzlich gemeldet hatte, würde wieder Ruhe geben.

Aber es gab keine Ruhe. Es wollte heraus, den schützenden Raum der Mutter verlassen, jetzt und auf der Stelle.

Eine neue Welle des Schmerzes überrollte Juli. Sie schrie auf, fasste sich an den Bauch. Panik ergriff sie. Zu früh, viel zu früh!

August schreckte hoch. »Juli?«

»Es geht los!«, ächzte sie. »Hol Hilfe, August! Es geht los!«

»Aber es ist doch zu früh«, stammelte er.

»Ja«, sagte sie und versuchte ruhig zu atmen, »aber darauf nimmt es keine Rücksicht.«

Die nächste Wehe kam. »Hol Hilfe!«, schrie sie. »Hol die Nachbarin!«

»Nicht die Hebamme?«

Sie schüttelte den Kopf. »Keine Zeit mehr! Hol Susanna! Und Barbara!«

Da rappelte er sich auf, fuhr in seine Kleider und stürmte polternd aus der Kammer. Während Susanna und Barbara sich aufmachten, der Bäuerin beizustehen, spannte August den Haflinger ein, um doch noch die Hebamme auf den Berg zu holen.

Das Kind schrie aus Leibeskräften, als es sich endlich aus der Enge und Wärme seiner Mutter herausgestrampelt hatte. Es streckte Ärmchen und Beinchen und vermutlich fror es in der zugigen Kammer auf der Rückseite des Hofes, um den der Wind heulte, aber Susanna wickelte es rasch in Tücher und Decken und legte es seiner Mutter in die Arme.

»Ein Mädchen«, flüsterte sie ergriffen und schämte sich ihrer Tränen nicht. »Es ist ein Mädchen. Ein warmes, weiches, rosiges Mädchen.«

Juli fühlte einen winzigen Stich, August würde enttäuscht sein. Er hatte auf einen Sohn gehofft, einen Erben. Der sollte den Hof in eine bessere Zukunft führen. Einem Mädchen war das nicht zuzutrauen. Die Zeiten waren hart, die Krisen des Krieges nicht verdaut, aber es musste weitergehen, es musste, und ein Sohn wäre ein Zeichen dafür gewesen. Söhne bedeuteten Kraft und Mut, Söhne waren der Beweis, dass das Leben sich weiterbrachte. Mädchen hingegen waren nur Mädchen.

Juli hatte genickt, wenn er leise davon sprach, wenn seine Hand zärtlich über ihren wachsenden Bauch strich. Sie hatte gehofft, für ihn, dass sein großer Wunsch in Erfüllung gehen würde. Sie war ihm zugetan, dem August, mehr als je zuvor, sie war ihm zugetan, denn er war heimgekehrt aus dem Krieg und hatte ein Kind in ihren Leib gesetzt, mehr konnte ein Mann seiner Frau nicht tun. Heimlich jedoch wünschte sie sich ein Mädchen, immer noch. Zwar hatte sie die langersehnte Tochter schon längst, Klara war ihrem Herzen so nah wie dieses Ungeborene, aber trotzdem spürte sie, dass es ein Mädchen sein sollte, eines wie sie selbst gewesen war, eines wie die Zwillingsschwester, ungebärdig und froh, weich und warm und schön und voll von Geheimnissen, wie nur Mädchen sie hatten.

Und nun war ihr heimlicher Wunsch tatsächlich in Erfüllung gegangen. Erschöpft und noch zitternd von den Anstrengungen der Geburt, nahm sie das winzige Bündelchen entgegen, schaute die Finger an, die sich wie Krabbelkäfer streckten, strich ihrer Tochter über das Köpfchen, das suchend hin und her ruckelte, sah den offenen Mund und wie die Stirn sich in Falten legte und die Mundwinkel zu zittern begannen, und gerade, als das Kind jämmerlich anfangen wollte zu weinen, legte Juli es an ihre Brust.

Augenblicklich entspannte sich das Kind, gierig schnappte es zu und Juli fühlte das Glück wie eine heiße Fontäne durch ihren Körper strömen und fühlte die Kraft des Kindes, die Kraft seiner Lippen, die sich um sie schlossen wie kleine Zangen, wie kleine Widerhaken im Leben.

So, dachte Juli und fühlte einen kleinen Schmerz, als die Lippen des Kindes fester schnappten, fester saugten, so ist das jetzt also. So wird das jetzt immer sein. Ein Kind. Eine Tochter.

»Wie soll sie denn heißen, Bäuerin?«, fragte Barbara. »Notburga? Nach der Großmutter?«

Juli blickte hoch. »Ich weiß es gar nicht«, sagte sie, und als ob es einen Zusammenhang gäbe: »August hat sich einen Sohn gewünscht. Ich weiß es nicht.«

Sie dachte an die verstorbene Schwiegermutter, daran, wie hart und unerbittlich sie gewesen war, und sie fragte sich, was sie so hatte werden lassen, das Leben auf dem Hof, das Leben mit ihrem Mann, das Leben allgemein?

Auch jetzt wäre sie enttäuscht gewesen, das wusste Juli, denn es war eben nur ein Mädchen geworden.

Nein, dachte sie, so wird sie nicht heißen, meine Tochter, nicht diesen schroffen Namen voller Ecken und Kanten wird sie tragen. Dieses Erbe will ich ihr nicht mitgeben.

Ein weicher Name musste es sein, einer, dessen Trägerin nicht nur Pflicht, Entsagung und Arbeit kannte, sondern auch um die Schönheit des Lebens wusste.

Und während Juli plötzlich tiefes Mitgefühl für die Schwiegermutter verspürte, kam ein krächzendes, fremdes Stimmchen von irgendwoher aus der Kammer.

»Anna!«

Überrascht wandte Juli sich um.

Wer sprach da? Wem gehörte diese Stimme, die klang, als wäre sie lange heiser gewesen, eingerostet wie ein altes Wagenrad, die klang, als müsste sie sich erst langsam wieder ins Leben tasten.

Juli kniff die Augen zusammen. Wer kauerte dort in der Ecke, in die das Licht der Petroleumlampe nur schemenhaft reichte?

»Klara?«

Ja. Klara.

Klara saß dort im Schatten der Tür. Ein zusammengeklappter, vor Angst schlotternder Strich. Sie hatte Augusts Poltern gehört und dann die lauten aufgeregten Stimmen. Sie war hochgeschreckt und aus dem Bett gesprungen. Was war geschehen? Das Kind? Wollte es kommen? War es nicht zu früh?

Vorsichtig und von allen unbemerkt hatte die Dreizehnjährige die Tür zur Schlafkammer geöffnet, sie hatte den Schmerz der Bäuerin gesehen, den Schweiß, das Blut, die helfenden Frauen, erschrocken kauerte sie sich in die dunkle Ecke hinter der Tür, presste das Gesicht auf die Knie und die Hände an die Ohren, hatte Angst, Angst, Angst, wartete auf das Ende, wartete, dass …

… sie sich wieder auf der Straße befände, allein diesmal, ganz allein …

… aber plötzlich schrie das Kind, es schrie laut und zornig und die Frauen lachten. Es war geschafft. Juli und ihre Tochter hatten es geschafft. Glücklich klang ihr Schluchzen und Seufzen.

Und nun der Name?

Es war so klar. So eindeutig. Anna. Das Kind musste Anna heißen.

Und dann plötzlich war diese Stimme im Raum, dieses leise Krächzen, eine Stimme, die hier am Hof und im Dorf noch nie jemand gehört hatte, weil sie wie eingefroren gewesen war, wie erstarrt im Körper und im Gehirn.

Klaras Herz begann zu klopfen, laut wie nie. Schweiß brach ihr aus allen Poren.

War das möglich?

War das ihre Stimme gewesen?

Oder hatte sie sich verhört?...


Gabi Kreslehner, 1965 in Linz geboren, lebt mit ihrer Familie in Ottensheim an der Donau in Oberösterreich. Sie arbeitet als Autorin, Lehrerin und Theaterpädagogin. 2009 erschien ihr erster Roman für Jugendliche, »Charlottes Traum«, für den sie zahlreiche Preise und Auszeichnungen erhielt und der auch verfilmt wurde. Im Picus Verlag erschien 2010 »In meinem Spanienland«. Für ihr Werk erhielt sie mehrere Preise und Stipendien.



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