Kronawitter | Ikarus stürzt | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Kronawitter Ikarus stürzt

Mein Tumor, meine Filme und mein neues Leben auf Zeit
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-451-83242-0
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Mein Tumor, meine Filme und mein neues Leben auf Zeit

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-451-83242-0
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der Filmemacher Max Kronawitter erhält eine schockierende Diagnose: In seinem Gehirn ist ein lebensbedrohlicher Tumor gewachsen. Viele Jahre hat der Journalist Menschen in außergewöhnlichen Lebenssituationen begleitet und auch das Sterben und den Tod dokumentiert. Nun steht er plötzlich auf der anderen Seite. Und er stellt fest: Durch viele seiner gegenwärtigen Fragen und Gefühle ist er mit den Menschen, die er filmisch begleitet hat, schon hindurchgegangen. In seinem Buch dokumentiert er die Erfahrungen seiner Erkrankung und verbindet das eigene Schicksal mit den Lebensgeschichten der Protagonisten aus seinen Reportagen. Entstanden ist ein eindrucksvolles Dokument über eine existenzielle Lebenssituation, über den Alltag nach einer Hirn-OP und über Fragen nach dem Sterben und dem Tod, über Vertrauen und Glück und über das, was im Leben Sinn und Halt gibt. Auch im Medium Buch beweist der Filmemacher dabei ein feines Gespür für Szenen, Perspektiven, Atmosphäre und Stimmungen und behält seine Zuversicht und seinen Humor.

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Ein Buch zum Überleben
21. Dezember
Als ich aufwache, ist es tiefe Nacht. Zu Hause – Gott sei Dank. Ich schließe die Augen wieder. Das Einzige, was ich tun kann, ist denken. Die Bilder stürzen auf mich ein: Bis vor zwei Wochen war alles in normaler Ordnung, und jetzt ist kein Stein mehr auf dem anderen. Mein Leben ist aus den Fugen geraten. Da kommt ein Gedanke, wie ein kleiner Lichtstrahl: Waren es nicht immer genau solche Geschichten, die mich für meine Filme inspirierten? Soll ich vielleicht die folgenschwere Wendung meines Lebens verfilmen? Meine berufliche Leidenschaft ruft mir das zu. Der Gedanke hat sich in mein Gehirn geschoben und verfestigt sich zu einer fixen Idee. Aber wie soll ich meine Geschichte erzählen? Ich kann es ja nicht! Ich kann nicht drehen, auch die Bilder nicht bewerten, keinen Computer bedienen, um zu schneiden oder Texte zu schreiben. Wird es irgendwann wieder gehen – in Monaten vielleicht? Bis dahin kann ich nicht warten. Die Geschichte wird jetzt erlebt und muss jetzt erzählt werden. Ich überlege, wem aus meinem beruflichen Bekanntenkreis ich mein Vorhaben in die Hände legen könnte. Eine Kollegin kommt mir in den Sinn. Ihr würde ich vertrauen. Soll ich sie fragen, ob sie mich in diesen Tagen mit der Kamera begleiten, schon mal Material sammeln und dann später daraus einen Film machen möchte? So befeuernd der Einfall anfänglich ist, bekomme ich mehr und mehr Zweifel. Möchte ich mich wirklich einer Regisseurin aussetzen, ihr Einblick in mein intimes Seelenleben gewähren? Als Filmemacher habe ich immer versucht, so lange nachzufragen und dranzubleiben, bis die Protagonisten ihre Barrieren aufgaben und mich in ihr ungeschminktes Leben hineinschauen ließen. Jetzt müsste ich das auf der anderen Seite der Kamera auch tun, meine Hüllen fallen lassen und bedingungslos ehrlich sein. Wie schwer erträglich es sein kann, durchschaut zu werden, habe ich erlebt. Die Protagonistin einer meiner Filme zog sich mitten im Projekt total zurück, ließ sich verleugnen und wollte nicht mehr mit mir reden. Ich habe Blut und Wasser geschwitzt, um den Film doch noch zu einem gelungenen Ende zu bringen. Möchte ich mich wirklich einem so großen Publikum ausliefern? Je länger ich daliege und in Gedanken unterwegs bin, desto mehr verliert mein nächtlicher Einfall an Genialität. Wie soll sich denn mein ganzes Leben in 30 Minuten pressen lassen? Was geht denn da alles verloren? Ich brauche viel mehr Raum, um diese Geschichte zu erzählen. Und mehr Kontrolle darüber, wie ich sie erzähle. Vielleicht kann ich ein Buch schreiben? Warum eigentlich nicht? Die Idee ist geboren. Ich wälze ich mich hin und her, aufgepeitscht von der ersten Begeisterung beginne ich im Kopf Sätze zu formulieren. Ich spüre, wie der Journalist in mir wiedererwacht, getrieben von dem Impuls, Bewegendes zu erzählen. Jetzt bin ich es selbst, der seine Geschichte teilen könnte. Der Tumor zwingt mich, mein bisheriges Leben und meine Zukunftspläne in einem ganz neuen Licht zu betrachten. Ich muss mein Leben ändern – eine Herausforderung und eine Chance. Ich erkenne nach und nach, dass es für mich überlebenswichtig ist, von all den neuen Gedanken und Situationen zu erzählen. Das wird meine Strategie. Sie zieht mich in dieser dunklen Nacht aus der Verzweiflung. Sofort am nächsten Morgen werde ich beginnen, sie umzusetzen. Auch wenn ich noch nicht schreiben kann, werde ich tagebuchartig meine Erfahrungen in mein altes Diktiergerät sprechen. Mein Tatendrang ist erwacht. Glücklich darüber schlafe ich wieder ein. In memoriam Wenke
22. Dezember
„Liebe Heike, lieber Max, ich denk ganz fest an Euch, und wenn es hilft, ruft mich gerne und jederzeit an.“ Eine WhatsApp von Simone, die über Umwege von meinem Tumor erfahren hat. Ich bin überrascht, dass sich Simone ausgerechnet jetzt meldet. Seit Tagen muss ich an die Zeit mit ihr und Wenke denken. Der Film über Wenkes Sterben hat uns zusammengeschweißt, und wir sind bis heute verbunden geblieben. Nun scheint mit meinem Hirntumor ein weiteres Schicksalsband dazu geknüpft zu werden. Simone ist uns einen Schritt voraus, sie weiß, worum es geht. Ihr traue ich zu, mich zu verstehen. Statt nach dem Tod ihrer Tochter in Trauer und Lethargie zu verfallen, hat sie den Verlust in positive Energie umgewandelt. In Trauerseminaren erzählt sie heute ihre Geschichte und hilft auf diese Weise Dutzenden Familien, den schmerzlichen Verlust ihrer Kinder zu verarbeiten. Faszinierend ist, wie intensiv Simone ihre Tochter im Alltag um sich spürt. Nie zweifelt sie auch nur einen Augenblick daran, dass Wenke einfach da ist und sich auch immer wieder bemerkbar macht. Sie gehört weiter zur Familie. Wenke selbst hatte kurz vor ihrem Tod ein Bild mit einem Schloss auf einer Wolke gemalt, von dort wollte sie ihre Familie weiter begleiten. Vivere militare est hatten sich Mutter und Tochter gemeinsam auf den Unterarm tätowieren lassen: Leben ist Kämpfen. Zunächst sah es so aus, als hätte Wenke diesen Kampf verloren. Und heute? Durch die Bereitschaft, in unserem Film über ihren Tod zu sprechen, wurde sie zu einer kleinen Ikone. Sie hat sich damit ein bisschen unsterblich gemacht und genau das wollte sie. Als ich sie fragte, warum sie bei dem Film mitmachen wolle, antwortete sie: „Damit dieser blöde Tumor wenigstens einen Sinn hat.“ Sie hatte nach der Diagnose einen Dokumentarfilm über das Sterben einer Jugendlichen gesehen und dadurch wieder Boden unter den Füßen bekommen. Nun wollte sie ihre Erfahrungen weitergeben, um damit anderen zu helfen. Genau das ist ihr gelungen. Unzähligen Menschen hat sie mit ihrem Lächeln Mut gemacht, davon zeugt auch die lange Liste der Kommentare auf YouTube. In Trauerseminaren und Hospizkreisen genügt der Name Wenke, um den Multiplikatoren ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Jetzt hilft Wenke auch mir. Was ich vor zehn Jahren als Lebenshilfe für andere empfunden habe, wird mir selbst zur Brücke. Eine Überlebensstrategie von Wenke war ihr Humor. Sie war so lustig, wir hatten viel Spaß miteinander. Typisch für sie war es, dass sie ihrem Tumor den Namen Hugo gab, weil der für sie so blöd klang. Und sie hatte eine klare Vorstellung davon, was vor ihrem Tod noch alles passieren müsse. Sex gehörte dazu, und so plante und erlebte sie ihre erste Liebesnacht. Am Morgen danach war sie um eine wesentliche Erfahrung reicher und einen Schritt weiter auf dem Weg, ihren Tod zu akzeptieren. Für mich war die Begleitung mit der Kamera eine Gratwanderung. Wie weit darf ich gehen, damit es nicht voyeuristisch wird? Ab wann bin ich eine Zumutung für die Familie, ein Fremdkörper, der zusätzlichen Stress erzeugt? Aber dann trat Wenke mit einem Wunsch an mich heran, der alles änderte: „Max“, begann sie mit dünner Stimme, „unser Pfarrer ist so seltsam, dass ich mir wünschen würde, dass du die Rede bei meiner Trauerfeier hältst. Kannst du das machen?“ Was für ein Vertrauensbeweis. Gerührt versprach ich es ihr. Mit Tränen in den Augen habe ich diesen Wunsch einige Wochen später erfüllt. Wenkes Bitte änderte für mich etwas Grundlegendes: Von diesem Augenblick an gehörte ich zur Familie. So sind wir damals zusammengewachsen, und das trägt bis heute. Über zehn Jahre sind seither vergangen. Ich greife zum Hörer und rufe Simone an. Von ihr kommt kein Mitleid, Sprüche wie: „Mach dir keine Sorgen, das wird schon wieder“, bekommt man von ihr nicht zu hören. Schon eher einen Satz wie: „Sterben ist vorerst noch nicht dran.“ Mit ihr zu sprechen, hat etwas Tröstliches. Simone möchte mich besuchen. „Irgendwann läute ich einfach“, lächelt sie durchs Telefon, „und dann trinken wir einen Kaffee“. Ich bin überzeugt, dass sie bald kommen wird. Und Wenke bringt sie auf jeden Fall mit, da habe ich keinen Zweifel. Stille Nacht
24. Dezember
Ein Heiliger Abend wie immer? Wie können wir noch im Schockzustand dieses Fest feiern? Wir haben unser lang eingespieltes Weihnachtsritual verlassen und sind nicht wie sonst zu Abt Johannes nach St. Bonifaz gefahren. Dieses Jahr fühlt es sich falsch an, alles so zu machen wie in den vergangenen Jahren immer. Nach einigem Hin und Her entscheiden wir uns für einen Jugendgottesdienst in der Nähe. Es gefällt mir dort in der modernen Kirche zwischen meinen Kindern und meiner Frau. Niemand kennt uns, nichts erinnert an alte Erfahrungen. Am Ende werden die Lichter heruntergedimmt und nur der Christbaum leuchtet: Stille Nacht, heilige Nacht … Dieses Jahr ist es schwer, aus voller Kehle mitzusingen, zu bitter ist der Gedanke, wie nahe Geburt und Tod beieinanderliegen. Zu Hause stehen wir vor dem Lichterglanz des geschmückten Christbaumes und noch mal stimmen wir das „Stille Nacht“ an. Jetzt sind die Stimmen schon fester. Gleich noch „Oh Tannenbaum“ hinterher, richtig geschmettert, damit ist die Schwere verflogen. Die Stimmung hat sich gelöst. Unter dem Baum stapeln sich die Geschenke: Jetzt wird erst mal ausgepackt. David hat den Mädchen riesige Kuschelpullover besorgt, in denen sie wie in kleine Zelte gesteckt herumlaufen. Er bekommt als Revanche von ihnen eine Pelzkappe, mit der er wie ein Russe aussieht. Der Abend ist ausgelassen und fröhlich. Sonst bin ich immer mit der Kamera herumgelaufen, um alles festzuhalten. Heute sitze ich dabei...


Kronawitter, Max
Max Kronawitter, Jahrgang 1962, ist Diplomtheologe, Journalist und Filmemacher. Mit seiner Produktionsfirma Ikarus realisierte er über 200 Dokumentarfilme. Besondere Anerkennung fand 2021 "Todesmarsch – Als das Grauen vor die Haustür kam". Kronawitter wurde u.a. mit dem Katholischen Medienpreis dem Sozialcouragepreis der Caritas ausgezeichnet. Er lebt mit seiner Familie nahe Bad Tölz.

Max Kronawitter, Jahrgang 1962, ist Diplomtheologe, Journalist und Filmemacher. Mit seiner Produktionsfirma Ikarus realisierte er über 200 Dokumentarfilme. Besondere Anerkennung fand 2021 "Todesmarsch – Als das Grauen vor die Haustür kam". Kronawitter wurde u.a. mit dem Katholischen Medienpreis dem Sozialcouragepreis der Caritas ausgezeichnet. Er lebt mit seiner Familie nahe Bad Tölz.



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