Kristof | Der Beweis | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Kristof Der Beweis

Roman
15001. Auflage 2015
ISBN: 978-3-492-97240-6
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-492-97240-6
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wo Agota Kristofs Roman »Das große Heft« endet, beginnt dieses Buch: Die Zwillinge, jetzt Claus und Lucas genannt, trennen sich - der eine verschwindet über die Grenze. Lucas bleibt im Haus der Großmutter, im stalinistischen Niemandsland, gefangen in der Erinnerung an seinen Zwillingsbruder. Seine Versuche, Liebe zu finden, scheitern in trostloser Einsamkeit.

Agota Kristof, geboren 1935 in Csikvánd in Ungarn, verließ ihre Heimat während der Revolution 1956 und gelangte über Umwege nach Neuchâtel in die französischsprachige Schweiz. Als Arbeiterin in einer Uhrenfabrik tätig, erlernte sie die ihr bis dahin fremde Sprache und schrieb auf Französisch ihre erfolgreichen Bücher, die in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt wurden. Sie wurde mit zahllosen Preisen geehrt wie 2001 mit dem angesehenen Gottfried-Keller-Preis, dem Österreichischen Staatspreis für Literatur sowie dem Kossuth-Preis in ihrem Geburtsland Ungarn. Agota Kristof starb Ende Juli 2011 nach längerer Krankheit in Neuchâtel.
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1


Wieder am Haus der Großmutter angekommen, legt Lucas sich dicht an den Gartenzaun, in den Schatten der Büsche. Er wartet. Ein Militärfahrzeug hält vor dem Grenzwächterhaus. Soldaten steigen aus und legen eine Leiche auf den Boden, die in eine Tarnplane gewickelt ist. Ein Feldwebel kommt aus dem Haus, und auf ein Zeichen schlagen die Soldaten die Plane zurück. Der Feldwebel pfeift durch die Zähne:

– Rauskriegen, wer das ist, das wird nicht leicht sein!

Man muß schon verrückt sein, über diese Scheißgrenze zu wollen, noch dazu am hellichten Tag!

Ein Soldat sagt:

– Die Leute müßten doch wissen, daß es nicht geht.

Ein anderer Soldat sagt:

– Die Leute von hier wissen das. Es sind die andern, die von anderswo herkommen, die's versuchen.

Der Feldwebel sagt:

– Gut, gehen wir mal rüber zu dem Idioten. Der weiß vielleicht was.

Lucas geht ins Haus. Er setzt sich auf die Eckbank in der Küche. Er schneidet Brot, stellt eine Flasche Wein auf den Tisch und dazu einen Ziegenkäse. Es klopft. Der Feldwebel und ein Soldat kommen herein.

Lucas sagt:

– Ich habe Sie erwartet. Setzen Sie sich. Da ist Wein und Käse. Greifen Sie zu.

Der Soldat sagt:

– Gerne.

Er nimmt Brot und Käse. Lucas schenkt Wein ein.

Der Feldwebel fragt:

– Sie haben uns erwartet? Warum?

– Ich habe die Explosion gehört. Nach Explosionen kommt immer einer und fragt, ob ich jemand gesehen habe.

– Und Sie haben niemand gesehen?

– Nein.

– Wie gewöhnlich.

– Ja, wie gewöhnlich. Niemand kommt her und kündet mir an, daß er über die Grenze will.

Der Feldwebel lacht. Auch er nimmt Wein und Käse:

– Könnte ja sein, daß jemand hier rumgestrolcht ist, hier oder im Wald.

– Ich habe niemand gesehen.

– Wenn doch, würden Sie es sagen?

– Wenn ich Ihnen sagte, daß ich es Ihnen sagen würde, würden Sie es nicht glauben.

Der Feldwebel lacht wieder:

– Ich frage mich manchmal, warum man Sie den Idioten nennt.

– Das frage ich mich auch. Ich habe nur eine Nervenkrankheit von einem psychischen Trauma her, in meiner Kindheit, im Krieg.

Der Soldat fragt:

– Was hat er? Was sagt er da?

Lucas erklärt:

– Mein Kopf ist etwas durcheinander wegen der Bombardierungen. Ich habe das gekriegt, als ich noch klein war.

Der Feldwebel sagt:

– Ihr Käse ist sehr gut. Vielen Dank. Kommen Sie mit. Lucas folgt ihnen. Der Feldwebel deutet auf die Leiche und fragt:

– Kennen Sie diesen Mann? Haben Sie ihn schon mal gesehen?

Lucas betrachtet den zerfetzten Körper seines Vaters:

– Er ist ganz entstellt.

Der Feldwebel sagt:

– Man kann jemand auch an den Kleidern erkennen oder an den Schuhen, sogar an den Händen oder an seinem Haar.

Lucas sagt:

– Ich sehe nur, daß er nicht aus unserer Stadt ist. Seine Kleidung ist nicht von hier. Kein Mensch in unserer Stadt trägt so elegante Sachen.

Der Feldwebel sagt:

– Vielen Dank. All das wußten wir schon. Wir sind auch keine Idioten. Ich frage Sie nur, ob Sie ihn irgendwo gesehen oder bemerkt haben?

– Nein. Nirgends. Aber ich sehe, daß man ihm die Nägel ausgerissen hat. Er war im Gefängnis.

Der Feldwebel sagt:

– In unseren Gefängnissen wird nicht gefoltert. Komisch ist nur, daß seine Taschen völlig leer sind. Nicht mal ein Photo oder ein Schlüssel oder eine Brieftasche.

Dabei brauchte er doch seinen Ausweis und sogar einen Passierschein, um überhaupt ins Grenzgebiet zu gelangen.

Lucas sagt:

– Er wird seine Papiere im Wald gelassen haben.

– Das glaube ich auch. Man soll nicht rauskriegen, wer er ist. Ich frage mich, wen er wohl dadurch schützen wollte. Wenn Sie zufällig beim Pilzesuchen noch etwas anderes finden sollten, dann bringen Sie's uns doch, nicht wahr, Lucas?

– Verlassen Sie sich drauf, Herr Feldwebel.

Lucas setzt sich auf die Bank im Garten und lehnt seinen Kopf an die weiße Hauswand. Die Sonne blendet ihn. Er schließt die Augen:

Was jetzt?

Weitermachen wie bisher. Weiter morgens aufstehen, abends zu Bett gehen und tun, was man tun muß zum Leben.

Das wird lange dauern.

Vielleicht ein ganzes Leben.

Die Tiere machen Lucas wieder wach. Er steht auf und versorgt sie. Er füttert die Schweine, die Hühner und die Kaninchen. Er holt die Ziegen vom Bach und melkt sie. Er bringt die Milch in die Küche. Er setzt sich auf die Eckbank und bleibt dort sitzen, bis es dunkel wird. Dann steht er auf, geht aus dem Haus und gießt den Garten. Es ist Vollmond. Wieder in der Küche, ißt er etwas Käse und trinkt Wein. Er beugt sich aus dem Fenster und erbricht sich. Er räumt den Tisch ab. Er geht ins Zimmer der Großmutter und öffnet das Fenster zum Lüften. Er setzt sich vor die Frisierkommode und betrachtet sich im Spiegel. Später öffnet er die Tür zu seinem Zimmer. Er betrachtet das Doppelbett. Er macht die Tür wieder zu und geht in die Stadt.

Die Straßen sind leer. Lucas geht schnell. Er bleibt vor einem erleuchteten offenen Fenster stehen. Es ist ein Küchenfenster. Er sieht eine Familie beim Abendessen. Eine Mutter und drei Kinder um einen Tisch. Zwei Jungen und ein Mädchen. Sie essen Kartoffelsuppe. Der Vater ist nicht dabei. Er ist vielleicht noch nicht von der Arbeit zurück oder im Gefängnis oder in einem Lager. Oder er ist aus dem Krieg nicht mehr heimgekehrt.

Lucas geht an den lauten Kneipen vorbei, in denen er noch vor kurzem bisweilen Mundharmonika spielte. Er geht nicht hinein, sondern setzt seinen Weg fort. Er streift zunächst durch die unbeleuchteten kleinen Straßen ums Schloß und biegt dann in die düstere Gasse ein, die zum Friedhof führt. Am Grab seines Großvaters und seiner Großmutter bleibt er stehen.

Großmutter ist vor einem Jahr an einem zweiten Schlaganfall gestorben.

Großvater ist schon lange tot. Die Leute in der Stadt munkelten, seine Frau hätte ihn vergiftet.

Lucas' Vater ist heute gestorben, als er versuchte, über die Grenze zu gehen, und Lucas wird nie erfahren, wo er begraben liegt.

Lucas geht nach Hause. Er klettert an einem Seil in die Dachkammer hinauf. Dort sind ein Strohsack, eine alte Militärdecke und eine Truhe. Lucas öffnet die Truhe, nimmt ein großes Schulheft heraus und schreibt ein paar Sätze hinein. Er schließt das Heft wieder und legt sich auf den Strohsack.

Über ihm, vom Mondlicht beschienen, das durch die Dachluke fällt, baumeln an einem Balken die Skelette der Mutter und des Babys.

Lucas' Mutter und seine kleine Schwester sind vor fünf Jahren umgekommen durch eine Granate, ein paar Tage vor Kriegsende, hier im Garten von Großmutters Haus.

Lucas sitzt auf der Bank im Garten. Er hat die Augen geschlossen. Ein Karren, mit einem Pferd davor, hält vorm Haus. Von dem Geräusch wird Lucas wach. Joseph, der Gemüsebauer, kommt in den Garten. Lucas sieht ihn an:

– Was wollen Sie, Joseph?

– Was ich will? Heute war Markt. Ich habe bis sieben Uhr auf Sie gewartet.

Lucas sagt:

– Verzeihen Sie, Joseph. Ich habe vergessen, was für ein Tag heute ist. Meinetwegen können wir das Gemüse schnell aufladen.

– Soll das ein Witz sein? Es ist zwei Uhr nachmittags. Ich bin nicht gekommen, um aufzuladen, sondern um Sie zu fragen, ob ich Ihre Ware überhaupt noch verkaufen soll. Wenn nicht, dann müssen Sie es mir sagen. Mir ist es egal. Ich tue es nur Ihnen zuliebe.

– Aber sicher, Joseph. Ich hatte nur vergessen, daß heute Markt ist.

– Nicht nur heute haben Sie das vergessen. Schon vorige Woche haben Sie es vergessen und die Woche davor.

Lucas sagt:

– Drei Wochen? Das war mir gar nicht bewußt.

Joseph schüttelt den Kopf:

– Da stimmt was nicht bei Ihnen. Was haben Sie mit Ihrem Gemüse und Ihrem Obst gemacht seit drei Wochen?

– Nichts. Aber ich habe den Garten jeden Tag gegossen, glaube ich.

– Das glauben Sie? Da wollen wir mal nachsehen.

Joseph geht hinters Haus, in den Gemüsegarten. Lucas geht mit. Der Gemüsebauer beugt sich über die Beete und flucht:

– Allmächtiger! Sie haben ja alles verkommen lassen! Da, die Tomaten auf der Erde, die Bohnen viel zu dick, die Gurken gelb und die Erdbeeren schwarz! Sind Sie verrückt geworden? Die gute Ware so verkommen zu lassen! Man sollte Sie aufhängen oder an die Wand stellen dafür. Mit Ihren Erbsen ist es für dieses Jahr aus und vorbei, mit den Aprikosen genauso. Die Äpfel und Pflaumen sind noch zu retten. Holen Sie mal einen Eimer! Lucas bringt ihm einen Eimer, und Joseph macht sich daran, die Äpfel und Pflaumen, die im Gras liegen, aufzusammeln. Er sagt zu Lucas:

– Nehmen Sie einen andern Eimer, und sammeln Sie alles auf, was verfault ist. Vielleicht fressen Ihre Schweine das noch. Himmel! Ihre Tiere!

Joseph stürzt in den Hühnerhof, Lucas hinterher. Joseph sagt, während er sich die Stirn wischt:

– Gottlob, sie sind nicht krepiert. Geben Sie mir mal eine Mistgabel, damit ich etwas saubermachen kann. Wahrhaftig ein Wunder, daß Sie nicht vergessen haben, Ihre Tiere zu füttern!

– Die kann man nicht vergessen! Sie melden sich, sobald sie Hunger haben.

Joseph arbeitet stundenlang, Lucas hilft ihm, läßt sich von ihm kommandieren.

Als es dunkel wird, gehen sie in die Küche.

Joseph sagt:

– Pfui...


Kristof, Agota
Agota Kristof, geboren 1935 in Csikvánd in Ungarn, verließ ihre Heimat während der Revolution 1956 und gelangte über Umwege nach Neuchâtel in die französischsprachige Schweiz. Als Arbeiterin in einer Uhrenfabrik tätig, erlernte sie die ihr bis dahin fremde Sprache und schrieb auf Französisch ihre erfolgreichen Bücher, die in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt wurden. Sie wurde mit zahllosen Preisen geehrt wie 2001 mit dem angesehenen Gottfried-Keller-Preis, dem Österreichischen Staatspreis für Literatur sowiedemKossuth-Preis in ihrem Geburtsland Ungarn. Agota Kristof starb Ende Juli 2011 nach längerer Krankheit in Neuchâtel.



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