E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Kröger Havarie. Kriminalroman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-944818-91-7
Verlag: CulturBooks Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-944818-91-7
Verlag: CulturBooks Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Das Buch Das Mittelmeer: Ferienparadies, Wiege der Kultur, Burggraben der Festung Europa. In einer windigen Nacht steigen zwölf Männer in ein Schlauchboot und versuchen Europas Küste zu erreichen. Unter dem hohen Sternenhimmel zieht ein gewaltiges Kreuzfahrtschiff dahin. Ein deutscher Frachter verlässt den algerischen Hafen mit Kurs auf Dublin. Und in Cartagena liegt ein Kreuzer der Seenotrettung in Bereitschaft. Noch weiß keiner der auf den Booten versammelten Menschen, dass sie schon bald aufeinandertreffen werden... Ein Meer, vier Schiffe, verschiedene Perspektiven: In schnell wechselnden Bezugsrahmen erlebt der Leser zwei Nächte und anderthalb schicksalhafte Stunden eines Tages auf dem Mittelmeer. Merle Krögers Roman ist ein messerscharfes Porträt heutiger Lebensweisen und ein seetüchtiger Actionthriller. Merle Kröger schreibt bahnbrechend, eine aufwühlende, relevante Erzählung. Heftig wie ein Rapsong, intim wie ein Familienalbum, distanzlos, ungestüm und enorm welthaltig: Das ist großes Kino, ist Kunst, ist hautnah am Realen. 'Das Buch der Stunde'. Der Freitag 'Merle Krögers furiose Choreographie ist wie ein Tanz, der uns in fremde Erfahrungen entführt, Ja, so spüren lebendige, ringende, wünschende, von den Verhältnissen gebeutelte Menschen die in ihre Kultur eingravierten Narben des Weltgeschehens.' Else Laudan
Merle Kröger, geb. 1967 in Plön/Schleswig-Holstein, studierte Filmwissenschaft und Publizistik an der FU Berlin, macht seit 1987 eigene Videos und Filme, ist in Künstlergruppen aktiv, konzipiert und realisiert Film- und Videoscreenings, Seminare, Ausstellungen, Konzerte. Mitgründerin der Produktionsfirma »dogfilm« und der Medienkunst-Plattform »pong«. Merle Kröger macht Produktion, Buch, Regie, Dokumentarfilm, Essay und Videokunst, ist als Cutterin, Autorin und Produktionsleiterin sowie als Kuratorin tätig und arbeitet frei für ZDF, Arte, 3Sat, Deutsche Welle u. v. a. Sie erhielt etliche Auszeichnungen auf Film- und Videofestivals im In- und Ausland. Mit ihrem Partner Philip Scheffner schuf sie u. a. den Dokumentarfilm »Revision«, dessen Handlung Krögers zuletzt erschienener Kriminalroman »Grenzfall« zugrunde liegt.
Autoren/Hrsg.
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Spirit of Europe | Deck 12
Seamus Clarke
Blau. Blaues Wasser, von oben, ohne Himmel. Leichter, rollender Wellengang. Das Bild wackelt. Mitten im Blau tanzt ein graues Schlauchboot auf den Wellen. Darin viele Menschen.
Zu viele.
Seine Hand mit der Kamera kriegt einen Stoß von rechts. »Kelly, Mädchen, kannst du mir die nicht vom Leib halten?« So ein verdammtes Gedrängel und Geschiebe hier oben.
»Wie viele, Seamus, sag doch mal, wie viele sind’s denn?«
Ach, Kelly. Kann doch nicht richtig zählen, das wackelt hier so. Achtung, ich zoom mal zurück.
Das Boot mit den Menschen drauf wird kleiner, oder das Blau wird größer, wie man’s nimmt. Winziges Boot in riesigem Blau. Noch ein brutaler Wackler, der Himmel rutscht kurz ins Bild, die Grenze zwischen Meer und Horizont ist verwischt vom Dunst.
Seamus versucht scharf zu stellen, aber das Boot gerät ihm immer wieder aus der Bildmitte. Er zoomt weiter zurück.
Erst erkennt man die Menschen nicht mehr.
Dann das Boot nicht mehr.
Was bleibt, ist ein schwarzer Fleck im Blau.
Seamus’ Kameraauge verliert sich darin. Wo sind wir? Das Auge sucht Halt, die Hand folgt. Seamus schwenkt nach rechts. Glasfronten. Das Fitnessstudio. Dann nach links. Menschen an der Reling, im Gegenlicht. Nach unten: Menschenmenge auf Deck 4.
»Seamus!« Kelly zieht an seinem Hemd. »Jetzt sag doch mal, wie viele!«
Mädchen, was willst du, ich kann sie nicht zählen. Es wackelt zu doll. Seamus nimmt kurz die Kamera runter.
Orientierung: Wo bin ich? Deck 12. Eben noch alle beim Sonnenbaden auf den Liegen. Kelly glücklich mit Bloody Mary und ihrem Buch, Seamus andersrum, mit Blick auf den Pool. Genau gegenüber thronen nämlich die oberen Zehntausend. Die aus den Suiten. Immer schön separiert vom gemeinen Volk. Die Frauen von oben bis unten voller Klunker. Heute ist nur die Alte mit dem Rollstuhl da. Ohne ihre Begleiterin. Hängt im Liegestuhl wie ein Schluck Wasser in der Kurve. Wirkt ein bisschen verloren, so ganz alleine. Wie heißt es gleich: It’s not lonely at the top. There is a swimming pool.
Was war noch los? Ach ja, der Bellyflap Contest. Männer machen Bauchklatscher. Je fetter, desto größer die Chance zu gewinnen. Hat man einen dickwanstigen Briten je besser zu Gesicht bekommen? Seamus hebt sein Glas und prostet dem Sieger zu, als plötzlich: »Meine sehr geehrten Damen und Herren, hier spricht der Erste Offizier.«
Brücke. Da muss doch was –
Seamus hat schneller die Kamera in der Hand, als er denken kann. Und schon kommen sie von hinten und quetschen ihn und seine wee lady an die Reling, als gäb’s was umsonst da vorne.
Keinen Respekt haben die Leute heutzutage. Er sieht sich nach der Lady um. Kelly zuckt die Schultern, schiebt eine aufdringliche alte Schachtel zur Seite und legt sich einfach wieder hin. »Sag mir Bescheid, wenn was Aufregendes passiert.«
Seamus hebt die Kamera vors Auge. »Klar, Mädchen, ich bleib hier auf dem Posten.« Selbst wenn er wollte, er kann jetzt nicht aufhören, auf das Schlauchboot da draußen zu starren. Seamus bleibt dran. Ist ihm quasi zur zweiten Natur geworden. Das kommt mit dem Job.
Seamus ist Nachtwächter im Royal Albert Hospital in Belfast. Ein Riesenkasten ist das, ein eigener Stadtteil aus viktorianischem Klinker, dazwischen Neubauten aus Glas und Stahl. Spezialisiert auf Schusswunden und Hirnverletzungen. Ja, so ist das, ein Erbe der troubles, fast vierzig Jahre Bürgerkrieg. Für alles gibt es einen Markt auf dieser Welt.
Jeden Abend bindet Seamus seinen Schlips um, streichelt seinen Jack-Russel-Terrier namens Jack – ja nun, so heißt er eben, hab ich je behauptet, bloody James Joyce zu sein? Er tritt aus dem Einfamilienhaus am Ende der Sackgasse in Dunmurry. Rundherum stehen andere Häuser wie seins, im Halbkreis angeordnet, wie das Set einer friedlichen Vorstadtsiedlung in einer verdammten Fernsehserie der BBC. Seamus kennt jeden Mann und jede Frau, die jeden Tag aus ihren Häusern treten. Durchschnittliche Menschen, die durch hübsche Vorgärten zu ihren durchschnittlichen Autos gehen.
South Belfast. Katholisch durch und durch.
Der Krieg ist vorbei, ja das ist er, aber die Leute hier, die haben andere Zeiten erlebt. Die trauen nur denen, die sie kennen. Da kaufst du dir kein Haus im Osten oder im Norden der Stadt, wenn du nicht lebensmüde bist. Und wer will schon unter Leuten wohnen, die nicht verstehen, dass sie keine Zukunft haben? Die sich an ihren britischen Fahnen festklammern, die längst nichts mehr bedeuten? Die Zukunft gehört der Republik Irland, Europa, was weiß ich. Siehst du den Typ, der da hinten aus dem Pub kommt, im Jogginganzug, Fluppe im Mundwinkel? Ganz hohes Tier in der IRA war der.
Seamus fährt jeden Abend Richtung Norden in die Stadt. Es regnet. Die Dämmerung in Belfast dauert doppelt so lang wie irgendwo anders auf der Welt. Ein gepanzerter, verbeulter Polizeiwagen fährt vorbei. Wenigstens keine Schüsse mehr. Seamus dankt sicherheitshalber der heiligen Mutter Gottes, dass die Zeit der troubles vorbei ist. Fragst du ihn oder einen seiner fünf Brüder: No doubt about it, wir gehören nicht zu den Hardlinern. Aber versteh mich nicht falsch. Der bewaffnete Kampf war notwendig. Sonst würden wir hier immer noch nach der Pfeife tanzen wie mein wee little Jack.
Kannst du dir nicht vorstellen, hier gab es nach dem World War 2 nur Felder und Farmen. Unsere Vorfahren hausten unten in der Stadt, zusammengepfercht in engen Mietwohnungen. Wer keinen Grundbesitz hat, darf nicht wählen. Und so wird eben dafür gesorgt, dass die Katholiken keine Häuser besitzen. So einfach ist das.
Wir Clarkes sind eine Arbeiterfamilie. 1961 endlich raus aus den Slums, unser eigenes Haus in Turf Lodge. Ein neuer Stadtteil, dem Moor entrissen, im Schatten des Black Mountain. Viele Kinder, ein wildes Rudel, die Straße ist ihr Spielplatz. Steil genug für mörderische Seifenkistenrennen.
Hier drüben war das, siehst du? Nur ohne Stadt rundherum. Hier fuhr kein Bus raus, keinen Laden gab’s. Wir Kinder mussten zu Fuß zur Schule laufen, eine Stunde jeden Tag bei Wind und Wetter. So kannst du Leute auch zum Stillhalten kriegen. Aber nicht uns. Wir haben hier unsere eigene Schule gegründet, dann die Kirche, dann das Kulturhaus, dann den Social Club.
Seamus grüßt eine Frau mit Dauerwelle und rosa Wollschal, die mit Regenschirm über die Straße hastet. Nette alte Dame, oder? Führt jedes Jahr den Trauermarsch an, rüber zum Friedhof. Ihr Sohn wurde von den Briten erschossen, gleich hier. Und Mary, die älteste Tochter, verrücktes Mädel. Da oben lag sie, auf dem Dach mit einer Flinte im Anschlag. Ist heute in Australien, die Mary.
Die Scheibenwischer kommen nicht gegen den Regen an, Seamus schaltet hoch, unscharf in Schlieren sieht ihn Kevin von seinem Wandbild an. Hi, Kevin. Mein Freund. Du hast immer noch deinen Haarschnitt aus den Siebzigern. Trägt man heute nicht mehr.
Kevin.
Steig ein.
Ab hier hat Seamus Kevin immer dabei. Jeden Tag. Fährt mit ihm ins Royal runter, Richtung Meer. An den anderen Wandbildern vorbei. Die Hungerstreikenden.
Schönen Abend dir auch, Bobby Sands.
Die Peace Wall trennt katholische von protestantischen Vierteln. Peace, well, so kann man es nennen. Wenn du dich hier nicht auskennst, stehst du in null Komma nichts vor einer Wand mit Glasscherben obendrauf und kommst nicht weiter. Neuerdings veranstalten sie Busfahrten für Touristen: die Fassadenmalereien von Belfast. Die ganze Stadt ist schließlich voll davon. Wir haben angefangen. Die Loyalisten haben nachgezogen. Na ja, besser als Krieg.
Kevin steigt mit Seamus aus dem BMW, geht die Brücke vom Parkhaus rüber zum Klinikgebäude, durch endlose Flure und Gänge. Türen öffnen sich summend von allein. In den Fahrstuhl. Achter Stock. Noch ein Flur. Ein fensterloser Raum. Voller Monitore. Der Kollege geht, der freut sich auf seinen Feierabend.
Seamus hängt seine Jacke auf und setzt sich auf den Drehstuhl. Komm, Kevin, komm her und guck. Dreihundert Monitore, überall Kameras hier im Royal. Menschen mit Kopfverletzungen reagieren oft unangemessen, sind orientierungslos, greifen das Klinikpersonal an. Seamus muss solche Vorfälle vorhersehen, dafür ist er ausgebildet.
Siehst du, Kevin, hätte ich das damals gekonnt.
Hätte ich es verhindern können.
Hätte ich dir zurufen können: »Verpiss dich, Alter, schnellstens!«
Hätte ich, Kevin?
Guck mal, ich kann jede einzelne Kamera im Haus aktivieren, ich kann sie bewegen und mich in jede Ecke zoomen. Erkennst du es, Kevin? Dein Zimmer?
Dort bist du gestorben, drei Tage später, das Plastikgeschoss hat dein Gehirn zerstört.
Kevin, bester Freund. Seamus nimmt die Kamera runter. Ihm ist schwindelig. Das geht ihm noch heute so, wenn er an den Tag denkt, an dem Kevin –
Na ja, was soll’s.
»Ist was, luv?« Kelly schiebt die Sonnenbrille hoch und sieht ihn besorgt an.
Er schüttelt den Kopf. »Ist nur so verdammt heiß.«
Und müssen die alle so laut schreien um ihn herum?
Vielleicht könnte er runtergehen in den Irish Pub auf der Promenade und sich ein frühes Pint gönnen. Ehrlich gesagt, da unten fühlt er sich wohler als hier, da ist es dunkel und kühl wie zu Hause. Seine Kelly und die Brüder, sie haben zusammengelegt und ihm zum Fünfzigsten diese Kreuzfahrt geschenkt. Aber Seamus...