Kronenberg Totengruft
2023
ISBN: 978-3-8392-4349-7
Verlag: Gmeiner-Verlag
Format: PDF
Kopierschutz: 0 - No protection
Norma Tanns fünfter Fall
E-Book, Deutsch, Band 5, 284 Seiten
Reihe: Privatdetektivin Norma Tann
ISBN: 978-3-8392-4349-7
Verlag: Gmeiner-Verlag
Format: PDF
Kopierschutz: 0 - No protection
Grit Blancke und ihre Freundin Marlies Hebisch führen ein Frauenhaus in Wiesbaden-Biebrich. Bei Umbauarbeiten erleiden sie einen Schock: Hinter der Wandverkleidung kommt eine mumifizierte Leiche zutage. Der Mann starb offenbar einen grausamen Tod. Grit, die sich um den Ruf des Frauenhauses sorgt, zieht die Wiesbadener Privatdetektivin Norma Tann hinzu. Deren Ermittlungen führen weit in die Vergangenheit, ins Kriegsjahr 1918, und zur Biebricherin Toni Sender, der Politikerin und Kriegsgegnerin.
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1
Montag, der 7. Oktober Der Schock verschlug allen die Sprache. Grit Blancke presste sich die Hände vors Gesicht und schielte wie ein Kind zwischen den aufgefächerten Fingern hindurch. Marlies Hebisch schlang die Arme um den Oberkörper und schüttelte fassungslos den Kopf. Der junge Handwerker hielt Zange und Akkuschrauber mit beiden Händen umklammert: Sein Werkzeug, mit dem er die Wandtafel neben dem Kamin abgenommen hatte, ohne die geringste Vorstellung, was dahinter zutage kommen sollte. Lauernd wie eine Katze das Mauseloch beäugte er die freigelegte halbhohe Nische. Marlies Hebisch rührte sich als Erste. Abrupt straffte sie den Rücken, als sei sie sich in diesem Augenblick ihrer Verantwortung gegenüber einer Patientin bewusst geworden. Sie ließ die Arme sinken und wandte sich fürsorglich Norma zu, die sich abwartend im Hintergrund hielt. »Sie sollten sich damit nicht belasten, Frau Tann! Gehen Sie besser hinaus!« »Keine Sorge«, murmelte Norma und rückte, von dem Anblick wie elektrisiert, zwei Schritte näher an die Nische heran. »Sie wissen doch: Tötungsdelikte gehörten in meinem vorigen Leben zum Tagesgeschäft.« »Mord!«, hauchte Grit Blancke und riss die Hände vom kreideweißen Gesicht. Der Handwerker grinste nervös. »Das glaubt mir kein Schwein!« Er legte das Werkzeug auf den Dielenboden und fischte ein Smartphone aus der Brusttasche. Schussbereit hielt er es in die Höhe. Norma stoppte sein Vorhaben. »Kein Foto! Lassen Sie den Unsinn!« Widerwillig nahm der junge Mann das Gerät herunter. Grit Blancke konnte den Blick nicht von der Nische nehmen. »Was für eine Katastrophe! Ein Mord im Dr.-Hahlbrock-Haus!« Sie wirkte ebenso enttäuscht wie geschockt. Norma dachte an den Stolz und die Begeisterung, mit der Grit Blancke sie, die fremde Besucherin, zu einem Rundgang eingeladen hatte. Die imposante Gründerzeitvilla, die sich mit zwei barocken Türmen schmückte, diente seit einiger Zeit als Zufluchtsstätte für Frauen, die Gewalt erlebt hatten. Das soziale Projekt trug den Namen des einstigen Besitzers der Villa, des Biebricher Mediziners Dr. Eberhard Hahlbrock. Bei den Biebrichern war das Gebäude auch unter seinem ureigenen Namen ›Villa Ophélie‹ bekannt. Die Suche nach ihrer Psychotherapeutin hatte Norma hergeführt. Einer von Normas Klienten, dem sie das Honorar gestundet hatte, war unverhofft mit einem Geldumschlag vorbeigekommen. Da sie ihrerseits die ersten Therapiesitzungen begleichen musste, wollte sie sich den Weg zur Bank ersparen und das Geld ohne den Umweg über ihr Konto direkt an Marlies Hebisch weiterreichen. Die therapeutische Praxis lag in der Nähe der Oranier-Gedächtnis-Kirche und war damit nur einen Katzensprung von ihrem Büro entfernt. Als sie die Psychologin dort nicht antraf, wanderte Norma zum Rhein hinunter und spazierte die Promenade entlang. Ihr neues Ziel war das Dr.-Hahlbrock-Haus, das in Sichtweite des Rheinufers lag. Vielleicht war die Psychologin dort anzutreffen. Sie war die Erste Vorsitzende des Fördervereins, der die Einrichtung unterstützte, und hatte sich in Wiesbaden dank ihrer fantasievollen Spendenaktionen einen Namen gemacht. Ein mannshoher Gitterzaun schirmte das Villengrundstück zur Straße ab. Norma klingelte am Tor und musste eine Weile warten, bis ihr von einem Mädchen geöffnet wurde. Die junge Frau mochte um die 18 sein. In den bunten Klamotten, die sie wie eine Rüstung in mehreren Lagen übereinander trug, und den dunklen Haaren um das Feengesicht wirkte sie so verletzlich und schutzbedürftig, dass Norma sich unwillkürlich fragte, welche Traumata das Mädchen in die Villa getrieben haben mochten. Marlies Hebisch sei im Haus, lautete die genuschelte Auskunft des Mädchens. Norma stieg die herrschaftlichen Stufen zur Haustür hinauf, die einladend offen stand und mitten hinein in eine Baustelle führte. Zwar hatten die Wände des Treppenhauses einen frischen, farbigen Anstrich erhalten, der Fußboden der Diele jedoch bestand aus blankem Estrich. Marlies Hebisch war ins Gespräch mit einer jüngeren Frau vertieft. Sie waren ein ungleiches Paar: Die groß gewachsene, sportlich trainierte Frau Dr. und ihre feingliedrige Kontrahentin. Was die mentale Stärke betraf, schienen beide Frauen ebenbürtig zu sein und weit davon entfernt, sich über die Auswahl der Bodenfliesen einigen zu können. In ihre Diskussion versunken, nahmen sie Norma nicht zur Kenntnis und rückten mit zweifelnden Mienen die Musterstücke auf dem Boden umher. Spontan wies Norma auf eine dunkel marmorierte Platte. »Diese Farbe passt wunderbar zu den Wänden.« Die jüngere Frau lächelte erfreut, warf Marlies Hebisch einen verschmitzten Blick zu und reichte Norma die Hand. »Diese Fliese ist mein Favorit. Herzlichen Dank für die Unterstützung. Mein Name ist Grit Blancke. Bisweilen bilde ich mir ein, hier die Hausherrin zu sein.« Marlies Hebisch schmunzelte und drohte: »Über die Fliesen reden wir noch einmal.« Norma stellte sich vor. »Was kann ich für Sie tun?«, fragte Grit Blancke freundlich. Marlies Hebisch kam Norma zuvor. »Frau Tann möchte sicherlich zu mir.« Auch Grit ließ Norma nicht zu Wort kommen. »Eine Klientin von dir, verstehe. Offensichtlich eine Dame mit Geschmack, nicht wahr?« Grit wandte sich an Norma. »Ich könnte eine Pause gebrauchen. Möchten Sie vielleicht das Haus besichtigen?« Norma, die sich gern von Häusern mit Geschichte faszinieren ließ, stimmte erfreut zu. »Darf ich vorher etwas loswerden? Das Honorar, wie ausgemacht.« Marlies Hebisch nahm den Umschlag entgegen. »Sehen Sie sich nur um, Frau Tann. Ich gehe so lange nach oben und schaue Florian auf die Finger. Er wohnt in der Nachbarschaft und packt bei allem Handwerklichen mit an.« Norma spähte die Treppe hinauf. Aus der ersten Etage kamen klopfende Geräusche. Im Obergeschoss würde eine kostbare Wandvertäfelung abgebaut, erklärte Grit Blancke und verbarg ihre Vorfreude nicht. »Das Holz soll in einer Schreinerei aufgearbeitet werden. Wenn alles fertig ist, haben wir einen traumhaft schönen Saal für unsere Ruhestunden und Meditationen. Aber bleiben wir zunächst hier unten. Kommen Sie mit!« Vor vier Jahren hatte Grit Blancke die Villa Ophélie von ihren verstorbenen Eltern geerbt. Als Sozialpädagogin wollte sie etwas Sinnvolles tun und hatte innerhalb weniger Monate das Projekt für traumatisierte Frauen auf die Beine gestellt, erfuhr Norma beim Rundgang durch das Erdgeschoss. Hier lagen neben der Küche, zwei Bädern und einem Hauswirtschaftsraum auch die Wohnräume. »Ohne Marlies hätte ich das niemals geschafft«, bekannte die junge Hausherrin. Das Gemeinschaftswerk sei für sie beide ein Gewinn. »Marlies arbeitet seit vielen Jahren mit Gewaltopfern. Sie wünschte sich so sehr einen Ort wie diesen. Ein Haus, in dem die Frauen eine Weile zur Ruhe kommen können. Dieses Unternehmen liegt ihr ebenso am Herzen wie mir.« »Werden die Frauen, die hier wohnen, akut bedroht?«, fragte Norma bei einem Blick in ein unbewohntes Schlafzimmer, das trotz der bescheidenen Einrichtung durch die heiteren Farben einladend wirkte. Grit zog die Tür wieder zu. »Wir sind kein Frauenhaus im eigentlichen Sinn. Aber es kann vorkommen, leider. Verena, eine unserer Bewohnerinnen, muss sich sehr vor ihrem Exfreund in Acht nehmen. Die meisten Frauen tragen das Gewalterlebnis als Erinnerung in sich, nicht selten seit ihrer Kindheit. Wenn alte Wunden aufbrechen, kann das sehr schmerzhaft sein.« Mit alten Wunden kannte Norma sich aus. Sie wechselte das Thema. »Wann wurde die Villa gebaut?« Ophélie sei eine betagte, aber rüstige Dame aus dem Jahr 1885 und seitdem durchgehend im Besitz der Familie, erzählte Grit und führte Norma über eine Treppe hinab in den ebenerdigen Anbau, in dem Eberhard Hahlbrock eine Arztpraxis eröffnet hatte. Mitten im Ersten Weltkrieg. »Dr. Hahlbrock war mein Großvater«, fügte Grit stolz hinzu. Norma wiederholte staunend: »Dr. Hahlbrock, der hier vor 100 Jahren praktiziert hat, war Ihr Großvater?« Grit lächelte verständnisvoll. »Der Zeitabstand irritiert viele. Die Erklärung ist einfach. Mein Großvater Eberhard hat sehr spät geheiratet und ist mit 61 noch Vater geworden. 1946 kam meine Mutter auf die Welt. Ich bin 1981 geboren. 1970 ist er ist gestorben, mit 85 Jahren. Bis ins letzte Lebensjahr hat er praktiziert. Ich hätte ihn so gern persönlich erlebt.« Ihr Großvater, dieser große Menschenfreund, fügte sie schwärmerisch hinzu, sei äußerst beliebt und als Mediziner hochgeachtet gewesen, und sie wolle in seinem Sinn weiterarbeiten. Der enge, lange Flur und die aneinandergereihten Zimmer spiegelten den ursprünglichen Zweck als Arztpraxis wider. Hier lag auch Grits Büro, eine schmale Kammer mit Schreibtisch, auf dem sich Aktenordner und Papierstapel türmten. Nebenan befanden sich eine Teeküche und ein winziges Schlafzimmer. Das ›Notzimmer‹ für überzählige Gäste, wie Grit entschuldigend anmerkte. Zwei letzte Türen ließ sie ungeöffnet. »Dort wohne ich, aber das geht nicht länger. Ich will im Garten ein Holzhaus bauen, damit ich endlich mehr Platz für mich habe. Die Verwaltungsräume kommen auch in den Neubau. Wenn es nur endlich losgehen könnte!« »Woran hakt es?« Grit zog eine Grimasse. »Am lieben Nachbarn! Ein Querulant, der alles aufbietet, um uns auszubremsen. Aber ich lasse mir meine Pläne nicht kaputtmachen. Nicht den Neubau und auch nicht die...