E-Book, Deutsch, 384 Seiten, eBook
Küng Wenn du dein Haus verlässt, beginnt das Unglück
1. Auflage, neue Ausgabe 2016
ISBN: 978-3-0369-9334-8
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 384 Seiten, eBook
ISBN: 978-3-0369-9334-8
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Max Küng, geboren 1969 in Maisprach bei Basel, besuchte nach der Ausbildung zum Computer-Programmierer die Ringier Journalistenschule. Seit 1999 ist er Reporter und Kolumnist beim 'Magazin' des 'Tages-Anzeigers'. Neben diversen Musikkompositionen und Veröffentlichungen erschien zuletzt sein erfolgreicher Roman 'Wir kennen uns doch kaum'. Max Küng lebt seit 2005 in Zürich, ist verheiratet und Vater zweier Kinder.
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Alles Dunkle und Schändliche wird verschwinden
Scheiße, dachte Vischer. Verdammte Scheiße. Er trat und trat, der Schweiß lief ihm runter, der Reißverschluss des Trikots längst offen, die Schöße im Fahrtwind flatternd, er trank, saugte gierig das Wasser aus dem Bidon, schaltete einen Gang hoch, ging aus dem Sattel und trat im Wiegetritt weiter. Scheiße, dachte er noch einmal, während er dem Ende der steilen Rampe entgegenfuhr, so schnell es ging, bis ihm fast schwarz vor Augen wurde, das Blut in seinem Kopf pochte. 430 angespannte Muskeln, 300 Gramm zuckendes Herz, ein verzerrtes Gesicht. Seine Lippen waren schroffig trocken, salzig, als er mit der Zunge darüberfuhr. Er hörte seinen eigenen Atem. Sonst nichts. Hörte nicht mehr die Vögel in den Bäumen, den Wind in den Ästen, den gurgelnden Bach, der dorthin floss, wo Vischer herkam. Hörte nicht das Reifenrauschen von der Autobahn A13, die sich auf der gegenüberliegenden Talseite an den steilen Berg schmiegte, hörte nicht die Wasserfälle, die aussahen, als fielen sie in Zeitlupe. Nicht das knisternde Summen des Stroms in den dünnen Drähten der Hochspannungsleitung, nicht das dröhnende Brummen der bergwärts kriechenden Lkws, nicht das Hupen der Autos dahinter, nicht das wespenartige Heulen der wahnwitzig überholenden Motorräder. Hörte bloß sich selbst, das schnelle Keuchen, das Japsen nach Luft, die in seine Lunge gesogen und sogleich verbraucht wieder ausgestoßen wurde, um frischer Luft Platz zu machen, maschinengleich: Rein. Raus. Rein. Raus. Mehr Pumpe denn Mensch. Nur noch ein paar Meter, er dachte: Verdammt, verflucht, du Sauhund! Das Ende der Rampe war erreicht. Sein Brustkorb hob und senkte sich. Er spuckte aus. Ein Speichelfaden hing an seinem Kinn. Vischer wischte ihn mit der Rechten weg, er hing jedoch immer noch dort, glänzend im grellen Licht der Sonne, die von einem makellos blauen Himmel herunterbrannte. Er bemerkte es nicht. Langsam beruhigte sich sein Puls. In mäßigem Tempo fuhr er weiter über den holprigen Straßenbelag durch San Bernardino, füllte die Bidons beim Dorfausgang am Brunnen, ohne vom Rad zu steigen, fuhr alsbald weiter, sah, wie die Autos auf der A13 in den Tunnel verschwanden, eines nach dem anderen wurden sie vom Fels verschluckt. Neue wurden ausgespuckt. Tauchten auf wie aus dem Nichts. Vischer nahm nun den schönsten Teil des Aufstieges in Angriff, darauf freute er sich so sehr, dass er grinsen musste – die letzten 450 Höhenmeter, das letzte Dutzend Kurven, Serpentinen, sanft in die Landschaft gelegt, die immer karger wurde, je höher er stieg. Bald ließ er den letzten Baum hinter sich, hallendes Knallen kündete von Schießübungen der Armee in einem Seitental, er nahm Kurve um Kurve, schon sah er den See, den Laghetto Moesola, auf dessen unbewegter Oberfläche sich das Blau des Himmels spiegelte und die Berge, und er dachte: Schade, bin ich schon oben. Schade. Da fiel ihm der fette Mann wieder ein, in dem alten Peugeot, und ja, die Nummer hatte er sich gemerkt. Ein dreistelliges Bündner Kennzeichen, einfach zu merken, eine solche Nummer. Dafür brauchte es nicht einmal eine Eselsbrücke.
Um halb fünf Uhr war der Wecker an diesem Morgen losgegangen, wenig später stand Vischer in seinem Wohnzimmer und nahm eine Schallplatte aus der Hülle, betrachtete sie kurz, legte sie auf den Plattenteller. Er setzte die Nadel auf, es knisterte, dann erklang Musik, Schostakowitschs Sinfonie Nr. 8 in c-Moll. Eine alte Aufnahme, das Vinyl aber in tadellosem Zustand. Er hatte sie im Brockenhaus gekauft, da, wo er immer seine Schallplatten kaufte. Das London Symphony Orchestra unter der Leitung von André Previn, 1974 erschienen bei EMI. Einen Moment blieb er vor dem Plattenspieler stehen, als würde er nachdenken. Er dachte aber nicht nach, sondern hörte bloß zu.
Aus dem Wandschrank im Flur holte er eine Werkzeugkiste und einen Plastiksack und ging zurück ins Wohnzimmer. Der Boden war mit einer Kunststofffolie abgedeckt, darauf stand an einen Montageständer fixiert ein Rennrad, die Räder demontiert, schlaff hing die Kette herunter. Aus dem Plastiksack holte Vischer einen Putzlappen, aus der Werkzeugkiste einen Pinsel. Mit dem Pinsel begann er, das Rad zu reinigen. Mit steten Bewegungen putzte er den Dreck und Staub von den Rohren, den Bremsen, pinselte die Kette, die Trinkflaschenhaltebügel, den Lenker, den Sattel, hin und her ging der Pinsel wie der Taktstock eines Dirigenten. Im Allegro von Schostakowitschs Sinfonie arbeitete sich eine Flöte die Tonleiter hoch. Mit einem Drehmomentschlüssel zog er ratschend die Schrauben nach, 4 Newtonmeter hier, 5 Newtonmeter dort. Er tat es mit großer Sorgfalt. Dann setzte er das Vorderrad ein, klemmte den Schnellspanner fest, brachte das Rad in Schwung und prüfte die Bremsen. Alles war bestens.
Mit einem Kratzen meldete sich die Schallplatte. Die Rille lief aus. Wie von Geisterhand schwang der Tonarm zurück. Nachdem er die Scheibe gewendet hatte, kümmerte sich Vischer um das Hinterrad, brachte von Hand die Tretkurbel in Gang, ließ mit schnellem Klicken des Schaltgriffes die Kette über die Ritzel springen, justierte an einer kleinen Schraube, wieder raste die Kette willig das Ritzel rauf und runter, sirrend das Laufrad.
Er maß mit einem Rollmeter die Distanz zwischen Tretlagermitte und Satteloberkante. 74,9 Zentimeter. Er wusste, dass es 74,9 Zentimeter waren, aber immer maß er nach. Immer. Denn es gab Dinge, die man tun musste, damit sie getan waren, damit man später nicht darüber nachdenken musste, ob man sie getan hatte oder nicht. Mit der Wasserwaage kontrollierte er den Winkel des Sattels. Perfekt. Vischer schob das Rennrad in den Flur, kontrollierte die Zeit auf der Küchenuhr, es war noch genug von ihr da, fast zu viel. Er war bis auf die Schuhe bereits angezogen. Alles war bereit. Noch einmal setzte er sich an den Küchentisch zu seiner halb vollen Tasse Milchkaffee, die er jeden Morgen trank. Er blickte auf die Landkarte, dorthin, wo er bald sein würde.
Vischers Wohnung war spartanisch eingerichtet. Keine Bilder hingen an den Wänden, kein Abreißkalender, keine Familienfotos, keine Pflanzen standen herum, kein Krimskrams. Außergewöhnlich war lediglich, dass in jedem Zimmer mindestens ein Velo stand. Sie standen dort, als würden sie schlafen, am Hinterrad von Ständern gehalten, wie Pferde dösten sie im Stehen. Als er das Haus verließ, war es Viertel vor sieben. Ohne Eile fuhr er zum Bahnhof.
Er nahm den Zug um 7:09 Uhr, eigentlich ein bisschen spät, aber im ersten Zug war der Selbstverlad von Fahrrädern nicht erlaubt. Bald nickte er ein, und als er wieder aufwachte, war es dunkel vor den Fenstern, als hätte er den ganzen Tag verschlafen. Er brauchte einen Moment, um sich in Erinnerung zu rufen, wo er war und weshalb. Er hörte eine Frau im Abteil hinter ihm sagen: »… und wenn du einen Wanderschuh am Schnürsenkel aufhängen würdest, würdest du sehen, wie schräg die Bahn im Tunnel fährt.« Er schloss erneut die Augen, bald wären sie im Tessin, wo alles anders schien: die Bäume, die Häuser, der Stein, die Luft, das Licht, die Menschen. Es wurmte ihn, dass er keine Kopfhörer dabeihatte. Ein bisschen klassische Musik würde die Landschaft viel schöner begleiten als das Gelaber der Mitreisenden. Warum mussten die Menschen immerzu das Maul aufmachen und Worte herausfallen lassen? Aber er hatte auf seinen Touren nur das Nötigste dabei. Kaum je nahm er einen Rucksack mit. Wozu auch. Hatte ja alles in den Trikottaschen Platz. Ein vorgedehnter Ersatzschlauchreifen. Eine Tube Dichtmilch. Eine Pumpe. Ein bisschen Energie in Form von nahrhaften Riegeln mit Schokogeschmack. Ein bisschen Bargeld. Die Postcard. Sein altes Nokia.
Der Zug hatte etwas Verspätung, viel war es nicht, nur ein paar Minuten. Kurz nach halb zehn fuhr Vischer vom Bahnhof in Bellinzona los, es war schon recht warm, die Tour ging entlang des Ticino. In der Windstille kam er gut voran, die Autos wurden weniger und weniger, und je weiter er das Tal hochfuhr, desto besser fand er seinen Rhythmus, trat in hoher Frequenz, aber ohne große Anstrengung, noch 50 Kilometer, dann wäre er auf dem San Bernardino. Vischer dachte nochmals an die Aufnahme, die er am frühen Morgen gehört hatte – »Alles Dunkle und Schändliche wird verschwinden; alles, was schön ist, wird triumphieren« war Schostakowitschs Leitmotiv für diese Komposition. So stand es hinten auf der Plattenhülle. Vischer wusste nicht, was er davon halten sollte, als er es gelesen hatte. Auch jetzt wusste er es nicht.
An manchen Abenden, wenn er nach einer langen Fahrt wieder zu Hause war, am Küchentisch saß und einen Teller Spaghetti aß, versuchte er, sich daran zu erinnern, was er eigentlich den ganzen Tag über gedacht hatte. Er wusste es nicht mehr. Stunden saß er auf seinem Rennrad und tat nichts anderes, als zu fahren, zu fahren, zu fahren. Vielleicht dachte er nichts? Ihm war dann, als sei er tagsüber gar nicht auf dieser Welt gewesen, sondern in einem anderen Leben. Deshalb tat er wohl auch, was er tat, Tag für Tag. Genau deshalb.
Als er gerade die verfallenen Mauern des mächtig über ihm aufragenden Castello di Mesocco erblickte, hörte er das Heulen eines Motors. Er wandte den Kopf und sah einen Wagen heranschießen. Viel zu nah raste er an ihm vorbei. Vischer hätte ums Haar das Gleichgewicht verloren, wäre beinahe in die Leitplanke gefahren, vielleicht das steile Bord heruntergestürzt, runter in den Fluss. Wild gestikulierte er dem Wagen nach, so ein Arschloch, dachte er. Er sah die Bremsleuchte rot glimmen. Der Wagen hielt. Dann ging das weiße Rückfahrlicht an, der Wagen fuhr hochtourig singend zurück, bis er jämmerlich quietschend neben Vischer stoppte. Auch Vischer hielt. Die Scheiben wurden heruntergekurbelt....